Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

Bild:
<< vorherige Seite

mittlungsglied mit der Baukunst, wie mit der Malerei) ihre Organe nach
ihm aus. Die Erde gesteht in der Erzeugung des organischen Lebens
und seines Gipfels, des Menschen, was sie eigentlich ist, nämlich blos er-
nährende Unterlage und Stätte für die höheren Wesen; die Baukunst be-
ginnt dasselbe Geständniß mit dem Ornamente, verstärkt es mit dem an
ihre Flächen enger angeschlossenen Bildwerk und vollendet es, indem sie
der freien Statue Platz macht. Der §. geht von diesem Punct aus und
dann erst zur unmittelbaren Ableitung der innern Nothwendigkeit des
Auftretens der Sculptur über; die Erläuterung hat diesen Gang umge-
kehrt. -- Es durfte nicht unerwähnt bleiben, daß die Nachbildung des
höheren organischen Lebens sich äußerlich durch den Spieltrieb vorbereitet,
durch jene Form desselben nämlich, welche als objectiver Nachahmungs-
trieb Gegenstände, zunächst zur Ergötzung, in weichen oder harten Stof-
fen nachahmt.

§. 598.

Verschwunden ist mit diesem Schritte die Getheiltheit einer Kunstform,
welche in Inneres und Aeußeres zerfällt und von einem gegebenen Zwech ab-
hängig ist (§. 555, 1.); die dunkle Beziehung derselben zu einem Vorbild in
der Natur ist klarer gegenständlicher Nachbildung gewichen und an die Stelle
bloßen symbolischen Andeutens tritt die eigentliche Darstellung concre-
ten
Inhalts in der ihm untrennbar selbsteigen angehörigen Form: die Bedeu-
tung und ihre Hülle sind in lebendige, sich selbst aussprechende Einheit zusam-
mengefaßt.

Die Baukunst fanden wir nach zwei Seiten auf ein zunächst Außer-
ästhetisches bezogen: nach der einen war sie von dem gegebenen Zwecke,
nach der andern von dem Gesetze der Schwere abhängig. Hier handelt
es sich zunächst von der ersten dieser zwei Seiten; die Theilung in ein
Inneres und Aeußeres fällt unmittelbar mit dieser Abhängigkeit zusammen.
Daraus sogleich floß die Schwierigkeit der Lehre von dieser Kunst, der
Umweg, der durch eine Reihe verwickelter Unterscheidungen zu dem Puncte
führte, wo das Schöne beginnt. Mit diesen Schwierigkeiten hat es jetzt
ein Ende; die Bildnerkunst steht auf sich, stellt ein Eines, Ganzes hin.
Das blos umschließende Werk der Baukunst faßte ferner die Stoffmasse
nur in jene abstracte Linien-Einheit zusammen, für welche im Reiche des
Naturschönen kein eigentliches, abgeschlossenes Vorbild zu finden war;
wir suchten dunkel umher nach dem Puncte, wo die Phantasie im Schachte
des Naturlebens sich geheimnißvoll nach den Grundlagen aller Gestaltung
umschaut, sich ahnend in den Prozeß der Krystallbildung versenkt; jetzt

mittlungsglied mit der Baukunſt, wie mit der Malerei) ihre Organe nach
ihm aus. Die Erde geſteht in der Erzeugung des organiſchen Lebens
und ſeines Gipfels, des Menſchen, was ſie eigentlich iſt, nämlich blos er-
nährende Unterlage und Stätte für die höheren Weſen; die Baukunſt be-
ginnt daſſelbe Geſtändniß mit dem Ornamente, verſtärkt es mit dem an
ihre Flächen enger angeſchloſſenen Bildwerk und vollendet es, indem ſie
der freien Statue Platz macht. Der §. geht von dieſem Punct aus und
dann erſt zur unmittelbaren Ableitung der innern Nothwendigkeit des
Auftretens der Sculptur über; die Erläuterung hat dieſen Gang umge-
kehrt. — Es durfte nicht unerwähnt bleiben, daß die Nachbildung des
höheren organiſchen Lebens ſich äußerlich durch den Spieltrieb vorbereitet,
durch jene Form deſſelben nämlich, welche als objectiver Nachahmungs-
trieb Gegenſtände, zunächſt zur Ergötzung, in weichen oder harten Stof-
fen nachahmt.

§. 598.

Verſchwunden iſt mit dieſem Schritte die Getheiltheit einer Kunſtform,
welche in Inneres und Aeußeres zerfällt und von einem gegebenen Zwech ab-
hängig iſt (§. 555, 1.); die dunkle Beziehung derſelben zu einem Vorbild in
der Natur iſt klarer gegenſtändlicher Nachbildung gewichen und an die Stelle
bloßen ſymboliſchen Andeutens tritt die eigentliche Darſtellung concre-
ten
Inhalts in der ihm untrennbar ſelbſteigen angehörigen Form: die Bedeu-
tung und ihre Hülle ſind in lebendige, ſich ſelbſt ausſprechende Einheit zuſam-
mengefaßt.

