welt der innern Unendlichkeit, es schließt die Schätze des subjectiven Le- bens auf, es gibt der Individualität ihre Geltung, es bedingt den Ueber- schuß des Ausdrucks über die Form, es behandelt diese physiognomisch, es hebt das Gesetz, daß die einzelne Gestalt schön sein müsse, auf und führt das andere in's Leben, wonach die Schönheit aus der bewegten Ge- sammtwirkung, welche die Härten der Erscheinung als berechtigt setzt, sich erzeugt, es entbindet das Häßliche und löst es erhaben oder komisch auf und endlich, was die Hauptsache ist: es legt sich in die empfindende Phantasie und taucht in ihr Element auch die bildende, woraus denn eben der besondere Beruf dieser Weltanschauung für die Malerei hervor- vorgeht. Allein ebensowahr ist es, daß der innere Widerspruch im Geiste des Mittelalters, durch den es den neuen Inhalt, die große Wahrheit der Immanenz, wieder in ein mythisches Jenseits hinauswirft (§. 447--450), daß die Beschränkung des Interesses auf die innerlichste Angelegenheit des einzelnen Menschen, die Welt- und Geschichtlosigkeit (§. 452), daß die Negativität des ascetischen Standpuncts, die einen ganz andern Bruch der schönen Form begründet, als den die Malerei in rein ästhetischem Sinne fordert (§. 456), die volle Ausbildung der Malerei nach ihrem spezifischen Wesen wieder zurückhält. Daher entsteht die Schwierigkeit, ob der Zeitmoment, wo diese Schranken sich lüften, als Ausgang des Mittelalters oder als Aufgang des modernen Ideals hinzustellen sei. Doch das Festhalten des Mythus trotz der Lösung aller übrigen Fesseln entscheidet für das Erstere.
§. 719.
Nachdem die letzten Reste jenes der altchristlichen Kunst überlieferten antiken Erbes (§. 717) durch die byzantinische Malerei in erstarrter Form gerettet worden und die neue Stoffwelt in ihren allgemeinen Linien entworfen ist, beginnt die Durchdringung dieses todtenhaft objectiven Styls mit dem neuen geistigen Leben, welche im Gegensatze gegen den entsprechenden Schritt in der antiken Kunst zuerst den Ausdruck der Gesichtszüge beseelt.
Die Vorstufe umfaßt das Altchristliche, sonst auch das Spätrö- mische genannt, und das Byzantinische. Jenes bezeichnet der §. nach der Stylform mit dem Ausdruck: "die letzten Reste jenes antiken Erbes". Der Umfang unserer Aufgabe beschränkt uns auf wenige kurze Bemer- kungen über beide Zeitabschnitte. Nach Ueberwindung des rigoristischen Abscheus vor aller Kunst als heidnischem Götzen- und Wollust-Dienste sehen wir bekanntlich die ersten schüchternen Darstellungen besonders in den Katakomben auftreten, sich vervielfältigen, dann, nachdem das Chri-
welt der innern Unendlichkeit, es ſchließt die Schätze des ſubjectiven Le- bens auf, es gibt der Individualität ihre Geltung, es bedingt den Ueber- ſchuß des Ausdrucks über die Form, es behandelt dieſe phyſiognomiſch, es hebt das Geſetz, daß die einzelne Geſtalt ſchön ſein müſſe, auf und führt das andere in’s Leben, wonach die Schönheit aus der bewegten Ge- ſammtwirkung, welche die Härten der Erſcheinung als berechtigt ſetzt, ſich erzeugt, es entbindet das Häßliche und löst es erhaben oder komiſch auf und endlich, was die Hauptſache iſt: es legt ſich in die empfindende Phantaſie und taucht in ihr Element auch die bildende, woraus denn eben der beſondere Beruf dieſer Weltanſchauung für die Malerei hervor- vorgeht. Allein ebenſowahr iſt es, daß der innere Widerſpruch im Geiſte des Mittelalters, durch den es den neuen Inhalt, die große Wahrheit der Immanenz, wieder in ein mythiſches Jenſeits hinauswirft (§. 447—450), daß die Beſchränkung des Intereſſes auf die innerlichſte Angelegenheit des einzelnen Menſchen, die Welt- und Geſchichtloſigkeit (§. 452), daß die Negativität des aſcetiſchen Standpuncts, die einen ganz andern Bruch der ſchönen Form begründet, als den die Malerei in rein äſthetiſchem Sinne fordert (§. 456), die volle Ausbildung der Malerei nach ihrem ſpezifiſchen Weſen wieder zurückhält. Daher entſteht die Schwierigkeit, ob der Zeitmoment, wo dieſe Schranken ſich lüften, als Ausgang des Mittelalters oder als Aufgang des modernen Ideals hinzuſtellen ſei. Doch das Feſthalten des Mythus trotz der Löſung aller übrigen Feſſeln entſcheidet für das Erſtere.
