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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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dagegen der mittelalterliche Bau durch die Rippen die Gewölbefelder
entlastet, allen Schub auf die Strebepfeiler hinausleitet und da-
durch einen noch strengern Haushalt einführt. Von den Gliedern
im engern Sinne wissen wir (§. 557) bereits soviel, daß sie
das structive Leben des Baus mit wenig oder gar keiner eigentlichen
Dienstleistung nur ästhetisch aussprechen; es wird sich fragen, wie weit
das Gesetz der Oekonomie wenigstens einen Schein des Fungirens von ihnen
fordere, doch muß schon hier einleuchten, daß selbst solche Zierden, welche
auch nicht scheinbar tragen oder durch einen fingirten Druck erzeugt sind,
sondern eine Beendung, einen Schluß anzeigen, wie Akroterien, Palmetten
am Stirnziegel, Schlußblumen, als ein wohlbegründeter Ausdruck des Aus-
athmens der Kräfte, durch dasselbe nicht als müßiger Ueberfluß ausge-
schlossen sein können. Das Glied geht hier in das Ornament über, dem
durch diese Andeutung seine Berechtigung und Grenze im Allgemeinen
gesetzt ist. -- In §. 496 ist an das vorliegende Compositionsgesetz die
Frage nach Recht und Umfang der Episode angeknüpft; die Anmerkung
erwähnt als Beispiel in der Baukunst den Erker, dahin gehört auch der
Balkon, es handelt sich aber vornehmlich vom höchsten Zweige der Bau-
kunst und da ist z. B. an Seitenkapellen einer Kirche zu erinnern. Die
Sache ist dadurch schwierig, daß uns im gegenwärtigen Zusammenhange
das Gesetz der Symmetrie noch nicht vorliegt; ein Anbau, der nicht grund-
wesentlich, sondern nur durch ein hinzukommendes Motiv (wie Stiftung
einer Familie, einer Innung, die im ursprünglichen Plane nicht mitberech-
net war) bedingt ist, wird durch die Symmetrie doch so in das Ganze
hineingezogen, daß er integrirend erscheint, und dem entspricht die innere
Wahrheit, daß ein Werk individueller Frömmigkeit (wie sie Familien-
begräbnisse, Seitenaltäre in angehängten Kapellen stiftet) doch eben ein
Ausfluß des Allgemeinen ist, dem der ganze Bau dient, wie denn auch
in der weltlichen Baukunst solche Ansätze, die das Interesse weiteren gebil-
deten Genusses, öffentlichen Darstellens und Heraustretens u. dergl. noch
über den Umfang des strengeren Grundplans fordert, aus dem ursprüng-
lichen Bauzwecke natürlich fließen. Wie weit es störend sei oder nicht,
wenn man die nachträgliche Anfügung erkennt, ist in abstracto nicht zu
entscheiden; ein Styl ist darin nothwendig strenger, als der andere. Wird
aber der Anbau nicht in die Symmetrie des Ganzen hineingezogen, so ist
er architektonisch ein Fehler und nur die liberale malerisch historische Be-
trachtung mag sich mit ihm versöhnen.

§. 567.

Das zweite Gesetz, welches das Werthverhältniß der Theile zu bestimmen hat
(§. 497), schreibt der Baukunst als positive, aber noch abstracte Grundlage der Schön-

dagegen der mittelalterliche Bau durch die Rippen die Gewölbefelder
entlaſtet, allen Schub auf die Strebepfeiler hinausleitet und da-
durch einen noch ſtrengern Haushalt einführt. Von den Gliedern
im engern Sinne wiſſen wir (§. 557) bereits ſoviel, daß ſie
das ſtructive Leben des Baus mit wenig oder gar keiner eigentlichen
Dienſtleiſtung nur äſthetiſch ausſprechen; es wird ſich fragen, wie weit
das Geſetz der Oekonomie wenigſtens einen Schein des Fungirens von ihnen
fordere, doch muß ſchon hier einleuchten, daß ſelbſt ſolche Zierden, welche
auch nicht ſcheinbar tragen oder durch einen fingirten Druck erzeugt ſind,
ſondern eine Beendung, einen Schluß anzeigen, wie Akroterien, Palmetten
am Stirnziegel, Schlußblumen, als ein wohlbegründeter Ausdruck des Aus-
athmens der Kräfte, durch daſſelbe nicht als müßiger Ueberfluß ausge-
ſchloſſen ſein können. Das Glied geht hier in das Ornament über, dem
durch dieſe Andeutung ſeine Berechtigung und Grenze im Allgemeinen
geſetzt iſt. — In §. 496 iſt an das vorliegende Compoſitionsgeſetz die
Frage nach Recht und Umfang der Epiſode angeknüpft; die Anmerkung
erwähnt als Beiſpiel in der Baukunſt den Erker, dahin gehört auch der
Balkon, es handelt ſich aber vornehmlich vom höchſten Zweige der Bau-
kunſt und da iſt z. B. an Seitenkapellen einer Kirche zu erinnern. Die
Sache iſt dadurch ſchwierig, daß uns im gegenwärtigen Zuſammenhange
das Geſetz der Symmetrie noch nicht vorliegt; ein Anbau, der nicht grund-
weſentlich, ſondern nur durch ein hinzukommendes Motiv (wie Stiftung
einer Familie, einer Innung, die im urſprünglichen Plane nicht mitberech-
net war) bedingt iſt, wird durch die Symmetrie doch ſo in das Ganze
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Wahrheit, daß ein Werk individueller Frömmigkeit (wie ſie Familien-
begräbniſſe, Seitenaltäre in angehängten Kapellen ſtiftet) doch eben ein
Ausfluß des Allgemeinen iſt, dem der ganze Bau dient, wie denn auch
in der weltlichen Baukunſt ſolche Anſätze, die das Intereſſe weiteren gebil-
deten Genuſſes, öffentlichen Darſtellens und Heraustretens u. dergl. noch
über den Umfang des ſtrengeren Grundplans fordert, aus dem urſprüng-
lichen Bauzwecke natürlich fließen. Wie weit es ſtörend ſei oder nicht,
wenn man die nachträgliche Anfügung erkennt, iſt in abstracto nicht zu
entſcheiden; ein Styl iſt darin nothwendig ſtrenger, als der andere. Wird
aber der Anbau nicht in die Symmetrie des Ganzen hineingezogen, ſo iſt
er architektoniſch ein Fehler und nur die liberale maleriſch hiſtoriſche Be-
trachtung mag ſich mit ihm verſöhnen.

