Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

ein andermal mag es anders sein. Der Zuschauer bleibt also frei, aber
er denkt jetzt nicht an diese Freiheit; er weiß um sie, aber dieß Wissen
bleibt schlummernd liegen und zwanglos läßt er sich zwingen, so zu
schauen, als sei dieß der einzig richtige Standort. -- Endlich muß nun
auch im Kunstwerke sich realisiren, was schon in der zu Grund liegenden
Art des Sehens an sich liegt, was wir bei der Farbengebung bereits wieder
aufgefaßt haben, und was insbesondere bei dieser letzten Erwägung schon
mitberücksichtigt ist: das unbestimmt Gebildete, das elementarisch Ausge-
dehnte und Ergossene war mit den geschlossenen Gestalten gleichzeitig in
Einem Blick angeschaut, so wird es auch mitdargestellt. Von objectiver
Seite ist es die Nachbildung auf der Fläche, welche dieß mit sich bringt,
aber die Fläche ist selbst nur der Niederschlag des Sehkreises oder eines
Ausschnitts desselben. Es ist denn eine weitere grundwesentliche Eigen-
schaft der Malerei, daß sie den sogenannten Grund, nämlich alle elemen-
tarische, botanische, auch alle durch Menschenhand gebildete Umgebung den
höheren, geschloßneren organischen Gestalten mitgibt. Hiedurch schließt
sie (vergl. Hegel a. a. O. Th. 3. S. 11.) mit der Plastik auch die
Baukunst in dem Sinn in sich, daß sie vereinigt, was jede dieser Künste
gab, und damit ausfüllt, was jeder fehlt: die letztere hatte einen Raum
und kein Subject für denselben, die erstere umgekehrt (vergl. §. 599, 2.),
die Malerei faßt Beides zusammen. -- Diese Feststellung der allgemeinsten
unterscheidenden Eigenschaften der Malerei führt nun auch sogleich auf
eine Veränderung des Verhältnisses zwischen Erfindung und Ausführung:
in der Baukunst und Plastik fielen beide an verschiedene Organe ausein-
ander, weil die Ausführung oder wenigstens ein Theil derselben eine mas-
senhaft grobe Arbeit forderte; in jener war die Spaltung natürlich völli-
ger, als in dieser. Die Darstellung auf der Fläche aber ist des gröberen
Kampfes mit der Materie ledig, flüssiger geht das innere Bild durch die
Hand in die Außenwelt über; es entsteht eine neue Welt von Schwierig-
keiten, aber sie sind anderer Art und fordern von Anfang bis zu Ende
die eigene Hand des Erfinders. Die Copie des vollendeten Kunstwerks
wird dagegen nothwendig schwerer, eben weil es nicht in wirklicher Räum-
lichkeit völlig nachmeßbar dasteht und der Nachbildende in eine Technik ein-
dringen muß, die als Ganzes, von Anfang bis zu Ende eine vom Geiste
des Erfinders beseelte ist.

§. 650.