§. 719.
Nachdem die letzten Reſte jenes der altchriſtlichen Kunſt überlieferten antiken Erbes (§. 717) durch die byzantiniſche Malerei in erſtarrter Form gerettet worden und die neue Stoffwelt in ihren allgemeinen Linien entworfen iſt, beginnt die Durchdringung dieſes todtenhaft objectiven Styls mit dem neuen geiſtigen Leben, welche im Gegenſatze gegen den entſprechenden Schritt in der antiken Kunſt zuerſt den Ausdruck der Geſichtszüge beſeelt.
Die Vorſtufe umfaßt das Altchriſtliche, ſonſt auch das Spätrö- miſche genannt, und das Byzantiniſche. Jenes bezeichnet der §. nach der Stylform mit dem Ausdruck: „die letzten Reſte jenes antiken Erbes“. Der Umfang unſerer Aufgabe beſchränkt uns auf wenige kurze Bemer- kungen über beide Zeitabſchnitte. Nach Ueberwindung des rigoriſtiſchen Abſcheus vor aller Kunſt als heidniſchem Götzen- und Wolluſt-Dienſte ſehen wir bekanntlich die erſten ſchüchternen Darſtellungen beſonders in den Katakomben auftreten, ſich vervielfältigen, dann, nachdem das Chri-
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es hebt das Geſetz, daß die einzelne Geſtalt ſchön ſein müſſe, auf und
führt das andere in’s Leben, wonach die Schönheit aus der bewegten Ge-
ſammtwirkung, welche die Härten der Erſcheinung als berechtigt ſetzt, ſich
erzeugt, es entbindet das Häßliche und löst es erhaben oder komiſch auf
und endlich, was die Hauptſache iſt: es legt ſich in die empfindende
Phantaſie und taucht in ihr Element auch die bildende, woraus denn
eben der beſondere Beruf dieſer Weltanſchauung für die Malerei hervor-
vorgeht. Allein ebenſowahr iſt es, daß der innere Widerſpruch im Geiſte
des Mittelalters, durch den es den neuen Inhalt, die große Wahrheit
der Immanenz, wieder in ein mythiſches Jenſeits hinauswirft (§. 447—450),
daß die Beſchränkung des Intereſſes auf die innerlichſte Angelegenheit
des einzelnen Menſchen, die Welt- und Geſchichtloſigkeit (§. 452), daß
die Negativität des aſcetiſchen Standpuncts, die einen ganz andern Bruch
der ſchönen Form begründet, als den die Malerei in rein äſthetiſchem
Sinne fordert (§. 456), die volle Ausbildung der Malerei nach ihrem
ſpezifiſchen Weſen wieder zurückhält. Daher entſteht die Schwierigkeit,
ob der Zeitmoment, wo dieſe Schranken ſich lüften, als Ausgang des
Mittelalters oder als Aufgang des modernen Ideals hinzuſtellen ſei.
Doch das Feſthalten des Mythus trotz der Löſung aller übrigen Feſſeln
entſcheidet für das Erſtere.
§. 719.
Nachdem die letzten Reſte jenes der altchriſtlichen Kunſt überlieferten
antiken Erbes (§. 717) durch die byzantiniſche Malerei in erſtarrter Form
gerettet worden und die neue Stoffwelt in ihren allgemeinen Linien entworfen
iſt, beginnt die Durchdringung dieſes todtenhaft objectiven Styls mit dem neuen
geiſtigen Leben, welche im Gegenſatze gegen den entſprechenden Schritt in der
antiken Kunſt zuerſt den Ausdruck der Geſichtszüge beſeelt.
Die Vorſtufe umfaßt das Altchriſtliche, ſonſt auch das Spätrö-
miſche genannt, und das Byzantiniſche. Jenes bezeichnet der §. nach
der Stylform mit dem Ausdruck: „die letzten Reſte jenes antiken Erbes“.
Der Umfang unſerer Aufgabe beſchränkt uns auf wenige kurze Bemer-
kungen über beide Zeitabſchnitte. Nach Ueberwindung des rigoriſtiſchen
Abſcheus vor aller Kunſt als heidniſchem Götzen- und Wolluſt-Dienſte
ſehen wir bekanntlich die erſten ſchüchternen Darſtellungen beſonders in
den Katakomben auftreten, ſich vervielfältigen, dann, nachdem das Chri-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 701. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/209>, abgerufen am 21.02.2025.
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