Die Baukunſt fanden wir nach zwei Seiten auf ein zunächſt Außer-
äſthetiſches bezogen: nach der einen war ſie von dem gegebenen Zwecke,
nach der andern von dem Geſetze der Schwere abhängig. Hier handelt
es ſich zunächſt von der erſten dieſer zwei Seiten; die Theilung in ein
Inneres und Aeußeres fällt unmittelbar mit dieſer Abhängigkeit zuſammen.
Daraus ſogleich floß die Schwierigkeit der Lehre von dieſer Kunſt, der
Umweg, der durch eine Reihe verwickelter Unterſcheidungen zu dem Puncte
führte, wo das Schöne beginnt. Mit dieſen Schwierigkeiten hat es jetzt
ein Ende; die Bildnerkunſt ſteht auf ſich, ſtellt ein Eines, Ganzes hin.
Das blos umſchließende Werk der Baukunſt faßte ferner die Stoffmaſſe
nur in jene abſtracte Linien-Einheit zuſammen, für welche im Reiche des
Naturſchönen kein eigentliches, abgeſchloſſenes Vorbild zu finden war;
wir ſuchten dunkel umher nach dem Puncte, wo die Phantaſie im Schachte
des Naturlebens ſich geheimnißvoll nach den Grundlagen aller Geſtaltung
umſchaut, ſich ahnend in den Prozeß der Kryſtallbildung verſenkt; jetzt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <p>
                      <pb facs="#f0016" n="342"/> <hi rendition="#et">mittlungsglied mit der Baukun&#x017F;t, wie mit der Malerei) ihre Organe nach<lb/>
ihm aus. Die Erde <hi rendition="#g">ge&#x017F;teht</hi> in der Erzeugung des organi&#x017F;chen Lebens<lb/>
und &#x017F;eines Gipfels, des Men&#x017F;chen, was &#x017F;ie eigentlich i&#x017F;t, nämlich blos er-<lb/>
nährende Unterlage und Stätte für die höheren We&#x017F;en; die Baukun&#x017F;t be-<lb/>
ginnt da&#x017F;&#x017F;elbe Ge&#x017F;tändniß mit dem Ornamente, ver&#x017F;tärkt es mit dem an<lb/>
ihre Flächen enger ange&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enen Bildwerk und vollendet es, indem &#x017F;ie<lb/>
der freien Statue Platz macht. Der §. geht von die&#x017F;em Punct aus und<lb/>
dann er&#x017F;t zur unmittelbaren Ableitung der innern Nothwendigkeit des<lb/>
Auftretens der Sculptur über; die Erläuterung hat die&#x017F;en Gang umge-<lb/>
kehrt. &#x2014; Es durfte nicht unerwähnt bleiben, daß die Nachbildung des<lb/>
höheren organi&#x017F;chen Lebens &#x017F;ich äußerlich durch den Spieltrieb vorbereitet,<lb/>
durch jene Form de&#x017F;&#x017F;elben nämlich, welche als objectiver Nachahmungs-<lb/>
trieb Gegen&#x017F;tände, zunäch&#x017F;t zur Ergötzung, in weichen oder harten Stof-<lb/>
fen nachahmt.</hi> </p>
                  </div><lb/>
                  <div n="7">
                    <head>§. 598.</head><lb/>
                    <p> <hi rendition="#fr">Ver&#x017F;chwunden i&#x017F;t mit die&#x017F;em Schritte die <hi rendition="#g">Getheiltheit</hi> einer Kun&#x017F;tform,<lb/>
welche in Inneres und Aeußeres zerfällt und von einem gegebenen Zwech ab-<lb/>
hängig i&#x017F;t (§. 555, <hi rendition="#sub">1.</hi>); die dunkle Beziehung der&#x017F;elben zu einem Vorbild in<lb/>
der Natur i&#x017F;t klarer gegen&#x017F;tändlicher <hi rendition="#g">Nachbildung</hi> gewichen und an die Stelle<lb/>
bloßen <hi rendition="#g">&#x017F;ymboli&#x017F;chen Andeutens</hi> tritt die eigentliche Dar&#x017F;tellung <hi rendition="#g">concre-<lb/>
ten</hi> Inhalts in der ihm untrennbar &#x017F;elb&#x017F;teigen angehörigen Form: die Bedeu-<lb/>
tung und ihre Hülle &#x017F;ind in lebendige, &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t aus&#x017F;prechende Einheit zu&#x017F;am-<lb/>
mengefaßt.</hi> </p><lb/>
                    <p> <hi rendition="#et">Die Baukun&#x017F;t fanden wir nach zwei Seiten auf ein zunäch&#x017F;t Außer-<lb/>
ä&#x017F;theti&#x017F;ches bezogen: nach der einen war &#x017F;ie von dem gegebenen Zwecke,<lb/>
nach der andern von dem Ge&#x017F;etze der Schwere abhängig. Hier handelt<lb/>
es &#x017F;ich zunäch&#x017F;t von der er&#x017F;ten die&#x017F;er zwei Seiten; die Theilung in ein<lb/>