Dieser Fortgang zur Uebersetzung des räumlichen Daseins in einen bloßen
Schein auf der Fläche ist nothwendig mit wesentlichem Verluste verbunden:
verloren ist die naturvolle Gediegenheit, die Ruhe im vollen und ungetheilten
Dasein, die Oewichtigkeit, die dem Bildwerke den Ausdruck des Monumentalen

ein andermal mag es anders ſein. Der Zuſchauer bleibt alſo frei, aber
er denkt jetzt nicht an dieſe Freiheit; er weiß um ſie, aber dieß Wiſſen
bleibt ſchlummernd liegen und zwanglos läßt er ſich zwingen, ſo zu
ſchauen, als ſei dieß der einzig richtige Standort. — Endlich muß nun
auch im Kunſtwerke ſich realiſiren, was ſchon in der zu Grund liegenden
Art des Sehens an ſich liegt, was wir bei der Farbengebung bereits wieder
aufgefaßt haben, und was insbeſondere bei dieſer letzten Erwägung ſchon
mitberückſichtigt iſt: das unbeſtimmt Gebildete, das elementariſch Ausge-
dehnte und Ergoſſene war mit den geſchloſſenen Geſtalten gleichzeitig in
Einem Blick angeſchaut, ſo wird es auch mitdargeſtellt. Von objectiver
Seite iſt es die Nachbildung auf der Fläche, welche dieß mit ſich bringt,
aber die Fläche iſt ſelbſt nur der Niederſchlag des Sehkreiſes oder eines
Ausſchnitts deſſelben. Es iſt denn eine weitere grundweſentliche Eigen-
ſchaft der Malerei, daß ſie den ſogenannten Grund, nämlich alle elemen-
tariſche, botaniſche, auch alle durch Menſchenhand gebildete Umgebung den
höheren, geſchloßneren organiſchen Geſtalten mitgibt. Hiedurch ſchließt
ſie (vergl. Hegel a. a. O. Th. 3. S. 11.) mit der Plaſtik auch die
Baukunſt in dem Sinn in ſich, daß ſie vereinigt, was jede dieſer Künſte
gab, und damit ausfüllt, was jeder fehlt: die letztere hatte einen Raum
und kein Subject für denſelben, die erſtere umgekehrt (vergl. §. 599, 2.),
die Malerei faßt Beides zuſammen. — Dieſe Feſtſtellung der allgemeinſten
unterſcheidenden Eigenſchaften der Malerei führt nun auch ſogleich auf
eine Veränderung des Verhältniſſes zwiſchen Erfindung und Ausführung:
in der Baukunſt und Plaſtik fielen beide an verſchiedene Organe ausein-
ander, weil die Ausführung oder wenigſtens ein Theil derſelben eine maſ-
ſenhaft grobe Arbeit forderte; in jener war die Spaltung natürlich völli-
ger, als in dieſer. Die Darſtellung auf der Fläche aber iſt des gröberen
Kampfes mit der Materie ledig, flüſſiger geht das innere Bild durch die
Hand in die Außenwelt über; es entſteht eine neue Welt von Schwierig-
keiten, aber ſie ſind anderer Art und fordern von Anfang bis zu Ende
die eigene Hand des Erfinders. Die Copie des vollendeten Kunſtwerks
wird dagegen nothwendig ſchwerer, eben weil es nicht in wirklicher Räum-
lichkeit völlig nachmeßbar daſteht und der Nachbildende in eine Technik ein-
dringen muß, die als Ganzes, von Anfang bis zu Ende eine vom Geiſte
des Erfinders beſeelte iſt.

§. 650.

Dieſer Fortgang zur Ueberſetzung des räumlichen Daſeins in einen bloßen
Schein auf der Fläche iſt nothwendig mit weſentlichem Verluſte verbunden:
verloren iſt die naturvolle Gediegenheit, die Ruhe im vollen und ungetheilten
Daſein, die Oewichtigkeit, die dem Bildwerke den Ausdruck des Monumentalen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0022" n="514"/>
ein andermal mag es anders &#x017F;ein. Der Zu&#x017F;chauer bleibt al&#x017F;o frei, aber<lb/>
er denkt jetzt nicht an die&#x017F;e Freiheit; er weiß um &#x017F;ie, aber dieß Wi&#x017F;&#x017F;en<lb/>
