lichen im Situationsbild anhängt, besteht sachgemäß häufig auch, wie diese Beispiele zeigen, im Massenhaften, in Figuren-Menge. Dieser ganze Complex kann episch heißen, und es scheint so, wir werden zu dem sitten- bildlichen Geschichtsbilde zurückgeführt, allein von diesem unterscheidet sich die jetzt vorliegende Form durch das vorherrschende psychische Interesse. Gallaits Abdankung Carls V. z. B. wäre Ceremonienbild, wenn ihm nicht die tiefe Empfindung der Hauptpersonen seine Stelle im psychischen Situationsbild anwiese. Die Scene hat aber zu viel Reales, um lyrisch heißen zu können. Leonardo da Vinci's Abendmahl ist ein Situations- bild, eine Kreuzabnahme, eine Beklagung des Leichnams Jesu ist mehr lyrisch.
§. 712.
Am reinsten liegt der Charakter dieses Zweiges vor in der Darstellung der ächt dramatischen Momente der vollen Spannung zur entscheidenden That oder des wirklichen Ausbruchs oder der Nachwirkung von Thaten, die aber noch weiteres Erschütterndes im Schooße birgt oder bereits als gegenwärtig zeigt. Das Schlachtbild hat auch hier eine Stelle, wiewohl in ihm auch der schärfste Entscheidungsmoment stark mit dem Epischen sich mischt.
Das Lyrische, die Fülle inneren Lebens wird zum Entschluß, bereitet drohend die That, führt sie im Sturme des Conflicts aus, leidet die Folgen des eigenen Thuns und der Thaten Anderer, doch nicht passiv empfindend, sondern auf neue Entscheidungen gefaßt. In §. 684 ist ge- sagt, daß die Malerei vorzüglich den spannenden Moment vor der That liebt, Delaroches Knaben Eduards sind angeführt, die Scene vor Straffords Gefängniß, Rembrandts Adolf von Geldern, Leutzes Washington greifen wir als weitere Beispiele aus der Fülle der Kunstwelt heraus. Zu Scenen des vollen Ausbruchs zählen wir, von Schlachtbildern noch abgesehen, Werke wie Raphaels Ananias, die Vertreibung des Heliodor aus dem Tempel zu Jerusalem, Bilder der Gefangennehmung Christi, Rubens Simson und Delila. Ein Cromwell, den Sarg Carls I. öffnend, eine Marie Antoinette von Delaroche zeigen Momente nach erschütternden Thaten, aber sie bergen weiteren tragischen Verlauf zu sichtbar und schlagend in sich, um sie Situationsbilder zu nennen; Gallaits Egmont im Gefängniß ist verurtheilt, am nächsten Morgen soll er sterben; das Blutige ist geschehen auf Gallaits neuestem Bilde, aber die Situation weist auf eine Zeit der Vergeltung hinaus, nur freilich so schwach, daß dieses Werk allerdings mehr zur Sphäre des bloßen Situationsbilds ge- hört. -- Das Schlachtbild tritt hier noch einmal vor uns; es ist drama-
lichen im Situationsbild anhängt, beſteht ſachgemäß häufig auch, wie dieſe Beiſpiele zeigen, im Maſſenhaften, in Figuren-Menge. Dieſer ganze Complex kann epiſch heißen, und es ſcheint ſo, wir werden zu dem ſitten- bildlichen Geſchichtsbilde zurückgeführt, allein von dieſem unterſcheidet ſich die jetzt vorliegende Form durch das vorherrſchende pſychiſche Intereſſe. Gallaits Abdankung Carls V. z. B. wäre Ceremonienbild, wenn ihm nicht die tiefe Empfindung der Hauptperſonen ſeine Stelle im pſychiſchen Situationsbild anwieſe. Die Scene hat aber zu viel Reales, um lyriſch heißen zu können. Leonardo da Vinci’s Abendmahl iſt ein Situations- bild, eine Kreuzabnahme, eine Beklagung des Leichnams Jeſu iſt mehr lyriſch.
§. 712.
Am reinſten liegt der Charakter dieſes Zweiges vor in der Darſtellung der ächt dramatiſchen Momente der vollen Spannung zur entſcheidenden That oder des wirklichen Ausbruchs oder der Nachwirkung von Thaten, die aber noch weiteres Erſchütterndes im Schooße birgt oder bereits als gegenwärtig zeigt. Das Schlachtbild hat auch hier eine Stelle, wiewohl in ihm auch der ſchärfſte Entſcheidungsmoment ſtark mit dem Epiſchen ſich miſcht.
