Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

Bild:
<< vorherige Seite

werbe, Versammlungen u. s. w.) in das Gebiet, wo die blos anhängende
Kunst sich erst zur freien erhebt. Neben dem Viereckbau ist kein Dreieck-
bau, noch außer der runden irgend eine mathematische Figur genannt:
der Grund davon wird sich aus dem erst aufzuführenden Gesetze der
Symmetrie ergeben; alle zusammengesetzten Schemata, wie Kreuzgestalt,
Polygon haben das Viereck und den Kreis zu Grunde liegen. Der
Gegensatz des Viereckigen und Runden ist zunächst nur mit einem "Da-
neben" aufgeführt und erst nachher die tiefgreifende Bedeutung seiner
Lösung hervorgehoben. Die reine Rotunde kommt nämlich, abgesehen
von Gebäuden, die nicht den höchsten Gebieten angehören, wie Theatern,
Odeen, und von bloßen Theilen eines Bauwerks der höchsten Gattung,
wie Kirchthürmen, nur als eine Uebergang bildende vereinzelte Erscheinung
vor, die sich mit dem Vierecke, welches die durchaus herrschende Grundform
ist, erst zu vereinigen hat; der Grund davon ist im Charakter unterschiedsloser
Einheit, der im Kreise liegt, schon im vorhergehenden §. im Allgemeinen aufge-
wiesen und ebenda die innere Bedeutung des Eckigen und der Kreisausschnitte
so weit ausgesprochen, daß sich errathen läßt, warum die Vereinigung dieser
Gegensätze ein Ziel der reifsten Entwicklung ist. Dagegen tritt jedes
Glied der übrigen Gegensätze, die der §. aufführt, einseitig ausgebildet
nicht nur in vereinzelten Uebergangs-Erscheinungen, auch nicht im blos
anhängenden Gebiete (wie Hochbau bei Fabriken), sondern in ganzen,
wiewohl nur unreifen Kunst-Epochen als herrschende Richtung der höheren
und höchsten Kunst (Grabmal, Tempel) auf und erst die reife Kunst, wie
der Ueberblick über ihre Geschichte zeigen wird, versöhnt in irgend einem
Grad immer sowohl die Glieder jedes Gegensatzes miteinander, als auch
das Ganze jedes Gegensatzes mit dem Ganzen eines andern. Die Facade,
d. h. die reichere Kunstgliederung der Seite, die der Bau der Menge der
Vorübergehenden und Eintretenden entgegenstreckt, dieses Angesicht, worin
der Bau seine Seele nach außen ausspricht, wird darum wesentlich vom
vorherrschenden Innenbau entwickelt, weil dieser sein zunächst verborgenes
Innere als Hauptsitz der Schönheit nach außen dem Herantretenden an-
zukündigen bedacht sein muß, was freilich eben selbst schon eine relative
Lösung des Gegensatzes zwischen Innenbau und Außenbau ist. Was
übrigens diesen Gegensatz betrifft, so wird sich zeigen, daß wo seine
Glieder noch einseitig auftreten, zugleich eine dialektische Schwierigkeit
darüber entsteht, welchem derselben eine Bauart angehöre.

§. 566.

Diese Elemente hat die Composition, welche in dieser Kunst als
Rhythmus (vergl. § . 500) das Ganze des ästhetischen Lebens in sich begreift,

15*

werbe, Verſammlungen u. ſ. w.) in das Gebiet, wo die blos anhängende
Kunſt ſich erſt zur freien erhebt. Neben dem Viereckbau iſt kein Dreieck-
bau, noch außer der runden irgend eine mathematiſche Figur genannt:
der Grund davon wird ſich aus dem erſt aufzuführenden Geſetze der
Symmetrie ergeben; alle zuſammengeſetzten Schemata, wie Kreuzgeſtalt,
Polygon haben das Viereck und den Kreis zu Grunde liegen. Der
Gegenſatz des Viereckigen und Runden iſt zunächſt nur mit einem „Da-
neben“ aufgeführt und erſt nachher die tiefgreifende Bedeutung ſeiner
Löſung hervorgehoben. Die reine Rotunde kommt nämlich, abgeſehen
von Gebäuden, die nicht den höchſten Gebieten angehören, wie Theatern,
Odeen, und von bloßen Theilen eines Bauwerks der höchſten Gattung,
wie Kirchthürmen, nur als eine Uebergang bildende vereinzelte Erſcheinung
vor, die ſich mit dem Vierecke, welches die durchaus herrſchende Grundform
iſt, erſt zu vereinigen hat; der Grund davon iſt im Charakter unterſchiedsloſer
Einheit, der im Kreiſe liegt, ſchon im vorhergehenden §. im Allgemeinen aufge-
wieſen und ebenda die innere Bedeutung des Eckigen und der Kreisausſchnitte
ſo weit ausgeſprochen, daß ſich errathen läßt, warum die Vereinigung dieſer
Gegenſätze ein Ziel der reifſten Entwicklung iſt. Dagegen tritt jedes
Glied der übrigen Gegenſätze, die der §. aufführt, einſeitig ausgebildet
nicht nur in vereinzelten Uebergangs-Erſcheinungen, auch nicht im blos
anhängenden Gebiete (wie Hochbau bei Fabriken), ſondern in ganzen,
wiewohl nur unreifen Kunſt-Epochen als herrſchende Richtung der höheren
und höchſten Kunſt (Grabmal, Tempel) auf und erſt die reife Kunſt, wie
der Ueberblick über ihre Geſchichte zeigen wird, verſöhnt in irgend einem
Grad immer ſowohl die Glieder jedes Gegenſatzes miteinander, als auch
das Ganze jedes Gegenſatzes mit dem Ganzen eines andern. Die Façade,
d. h. die reichere Kunſtgliederung der Seite, die der Bau der Menge der
Vorübergehenden und Eintretenden entgegenſtreckt, dieſes Angeſicht, worin
der Bau ſeine Seele nach außen ausſpricht, wird darum weſentlich vom
vorherrſchenden Innenbau entwickelt, weil dieſer ſein zunächſt verborgenes
Innere als Hauptſitz der Schönheit nach außen dem Herantretenden an-
zukündigen bedacht ſein muß, was freilich eben ſelbſt ſchon eine relative
Löſung des Gegenſatzes zwiſchen Innenbau und Außenbau iſt. Was
übrigens dieſen Gegenſatz betrifft, ſo wird ſich zeigen, daß wo ſeine
Glieder noch einſeitig auftreten, zugleich eine dialektiſche Schwierigkeit
darüber entſteht, welchem derſelben eine Bauart angehöre.