bleibt &#x017F;chlummernd liegen und zwanglos läßt er &#x017F;ich zwingen, &#x017F;o zu<lb/>
&#x017F;chauen, als &#x017F;ei dieß der einzig richtige Standort. &#x2014; Endlich muß nun<lb/>
auch im Kun&#x017F;twerke &#x017F;ich reali&#x017F;iren, was &#x017F;chon in der zu Grund liegenden<lb/>
Art des Sehens an &#x017F;ich liegt, was wir bei der Farbengebung bereits wieder<lb/>
aufgefaßt haben, und was insbe&#x017F;ondere bei die&#x017F;er letzten Erwägung &#x017F;chon<lb/>
mitberück&#x017F;ichtigt i&#x017F;t: das unbe&#x017F;timmt Gebildete, das elementari&#x017F;ch Ausge-<lb/>
dehnte und Ergo&#x017F;&#x017F;ene war mit den ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enen Ge&#x017F;talten gleichzeitig in<lb/>
Einem Blick ange&#x017F;chaut, &#x017F;o wird es auch mitdarge&#x017F;tellt. Von objectiver<lb/>
Seite i&#x017F;t es die Nachbildung auf der Fläche, welche dieß mit &#x017F;ich bringt,<lb/>
aber die Fläche i&#x017F;t &#x017F;elb&#x017F;t nur der Nieder&#x017F;chlag des Sehkrei&#x017F;es oder eines<lb/>
Aus&#x017F;chnitts de&#x017F;&#x017F;elben. Es i&#x017F;t denn eine weitere grundwe&#x017F;entliche Eigen-<lb/>
&#x017F;chaft der Malerei, daß &#x017F;ie den &#x017F;ogenannten Grund, nämlich alle elemen-<lb/>
tari&#x017F;che, botani&#x017F;che, auch alle durch Men&#x017F;chenhand gebildete Umgebung den<lb/>
höheren, ge&#x017F;chloßneren organi&#x017F;chen Ge&#x017F;talten mitgibt. Hiedurch &#x017F;chließt<lb/>
&#x017F;ie (vergl. Hegel a. a. O. Th. 3. S. 11.) mit der Pla&#x017F;tik auch die<lb/>
Baukun&#x017F;t in dem Sinn in &#x017F;ich, daß &#x017F;ie vereinigt, was jede die&#x017F;er Kün&#x017F;te<lb/>
gab, und damit ausfüllt, was jeder fehlt: die letztere hatte einen Raum<lb/>
und kein Subject für den&#x017F;elben, die er&#x017F;tere umgekehrt (vergl. §. 599, <hi rendition="#sub">2.</hi>),<lb/>
die Malerei faßt Beides zu&#x017F;ammen. &#x2014; Die&#x017F;e Fe&#x017F;t&#x017F;tellung der allgemein&#x017F;ten<lb/>
unter&#x017F;cheidenden Eigen&#x017F;chaften der Malerei führt nun auch &#x017F;ogleich auf<lb/>
eine Veränderung des Verhältni&#x017F;&#x017F;es zwi&#x017F;chen Erfindung und Ausführung:<lb/>
in der Baukun&#x017F;t und Pla&#x017F;tik fielen beide an ver&#x017F;chiedene Organe ausein-<lb/>
ander, weil die Ausführung oder wenig&#x017F;tens ein Theil der&#x017F;elben eine ma&#x017F;-<lb/>
&#x017F;enhaft grobe Arbeit forderte; in jener war die Spaltung natürlich völli-<lb/>
ger, als in die&#x017F;er. Die Dar&#x017F;tellung auf der Fläche aber i&#x017F;t des gröberen<lb/>
Kampfes mit der Materie ledig, flü&#x017F;&#x017F;iger geht das innere Bild durch die<lb/>
Hand in die Außenwelt über; es ent&#x017F;teht eine neue Welt von Schwierig-<lb/>
keiten, aber &#x017F;ie &#x017F;ind anderer Art und fordern von Anfang bis zu Ende<lb/>
die eigene Hand des Erfinders. Die Copie des vollendeten Kun&#x017F;twerks<lb/>
wird dagegen nothwendig &#x017F;chwerer, eben weil es nicht in wirklicher Räum-<lb/>
lichkeit völlig nachmeßbar da&#x017F;teht und der Nachbildende in eine Technik ein-<lb/>
dringen muß, die als Ganzes, von Anfang bis zu Ende eine vom Gei&#x017F;te<lb/>
des Erfinders be&#x017F;eelte i&#x017F;t.</hi> </p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 650.</head><lb/>
              <p> <hi rendition="#fr">Die&#x017F;er Fortgang zur Ueber&#x017F;etzung des räumlichen Da&#x017F;eins in einen bloßen<lb/>
