Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

laufend sich ahnungsvoll verliert, dieß sind die Wirkungen, worauf es
abgesehen ist. -- Was nun endlich die zierlichen Kleinigkeiten der Blu-
men
- und Fruchtstücke und der Zusammenstellungen von Geräthen und
dergl., namentlich aber Erfrischungen, worunter das todte Thier eine
Hauptrolle spielt: die sog. Still-Leben, auch Frühstücks-Bilder be-
trifft, so gilt es hier zunächst allerdings feine Belauschung und Nachah-
mung des Objects, die Kunst trägt ihr Licht in das Kleine und Enge,
schleicht den zarten Reizen der Form, Farbe, des Lichts, insbesondere des
Durchsichtigen nach, weidet sich an ihrer Macht und List, die in den
Stoffen eingefangene Naturseele zu ertappen und zum Leuchten zu brin-
gen, und sie ist auch darin nicht zu verachten, denn ein Schimmer von
Idealität ist selbst in den anspruchslosesten Gattungen des Daseins; doch
für sich würde derselbe wenigstens bei den unorganischen oder todten Kör-
pern des sog. Still-Lebens nicht ausreichen, das Ganze einer künstlerischen
Darstellung zu bilden, die Zusammenstellung erst gibt diesen Dingen ihre
Stütze und zwar in dem Sinn, daß sie auf den Geist des abwesenden
Besitzers hinweist (Schnaase Niederl. Briefe S. 153): Wohlstand und
Behagen des Menschen ist das mittelbare, aber doch das Grund-Motiv
in diesen Bildern, sie sind culturhistorisch zu verstehen, man muß die
Neigungen und Sitten des Volkes, wo solche Darstellungen beliebt sind,
im Auge haben. Mehr Schönheitsgehalt an sich schon hat die organische
Gestalt der Blumen und Früchte, doch auch sie können für sich allein nicht
Kunst-Objecte sein (vergl. §. 276, 2.); im Strauße, in schönen Gefäßen
gruppirt, wiewohl noch duftig und thauig, breitet ein David de Heem,
ein Huysum sie hin, als warteten sie des eintretenden Menschen, der sich
ihrer Farbe, ihres Geruchs und Geschmacks erlaben möge.

§. 702.

Im Sittenbild ergreift die auf das allgemein Menschliche gerich-
tete Art der Phantasie das weite Gebiet des menschlichen Lebens, sofern die
gattungsmäßigen Kräfte desselben nicht zu den großen Entscheidungen sich zu-
sammenfassen, welche sich mit Namen und Zahl in die Geschichte einzeichnen.
So bedeutend der Inhalt und so stark die innere Bewegung sein mag, erscheint
daher der Mensch doch als Naturwesen im engern und weitern Sinne des Worts,
gehalten am Bande des Allgemeinen in der Bedeutung des Bedürfnisses, der
Arbeit, des natürlichen und geselligen Zustands, der Culturformen, kurz der
Gewohnheit, der Sitte überhaupt. Die Belauschung und vorherrschende Be-
tonung des Einzelnen, Augenblicklichen, Kleinen fließt eben aus diesem Be-
griffe des Allgemeinen. Der bestimmende Standpunct ist der epische.