Das Lyriſche, die Fülle inneren Lebens wird zum Entſchluß, bereitet drohend die That, führt ſie im Sturme des Conflicts aus, leidet die Folgen des eigenen Thuns und der Thaten Anderer, doch nicht paſſiv empfindend, ſondern auf neue Entſcheidungen gefaßt. In §. 684 iſt ge- ſagt, daß die Malerei vorzüglich den ſpannenden Moment vor der That liebt, Delaroches Knaben Eduards ſind angeführt, die Scene vor Straffords Gefängniß, Rembrandts Adolf von Geldern, Leutzes Washington greifen wir als weitere Beiſpiele aus der Fülle der Kunſtwelt heraus. Zu Scenen des vollen Ausbruchs zählen wir, von Schlachtbildern noch abgeſehen, Werke wie Raphaels Ananias, die Vertreibung des Heliodor aus dem Tempel zu Jeruſalem, Bilder der Gefangennehmung Chriſti, Rubens Simſon und Delila. Ein Cromwell, den Sarg Carls I. öffnend, eine Marie Antoinette von Delaroche zeigen Momente nach erſchütternden Thaten, aber ſie bergen weiteren tragiſchen Verlauf zu ſichtbar und ſchlagend in ſich, um ſie Situationsbilder zu nennen; Gallaits Egmont im Gefängniß iſt verurtheilt, am nächſten Morgen ſoll er ſterben; das Blutige iſt geſchehen auf Gallaits neueſtem Bilde, aber die Situation weist auf eine Zeit der Vergeltung hinaus, nur freilich ſo ſchwach, daß dieſes Werk allerdings mehr zur Sphäre des bloßen Situationsbilds ge- hört. — Das Schlachtbild tritt hier noch einmal vor uns; es iſt drama-
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bildlichen Geſchichtsbilde zurückgeführt, allein von dieſem unterſcheidet ſich
die jetzt vorliegende Form durch das vorherrſchende pſychiſche Intereſſe.
Gallaits Abdankung Carls V. z. B. wäre Ceremonienbild, wenn ihm
nicht die tiefe Empfindung der Hauptperſonen ſeine Stelle im pſychiſchen
Situationsbild anwieſe. Die Scene hat aber zu viel Reales, um lyriſch
heißen zu können. Leonardo da Vinci’s Abendmahl iſt ein Situations-
bild, eine Kreuzabnahme, eine Beklagung des Leichnams Jeſu iſt mehr
lyriſch.
§. 712.
Am reinſten liegt der Charakter dieſes Zweiges vor in der Darſtellung
der ächt dramatiſchen Momente der vollen Spannung zur entſcheidenden That
oder des wirklichen Ausbruchs oder der Nachwirkung von Thaten, die aber
noch weiteres Erſchütterndes im Schooße birgt oder bereits als gegenwärtig
zeigt. Das Schlachtbild hat auch hier eine Stelle, wiewohl in ihm auch
der ſchärfſte Entſcheidungsmoment ſtark mit dem Epiſchen ſich miſcht.
Das Lyriſche, die Fülle inneren Lebens wird zum Entſchluß, bereitet
drohend die That, führt ſie im Sturme des Conflicts aus, leidet die
Folgen des eigenen Thuns und der Thaten Anderer, doch nicht paſſiv
empfindend, ſondern auf neue Entſcheidungen gefaßt. In §. 684 iſt ge-
ſagt, daß die Malerei vorzüglich den ſpannenden Moment vor der That
liebt, Delaroches Knaben Eduards ſind angeführt, die Scene vor Straffords
Gefängniß, Rembrandts Adolf von Geldern, Leutzes Washington greifen
wir als weitere Beiſpiele aus der Fülle der Kunſtwelt heraus. Zu Scenen
des vollen Ausbruchs zählen wir, von Schlachtbildern noch abgeſehen,
Werke wie Raphaels Ananias, die Vertreibung des Heliodor aus dem
Tempel zu Jeruſalem, Bilder der Gefangennehmung Chriſti, Rubens
Simſon und Delila. Ein Cromwell, den Sarg Carls I. öffnend, eine
Marie Antoinette von Delaroche zeigen Momente nach erſchütternden
Thaten, aber ſie bergen weiteren tragiſchen Verlauf zu ſichtbar und
ſchlagend in ſich, um ſie Situationsbilder zu nennen; Gallaits Egmont
im Gefängniß iſt verurtheilt, am nächſten Morgen ſoll er ſterben; das
Blutige iſt geſchehen auf Gallaits neueſtem Bilde, aber die Situation
weist auf eine Zeit der Vergeltung hinaus, nur freilich ſo ſchwach, daß
dieſes Werk allerdings mehr zur Sphäre des bloßen Situationsbilds ge-
hört. — Das Schlachtbild tritt hier noch einmal vor uns; es iſt drama-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 688. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/196>, abgerufen am 05.07.2024.
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