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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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u. s. w.) willen der Gott selbst, d. h. ein wirklicher heiliger Inbegriff der
weltbauenden Urkraft; der Gott wohnt nur in ihm, aber die Formen des
Baues rufen in die Seele des Anschauenden ein freies Bild der welt-
bauenden Thätigkeit des Gottes hervor, wie sie in der Stimmung einer
Zeit, eines Volks aufgefaßt wird. Hiemit ist das Wesentliche ausge-
sprochen, was näher zu bestimmen sehr schwer ist. Zunächst ist wieder
aufzufassen, was in §. 557 über die Aufhebung der Schwere innerhalb
ihrer selbst, über den Rhythmus der Linien und Verhältnisse gesagt ist:
schwungvolles Leben tritt in die Verhältnisse des Schweren ein, die be-
wegungslosen und stummen Massen scheinen sich nun zu bewegen, die
Linien steigend, wagrecht hinfließend, in Kreisen sich schwingend, sich
fliehend und findend, den Raum zu durchlaufen; ja es ist, als ob das Ohr
ein Klingen und Hallen vernähme, das von diesen Bewegungen ausgienge,
wodurch selbst dieser härtesten, sprödesten unter den stummen Künsten die
Zunge sich löst. Wirklich war diese Massenfügung ja einmal nicht vor-
handen, stieg lebendig vor dem Auge des Künstlers auf, lief durch seinen
Griffel als Entwurf über das Pergament und ward in der technischen
Ausführung. Die Massen des unorganischen Erdreichs haben sich einst
ebenso in wirklicher Bewegung erst aufgebaut, der Planet hat in bewegter
Gährung sich zur Wohnung der Lebendigen gestaltet und dieser Prozeß
wiederholt sich durch das nachzeichnende Auge in der lebendigen Phantasie.
Ist nun die Baukunst ihrem Wesen nach die Kunst der Idealisirung des
unorganischen Stoffs (§. 558), so ergibt sich jetzt in bestimmterer Be-
trachtung, daß sie das ideale Bild der Urverhältnisse seiner Fügung im
Bau des Erdkörpers hinstellt und dadurch eine Ahnung des Weltbaus
erweckt, jener ursprünglichen Wirkung des Weltwesens, welche in der
Ordnung ihres Schaffens auch die organischen Wesen gebildet und die
ersten Anklänge dieser höheren Bildung in jener ersten Massenfügung,
dann bestimmter im Krystalle vorgebildet hat. Es gilt auch von der
Architektur als einer auf der Geometrie ruhenden Kunst, was Herder
(Aelt. Urk. d. Menschengeschl. Th. I, S. 203 ff.) von dieser gesagt hat:
sie sei eine Kunst zum Ausdruck unsichtbarer Weltkräfte; man darf auf
sie anwenden, was der Dichter seinem Faust bei dem Anblick des Mikro-
kosmus in den Mund legt:

Wie Alles sich zum Ganzen webt!
Eins in dem Andern wirkt und lebt!
Wie Himmelskräfte auf und niedersteigen
Und sich die goldnen Eimer reichen!

Die Baukunst will uns sagen: die reinen Urformen, aus deren un-
endlicher Verbindung auch die organischen Gestalten bestehen, ziehe ich
heraus aus der unorganischen Masse, wo sie unbestimmt angedeutet liegen

u. ſ. w.) willen der Gott ſelbſt, d. h. ein wirklicher heiliger Inbegriff der
weltbauenden Urkraft; der Gott wohnt nur in ihm, aber die Formen des
Baues rufen in die Seele des Anſchauenden ein freies Bild der welt-
bauenden Thätigkeit des Gottes hervor, wie ſie in der Stimmung einer
Zeit, eines Volks aufgefaßt wird. Hiemit iſt das Weſentliche ausge-
ſprochen, was näher zu beſtimmen ſehr ſchwer iſt. Zunächſt iſt wieder
aufzufaſſen, was in §. 557 über die Aufhebung der Schwere innerhalb
ihrer ſelbſt, über den Rhythmus der Linien und Verhältniſſe geſagt iſt:
ſchwungvolles Leben tritt in die Verhältniſſe des Schweren ein, die be-
wegungsloſen und ſtummen Maſſen ſcheinen ſich nun zu bewegen, die
Linien ſteigend, wagrecht hinfließend, in Kreiſen ſich ſchwingend, ſich
fliehend und findend, den Raum zu durchlaufen; ja es iſt, als ob das Ohr
ein Klingen und Hallen vernähme, das von dieſen Bewegungen ausgienge,
wodurch ſelbſt dieſer härteſten, ſprödeſten unter den ſtummen Künſten die
Zunge ſich löst. Wirklich war dieſe Maſſenfügung ja einmal nicht vor-
handen, ſtieg lebendig vor dem Auge des Künſtlers auf, lief durch ſeinen
Griffel als Entwurf über das Pergament und ward in der techniſchen
Ausführung. Die Maſſen des unorganiſchen Erdreichs haben ſich einſt
ebenſo in wirklicher Bewegung erſt aufgebaut, der Planet hat in bewegter
Gährung ſich zur Wohnung der Lebendigen geſtaltet und dieſer Prozeß
wiederholt ſich durch das nachzeichnende Auge in der lebendigen Phantaſie.
Iſt nun die Baukunſt ihrem Weſen nach die Kunſt der Idealiſirung des
unorganiſchen Stoffs (§. 558), ſo ergibt ſich jetzt in beſtimmterer Be-
trachtung, daß ſie das ideale Bild der Urverhältniſſe ſeiner Fügung im
Bau des Erdkörpers hinſtellt und dadurch eine Ahnung des Weltbaus
erweckt, jener urſprünglichen Wirkung des Weltweſens, welche in der
Ordnung ihres Schaffens auch die organiſchen Weſen gebildet und die
erſten Anklänge dieſer höheren Bildung in jener erſten Maſſenfügung,
dann beſtimmter im Kryſtalle vorgebildet hat. Es gilt auch von der
Architektur als einer auf der Geometrie ruhenden Kunſt, was Herder
(Aelt. Urk. d. Menſchengeſchl. Th. I, S. 203 ff.) von dieſer geſagt hat:
ſie ſei eine Kunſt zum Ausdruck unſichtbarer Weltkräfte; man darf auf
ſie anwenden, was der Dichter ſeinem Fauſt bei dem Anblick des Mikro-
koſmus in den Mund legt:

Wie Alles ſich zum Ganzen webt!
Eins in dem Andern wirkt und lebt!
Wie Himmelskräfte auf und niederſteigen
Und ſich die goldnen Eimer reichen!

Die Baukunſt will uns ſagen: die reinen Urformen, aus deren un-
endlicher Verbindung auch die organiſchen Geſtalten beſtehen, ziehe ich
heraus aus der unorganiſchen Maſſe, wo ſie unbeſtimmt angedeutet liegen

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[204/0044] u. ſ. w.) willen der Gott ſelbſt, d. h. ein wirklicher heiliger Inbegriff der weltbauenden Urkraft; der Gott wohnt nur in ihm, aber die Formen des Baues rufen in die Seele des Anſchauenden ein freies Bild der welt- bauenden Thätigkeit des Gottes hervor, wie ſie in der Stimmung einer Zeit, eines Volks aufgefaßt wird. Hiemit iſt das Weſentliche ausge- ſprochen, was näher zu beſtimmen ſehr ſchwer iſt. Zunächſt iſt wieder aufzufaſſen, was in §. 557 über die Aufhebung der Schwere innerhalb ihrer ſelbſt, über den Rhythmus der Linien und Verhältniſſe geſagt iſt: ſchwungvolles Leben tritt in die Verhältniſſe des Schweren ein, die be- wegungsloſen und ſtummen Maſſen ſcheinen ſich nun zu bewegen, die Linien ſteigend, wagrecht hinfließend, in Kreiſen ſich ſchwingend, ſich fliehend und findend, den Raum zu durchlaufen; ja es iſt, als ob das Ohr ein Klingen und Hallen vernähme, das von dieſen Bewegungen ausgienge, wodurch ſelbſt dieſer härteſten, ſprödeſten unter den ſtummen Künſten die Zunge ſich löst. Wirklich war dieſe Maſſenfügung ja einmal nicht vor- handen, ſtieg lebendig vor dem Auge des Künſtlers auf, lief durch ſeinen Griffel als Entwurf über das Pergament und ward in der techniſchen Ausführung. Die Maſſen des unorganiſchen Erdreichs haben ſich einſt ebenſo in wirklicher Bewegung erſt aufgebaut, der Planet hat in bewegter Gährung ſich zur Wohnung der Lebendigen geſtaltet und dieſer Prozeß wiederholt ſich durch das nachzeichnende Auge in der lebendigen Phantaſie. Iſt nun die Baukunſt ihrem Weſen nach die Kunſt der Idealiſirung des unorganiſchen Stoffs (§. 558), ſo ergibt ſich jetzt in beſtimmterer Be- trachtung, daß ſie das ideale Bild der Urverhältniſſe ſeiner Fügung im Bau des Erdkörpers hinſtellt und dadurch eine Ahnung des Weltbaus erweckt, jener urſprünglichen Wirkung des Weltweſens, welche in der Ordnung ihres Schaffens auch die organiſchen Weſen gebildet und die erſten Anklänge dieſer höheren Bildung in jener erſten Maſſenfügung, dann beſtimmter im Kryſtalle vorgebildet hat. Es gilt auch von der Architektur als einer auf der Geometrie ruhenden Kunſt, was Herder (Aelt. Urk. d. Menſchengeſchl. Th. I, S. 203 ff.) von dieſer geſagt hat: ſie ſei eine Kunſt zum Ausdruck unſichtbarer Weltkräfte; man darf auf ſie anwenden, was der Dichter ſeinem Fauſt bei dem Anblick des Mikro- koſmus in den Mund legt: Wie Alles ſich zum Ganzen webt! Eins in dem Andern wirkt und lebt! Wie Himmelskräfte auf und niederſteigen Und ſich die goldnen Eimer reichen! Die Baukunſt will uns ſagen: die reinen Urformen, aus deren un- endlicher Verbindung auch die organiſchen Geſtalten beſtehen, ziehe ich heraus aus der unorganiſchen Maſſe, wo ſie unbeſtimmt angedeutet liegen

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/44>, abgerufen am 26.04.2024.