laufend ſich ahnungsvoll verliert, dieß ſind die Wirkungen, worauf es
abgeſehen iſt. — Was nun endlich die zierlichen Kleinigkeiten der Blu-
men
- und Fruchtſtücke und der Zuſammenſtellungen von Geräthen und
dergl., namentlich aber Erfriſchungen, worunter das todte Thier eine
Hauptrolle ſpielt: die ſog. Still-Leben, auch Frühſtücks-Bilder be-
trifft, ſo gilt es hier zunächſt allerdings feine Belauſchung und Nachah-
mung des Objects, die Kunſt trägt ihr Licht in das Kleine und Enge,
ſchleicht den zarten Reizen der Form, Farbe, des Lichts, insbeſondere des
Durchſichtigen nach, weidet ſich an ihrer Macht und Liſt, die in den
Stoffen eingefangene Naturſeele zu ertappen und zum Leuchten zu brin-
gen, und ſie iſt auch darin nicht zu verachten, denn ein Schimmer von
Idealität iſt ſelbſt in den anſpruchsloſeſten Gattungen des Daſeins; doch
für ſich würde derſelbe wenigſtens bei den unorganiſchen oder todten Kör-
pern des ſog. Still-Lebens nicht ausreichen, das Ganze einer künſtleriſchen
Darſtellung zu bilden, die Zuſammenſtellung erſt gibt dieſen Dingen ihre
Stütze und zwar in dem Sinn, daß ſie auf den Geiſt des abweſenden
Beſitzers hinweist (Schnaaſe Niederl. Briefe S. 153): Wohlſtand und
Behagen des Menſchen iſt das mittelbare, aber doch das Grund-Motiv
in dieſen Bildern, ſie ſind culturhiſtoriſch zu verſtehen, man muß die
Neigungen und Sitten des Volkes, wo ſolche Darſtellungen beliebt ſind,
im Auge haben. Mehr Schönheitsgehalt an ſich ſchon hat die organiſche
Geſtalt der Blumen und Früchte, doch auch ſie können für ſich allein nicht
Kunſt-Objecte ſein (vergl. §. 276, 2.); im Strauße, in ſchönen Gefäßen
gruppirt, wiewohl noch duftig und thauig, breitet ein David de Heem,
ein Huyſum ſie hin, als warteten ſie des eintretenden Menſchen, der ſich
ihrer Farbe, ihres Geruchs und Geſchmacks erlaben möge.

§. 702.

Im Sittenbild ergreift die auf das allgemein Menſchliche gerich-
tete Art der Phantaſie das weite Gebiet des menſchlichen Lebens, ſofern die
gattungsmäßigen Kräfte deſſelben nicht zu den großen Entſcheidungen ſich zu-
ſammenfaſſen, welche ſich mit Namen und Zahl in die Geſchichte einzeichnen.
So bedeutend der Inhalt und ſo ſtark die innere Bewegung ſein mag, erſcheint
daher der Menſch doch als Naturweſen im engern und weitern Sinne des Worts,
gehalten am Bande des Allgemeinen in der Bedeutung des Bedürfniſſes, der
Arbeit, des natürlichen und geſelligen Zuſtands, der Culturformen, kurz der
Gewohnheit, der Sitte überhaupt. Die Belauſchung und vorherrſchende Be-
tonung des Einzelnen, Augenblicklichen, Kleinen fließt eben aus dieſem Be-
griffe des Allgemeinen. Der beſtimmende Standpunct iſt der epiſche.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0169" n="661"/>
laufend &#x017F;ich ahnungsvoll verliert, dieß &#x017F;ind die Wirkungen, worauf es<lb/>
abge&#x017F;ehen i&#x017F;t. &#x2014; Was nun endlich die zierlichen Kleinigkeiten der <hi rendition="#g">Blu-<lb/>
men</hi>- und <hi rendition="#g">Frucht&#x017F;tücke</hi> und der Zu&#x017F;ammen&#x017F;tellungen von Geräthen und<lb/>
dergl., namentlich aber Erfri&#x017F;chungen, worunter das todte Thier eine<lb/>