Schein auf der Fläche i&#x017F;t nothwendig mit we&#x017F;entlichem Verlu&#x017F;te verbunden:<lb/>
verloren i&#x017F;t die naturvolle Gediegenheit, die Ruhe im vollen und ungetheilten<lb/>
Da&#x017F;ein, die Oewichtigkeit, die dem Bildwerke den Ausdruck des Monumentalen<lb/></hi> </p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[514/0022] ein andermal mag es anders ſein. Der Zuſchauer bleibt alſo frei, aber er denkt jetzt nicht an dieſe Freiheit; er weiß um ſie, aber dieß Wiſſen bleibt ſchlummernd liegen und zwanglos läßt er ſich zwingen, ſo zu ſchauen, als ſei dieß der einzig richtige Standort. — Endlich muß nun auch im Kunſtwerke ſich realiſiren, was ſchon in der zu Grund liegenden Art des Sehens an ſich liegt, was wir bei der Farbengebung bereits wieder aufgefaßt haben, und was insbeſondere bei dieſer letzten Erwägung ſchon mitberückſichtigt iſt: das unbeſtimmt Gebildete, das elementariſch Ausge- dehnte und Ergoſſene war mit den geſchloſſenen Geſtalten gleichzeitig in Einem Blick angeſchaut, ſo wird es auch mitdargeſtellt. Von objectiver Seite iſt es die Nachbildung auf der Fläche, welche dieß mit ſich bringt, aber die Fläche iſt ſelbſt nur der Niederſchlag des Sehkreiſes oder eines Ausſchnitts deſſelben. Es iſt denn eine weitere grundweſentliche Eigen- ſchaft der Malerei, daß ſie den ſogenannten Grund, nämlich alle elemen- tariſche, botaniſche, auch alle durch Menſchenhand gebildete Umgebung den höheren, geſchloßneren organiſchen Geſtalten mitgibt. Hiedurch ſchließt ſie (vergl. Hegel a. a. O. Th. 3. S. 11.) mit der Plaſtik auch die Baukunſt in dem Sinn in ſich, daß ſie vereinigt, was jede dieſer Künſte gab, und damit ausfüllt, was jeder fehlt: die letztere hatte einen Raum und kein Subject für denſelben, die erſtere umgekehrt (vergl. §. 599, 2.), die Malerei faßt Beides zuſammen. — Dieſe Feſtſtellung der allgemeinſten unterſcheidenden Eigenſchaften der Malerei führt nun auch ſogleich auf eine Veränderung des Verhältniſſes zwiſchen Erfindung und Ausführung: in der Baukunſt und Plaſtik fielen beide an verſchiedene Organe ausein- ander, weil die Ausführung oder wenigſtens ein Theil derſelben eine maſ- ſenhaft grobe Arbeit forderte; in jener war die Spaltung natürlich völli- ger, als in dieſer. Die Darſtellung auf der Fläche aber iſt des gröberen Kampfes mit der Materie ledig, flüſſiger geht das innere Bild durch die Hand in die Außenwelt über; es entſteht eine neue Welt von Schwierig- keiten, aber ſie ſind anderer Art und fordern von Anfang bis zu Ende die eigene Hand des Erfinders. Die Copie des vollendeten Kunſtwerks wird dagegen nothwendig ſchwerer, eben weil es nicht in wirklicher Räum- lichkeit völlig nachmeßbar daſteht und der Nachbildende in eine Technik ein- dringen muß, die als Ganzes, von Anfang bis zu Ende eine vom Geiſte des Erfinders beſeelte iſt. §. 650. Dieſer Fortgang zur Ueberſetzung des räumlichen Daſeins in einen bloßen Schein auf der Fläche iſt nothwendig mit weſentlichem Verluſte verbunden: verloren iſt die naturvolle Gediegenheit, die Ruhe im vollen und ungetheilten Daſein, die Oewichtigkeit, die dem Bildwerke den Ausdruck des Monumentalen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/22
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 514. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/22>, abgerufen am 21.12.2024.