Inneres und Aeußeres fällt unmittelbar mit die&#x017F;er Abhängigkeit zu&#x017F;ammen.<lb/>
Daraus &#x017F;ogleich floß die Schwierigkeit der Lehre von die&#x017F;er Kun&#x017F;t, der<lb/>
Umweg, der durch eine Reihe verwickelter Unter&#x017F;cheidungen zu dem Puncte<lb/>
führte, wo das Schöne beginnt. Mit die&#x017F;en Schwierigkeiten hat es jetzt<lb/>
ein Ende; die Bildnerkun&#x017F;t &#x017F;teht auf &#x017F;ich, &#x017F;tellt ein Eines, Ganzes hin.<lb/>
Das blos um&#x017F;chließende Werk der Baukun&#x017F;t faßte ferner die Stoffma&#x017F;&#x017F;e<lb/>
nur in jene ab&#x017F;tracte Linien-Einheit zu&#x017F;ammen, für welche im Reiche des<lb/>
Natur&#x017F;chönen kein eigentliches, abge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enes Vorbild zu finden war;<lb/>
wir &#x017F;uchten dunkel umher nach dem Puncte, wo die Phanta&#x017F;ie im Schachte<lb/>
des Naturlebens &#x017F;ich geheimnißvoll nach den Grundlagen aller Ge&#x017F;taltung<lb/>
um&#x017F;chaut, &#x017F;ich ahnend in den Prozeß der Kry&#x017F;tallbildung ver&#x017F;enkt; jetzt<lb/></hi> </p>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[342/0016] mittlungsglied mit der Baukunſt, wie mit der Malerei) ihre Organe nach ihm aus. Die Erde geſteht in der Erzeugung des organiſchen Lebens und ſeines Gipfels, des Menſchen, was ſie eigentlich iſt, nämlich blos er- nährende Unterlage und Stätte für die höheren Weſen; die Baukunſt be- ginnt daſſelbe Geſtändniß mit dem Ornamente, verſtärkt es mit dem an ihre Flächen enger angeſchloſſenen Bildwerk und vollendet es, indem ſie der freien Statue Platz macht. Der §. geht von dieſem Punct aus und dann erſt zur unmittelbaren Ableitung der innern Nothwendigkeit des Auftretens der Sculptur über; die Erläuterung hat dieſen Gang umge- kehrt. — Es durfte nicht unerwähnt bleiben, daß die Nachbildung des höheren organiſchen Lebens ſich äußerlich durch den Spieltrieb vorbereitet, durch jene Form deſſelben nämlich, welche als objectiver Nachahmungs- trieb Gegenſtände, zunächſt zur Ergötzung, in weichen oder harten Stof- fen nachahmt. §. 598. Verſchwunden iſt mit dieſem Schritte die Getheiltheit einer Kunſtform, welche in Inneres und Aeußeres zerfällt und von einem gegebenen Zwech ab- hängig iſt (§. 555, 1.); die dunkle Beziehung derſelben zu einem Vorbild in der Natur iſt klarer gegenſtändlicher Nachbildung gewichen und an die Stelle bloßen ſymboliſchen Andeutens tritt die eigentliche Darſtellung concre- ten Inhalts in der ihm untrennbar ſelbſteigen angehörigen Form: die Bedeu- tung und ihre Hülle ſind in lebendige, ſich ſelbſt ausſprechende Einheit zuſam- mengefaßt. Die Baukunſt fanden wir nach zwei Seiten auf ein zunächſt Außer- äſthetiſches bezogen: nach der einen war ſie von dem gegebenen Zwecke, nach der andern von dem Geſetze der Schwere abhängig. Hier handelt es ſich zunächſt von der erſten dieſer zwei Seiten; die Theilung in ein Inneres und Aeußeres fällt unmittelbar mit dieſer Abhängigkeit zuſammen. Daraus ſogleich floß die Schwierigkeit der Lehre von dieſer Kunſt, der Umweg, der durch eine Reihe verwickelter Unterſcheidungen zu dem Puncte führte, wo das Schöne beginnt. Mit dieſen Schwierigkeiten hat es jetzt ein Ende; die Bildnerkunſt ſteht auf ſich, ſtellt ein Eines, Ganzes hin. Das blos umſchließende Werk der Baukunſt faßte ferner die Stoffmaſſe nur in jene abſtracte Linien-Einheit zuſammen, für welche im Reiche des Naturſchönen kein eigentliches, abgeſchloſſenes Vorbild zu finden war; wir ſuchten dunkel umher nach dem Puncte, wo die Phantaſie im Schachte des Naturlebens ſich geheimnißvoll nach den Grundlagen aller Geſtaltung umſchaut, ſich ahnend in den Prozeß der Kryſtallbildung verſenkt; jetzt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/16
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 342. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/16>, abgerufen am 21.11.2024.