Hauptrolle &#x017F;pielt: die &#x017F;og. <hi rendition="#g">Still-Leben</hi>, auch <hi rendition="#g">Früh&#x017F;tücks-Bilder</hi> be-<lb/>
trifft, &#x017F;o gilt es hier zunäch&#x017F;t allerdings feine Belau&#x017F;chung und Nachah-<lb/>
mung des Objects, die Kun&#x017F;t trägt ihr Licht in das Kleine und Enge,<lb/>
&#x017F;chleicht den zarten Reizen der Form, Farbe, des Lichts, insbe&#x017F;ondere des<lb/>
Durch&#x017F;ichtigen nach, weidet &#x017F;ich an ihrer Macht und Li&#x017F;t, die in den<lb/>
Stoffen eingefangene Natur&#x017F;eele zu ertappen und zum Leuchten zu brin-<lb/>
gen, und &#x017F;ie i&#x017F;t auch darin nicht zu verachten, denn ein Schimmer von<lb/>
Idealität i&#x017F;t &#x017F;elb&#x017F;t in den an&#x017F;pruchslo&#x017F;e&#x017F;ten Gattungen des Da&#x017F;eins; doch<lb/>
für &#x017F;ich würde der&#x017F;elbe wenig&#x017F;tens bei den unorgani&#x017F;chen oder todten Kör-<lb/>
pern des &#x017F;og. Still-Lebens nicht ausreichen, das Ganze einer kün&#x017F;tleri&#x017F;chen<lb/>
Dar&#x017F;tellung zu bilden, die Zu&#x017F;ammen&#x017F;tellung er&#x017F;t gibt die&#x017F;en Dingen ihre<lb/>
Stütze und zwar in dem Sinn, daß &#x017F;ie auf den Gei&#x017F;t des abwe&#x017F;enden<lb/>
Be&#x017F;itzers hinweist (Schnaa&#x017F;e Niederl. Briefe S. 153): Wohl&#x017F;tand und<lb/>
Behagen des Men&#x017F;chen i&#x017F;t das mittelbare, aber doch das Grund-Motiv<lb/>
in die&#x017F;en Bildern, &#x017F;ie &#x017F;ind culturhi&#x017F;tori&#x017F;ch zu ver&#x017F;tehen, man muß die<lb/>
Neigungen und Sitten des Volkes, wo &#x017F;olche Dar&#x017F;tellungen beliebt &#x017F;ind,<lb/>
im Auge haben. Mehr Schönheitsgehalt an &#x017F;ich &#x017F;chon hat die organi&#x017F;che<lb/>
Ge&#x017F;talt der Blumen und Früchte, doch auch &#x017F;ie können für &#x017F;ich allein nicht<lb/>
Kun&#x017F;t-Objecte &#x017F;ein (vergl. §. 276, <hi rendition="#sub">2.</hi>); im Strauße, in &#x017F;chönen Gefäßen<lb/>
gruppirt, wiewohl noch duftig und thauig, breitet ein David de Heem,<lb/>
ein Huy&#x017F;um &#x017F;ie hin, als warteten &#x017F;ie des eintretenden Men&#x017F;chen, der &#x017F;ich<lb/>
ihrer Farbe, ihres Geruchs und Ge&#x017F;chmacks erlaben möge.</hi> </p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 702.</head><lb/>
              <p> <hi rendition="#fr">Im Sittenbild ergreift die auf das <hi rendition="#g">allgemein Men&#x017F;chliche</hi> gerich-<lb/>
tete Art der Phanta&#x017F;ie das weite Gebiet des men&#x017F;chlichen Lebens, &#x017F;ofern die<lb/>
gattungsmäßigen Kräfte de&#x017F;&#x017F;elben nicht zu den großen Ent&#x017F;cheidungen &#x017F;ich zu-<lb/>
&#x017F;ammenfa&#x017F;&#x017F;en, welche &#x017F;ich mit Namen und Zahl in die Ge&#x017F;chichte einzeichnen.<lb/>
So bedeutend der Inhalt und &#x017F;o &#x017F;tark die innere Bewegung &#x017F;ein mag, er&#x017F;cheint<lb/>
daher der Men&#x017F;ch doch als Naturwe&#x017F;en im engern und weitern Sinne des Worts,<lb/>
gehalten am Bande des Allgemeinen in der Bedeutung des Bedürfni&#x017F;&#x017F;es, der<lb/>
Arbeit, des natürlichen und ge&#x017F;elligen Zu&#x017F;tands, der Culturformen, kurz der<lb/>
Gewohnheit, der Sitte überhaupt. Die Belau&#x017F;chung und vorherr&#x017F;chende Be-<lb/>