§. 567.

Das zweite Geſetz, welches das Werthverhältniß der Theile zu beſtimmen hat
(§. 497), ſchreibt der Baukunſt als poſitive, aber noch abſtracte Grundlage der Schön-

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[226/0066] dagegen der mittelalterliche Bau durch die Rippen die Gewölbefelder entlaſtet, allen Schub auf die Strebepfeiler hinausleitet und da- durch einen noch ſtrengern Haushalt einführt. Von den Gliedern im engern Sinne wiſſen wir (§. 557) bereits ſoviel, daß ſie das ſtructive Leben des Baus mit wenig oder gar keiner eigentlichen Dienſtleiſtung nur äſthetiſch ausſprechen; es wird ſich fragen, wie weit das Geſetz der Oekonomie wenigſtens einen Schein des Fungirens von ihnen fordere, doch muß ſchon hier einleuchten, daß ſelbſt ſolche Zierden, welche auch nicht ſcheinbar tragen oder durch einen fingirten Druck erzeugt ſind, ſondern eine Beendung, einen Schluß anzeigen, wie Akroterien, Palmetten am Stirnziegel, Schlußblumen, als ein wohlbegründeter Ausdruck des Aus- athmens der Kräfte, durch daſſelbe nicht als müßiger Ueberfluß ausge- ſchloſſen ſein können. Das Glied geht hier in das Ornament über, dem durch dieſe Andeutung ſeine Berechtigung und Grenze im Allgemeinen geſetzt iſt. — In §. 496 iſt an das vorliegende Compoſitionsgeſetz die Frage nach Recht und Umfang der Epiſode angeknüpft; die Anmerkung erwähnt als Beiſpiel in der Baukunſt den Erker, dahin gehört auch der Balkon, es handelt ſich aber vornehmlich vom höchſten Zweige der Bau- kunſt und da iſt z. B. an Seitenkapellen einer Kirche zu erinnern. Die Sache iſt dadurch ſchwierig, daß uns im gegenwärtigen Zuſammenhange das Geſetz der Symmetrie noch nicht vorliegt; ein Anbau, der nicht grund- weſentlich, ſondern nur durch ein hinzukommendes Motiv (wie Stiftung einer Familie, einer Innung, die im urſprünglichen Plane nicht mitberech- net war) bedingt iſt, wird durch die Symmetrie doch ſo in das Ganze hineingezogen, daß er integrirend erſcheint, und dem entſpricht die innere Wahrheit, daß ein Werk individueller Frömmigkeit (wie ſie Familien- begräbniſſe, Seitenaltäre in angehängten Kapellen ſtiftet) doch eben ein Ausfluß des Allgemeinen iſt, dem der ganze Bau dient, wie denn auch in der weltlichen Baukunſt ſolche Anſätze, die das Intereſſe weiteren gebil- deten Genuſſes, öffentlichen Darſtellens und Heraustretens u. dergl. noch über den Umfang des ſtrengeren Grundplans fordert, aus dem urſprüng- lichen Bauzwecke natürlich fließen. Wie weit es ſtörend ſei oder nicht, wenn man die nachträgliche Anfügung erkennt, iſt in abstracto nicht zu entſcheiden; ein Styl iſt darin nothwendig ſtrenger, als der andere. Wird aber der Anbau nicht in die Symmetrie des Ganzen hineingezogen, ſo iſt er architektoniſch ein Fehler und nur die liberale maleriſch hiſtoriſche Be- trachtung mag ſich mit ihm verſöhnen. §. 567. Das zweite Geſetz, welches das Werthverhältniß der Theile zu beſtimmen hat (§. 497), ſchreibt der Baukunſt als poſitive, aber noch abſtracte Grundlage der Schön-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/66>, abgerufen am 21.11.2024.