tonung des Einzelnen, Augenblicklichen, Kleinen fließt eben aus die&#x017F;em Be-<lb/>
griffe des Allgemeinen. Der be&#x017F;timmende Standpunct i&#x017F;t der <hi rendition="#g">epi&#x017F;che</hi>.</hi> </p><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[661/0169] laufend ſich ahnungsvoll verliert, dieß ſind die Wirkungen, worauf es abgeſehen iſt. — Was nun endlich die zierlichen Kleinigkeiten der Blu- men- und Fruchtſtücke und der Zuſammenſtellungen von Geräthen und dergl., namentlich aber Erfriſchungen, worunter das todte Thier eine Hauptrolle ſpielt: die ſog. Still-Leben, auch Frühſtücks-Bilder be- trifft, ſo gilt es hier zunächſt allerdings feine Belauſchung und Nachah- mung des Objects, die Kunſt trägt ihr Licht in das Kleine und Enge, ſchleicht den zarten Reizen der Form, Farbe, des Lichts, insbeſondere des Durchſichtigen nach, weidet ſich an ihrer Macht und Liſt, die in den Stoffen eingefangene Naturſeele zu ertappen und zum Leuchten zu brin- gen, und ſie iſt auch darin nicht zu verachten, denn ein Schimmer von Idealität iſt ſelbſt in den anſpruchsloſeſten Gattungen des Daſeins; doch für ſich würde derſelbe wenigſtens bei den unorganiſchen oder todten Kör- pern des ſog. Still-Lebens nicht ausreichen, das Ganze einer künſtleriſchen Darſtellung zu bilden, die Zuſammenſtellung erſt gibt dieſen Dingen ihre Stütze und zwar in dem Sinn, daß ſie auf den Geiſt des abweſenden Beſitzers hinweist (Schnaaſe Niederl. Briefe S. 153): Wohlſtand und Behagen des Menſchen iſt das mittelbare, aber doch das Grund-Motiv in dieſen Bildern, ſie ſind culturhiſtoriſch zu verſtehen, man muß die Neigungen und Sitten des Volkes, wo ſolche Darſtellungen beliebt ſind, im Auge haben. Mehr Schönheitsgehalt an ſich ſchon hat die organiſche Geſtalt der Blumen und Früchte, doch auch ſie können für ſich allein nicht Kunſt-Objecte ſein (vergl. §. 276, 2.); im Strauße, in ſchönen Gefäßen gruppirt, wiewohl noch duftig und thauig, breitet ein David de Heem, ein Huyſum ſie hin, als warteten ſie des eintretenden Menſchen, der ſich ihrer Farbe, ihres Geruchs und Geſchmacks erlaben möge. §. 702. Im Sittenbild ergreift die auf das allgemein Menſchliche gerich- tete Art der Phantaſie das weite Gebiet des menſchlichen Lebens, ſofern die gattungsmäßigen Kräfte deſſelben nicht zu den großen Entſcheidungen ſich zu- ſammenfaſſen, welche ſich mit Namen und Zahl in die Geſchichte einzeichnen. So bedeutend der Inhalt und ſo ſtark die innere Bewegung ſein mag, erſcheint daher der Menſch doch als Naturweſen im engern und weitern Sinne des Worts, gehalten am Bande des Allgemeinen in der Bedeutung des Bedürfniſſes, der Arbeit, des natürlichen und geſelligen Zuſtands, der Culturformen, kurz der Gewohnheit, der Sitte überhaupt. Die Belauſchung und vorherrſchende Be- tonung des Einzelnen, Augenblicklichen, Kleinen fließt eben aus dieſem Be- griffe des Allgemeinen. Der beſtimmende Standpunct iſt der epiſche.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/169
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 661. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/169>, abgerufen am 21.11.2024.