§. 566.

Dieſe Elemente hat die Compoſition, welche in dieſer Kunſt als
Rhythmus (vergl. § . 500) das Ganze des äſthetiſchen Lebens in ſich begreift,

15*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0063" n="223"/>
werbe, Ver&#x017F;ammlungen u. &#x017F;. w.) in das Gebiet, wo die blos anhängende<lb/>
Kun&#x017F;t &#x017F;ich er&#x017F;t zur freien erhebt. Neben dem Viereckbau i&#x017F;t kein Dreieck-<lb/>
bau, noch außer der runden irgend eine mathemati&#x017F;che Figur genannt:<lb/>
der Grund davon wird &#x017F;ich aus dem er&#x017F;t aufzuführenden Ge&#x017F;etze der<lb/>
Symmetrie ergeben; alle zu&#x017F;ammenge&#x017F;etzten Schemata, wie Kreuzge&#x017F;talt,<lb/>
Polygon haben das Viereck und den Kreis zu Grunde liegen. Der<lb/>
Gegen&#x017F;atz des Viereckigen und Runden i&#x017F;t zunäch&#x017F;t nur mit einem &#x201E;Da-<lb/>
neben&#x201C; aufgeführt und er&#x017F;t nachher die tiefgreifende Bedeutung &#x017F;einer<lb/><hi rendition="#g">&#x017F;ung</hi> hervorgehoben. Die reine Rotunde kommt nämlich, abge&#x017F;ehen<lb/>
von Gebäuden, die nicht den höch&#x017F;ten Gebieten angehören, wie Theatern,<lb/>
Odeen, und von bloßen Theilen eines Bauwerks der höch&#x017F;ten Gattung,<lb/>
wie Kirchthürmen, nur als eine Uebergang bildende vereinzelte Er&#x017F;cheinung<lb/>
vor, die &#x017F;ich mit dem Vierecke, welches die durchaus herr&#x017F;chende Grundform<lb/>
i&#x017F;t, er&#x017F;t zu vereinigen hat; der Grund davon i&#x017F;t im Charakter unter&#x017F;chiedslo&#x017F;er<lb/>
Einheit, der im Krei&#x017F;e liegt, &#x017F;chon im vorhergehenden §. im Allgemeinen aufge-<lb/>
wie&#x017F;en und ebenda die innere Bedeutung des Eckigen und der Kreisaus&#x017F;chnitte<lb/>
&#x017F;o weit ausge&#x017F;prochen, daß &#x017F;ich errathen läßt, warum die Vereinigung die&#x017F;er<lb/>
Gegen&#x017F;ätze ein Ziel der reif&#x017F;ten Entwicklung i&#x017F;t. Dagegen tritt jedes<lb/>
Glied der übrigen Gegen&#x017F;ätze, die der §. aufführt, ein&#x017F;eitig ausgebildet<lb/>
nicht nur in vereinzelten Uebergangs-Er&#x017F;cheinungen, auch nicht im blos<lb/>
anhängenden Gebiete (wie Hochbau bei Fabriken), &#x017F;ondern in ganzen,<lb/>
wiewohl nur unreifen Kun&#x017F;t-Epochen als herr&#x017F;chende Richtung der höheren<lb/>
und höch&#x017F;ten Kun&#x017F;t (Grabmal, Tempel) auf und er&#x017F;t die reife Kun&#x017F;t, wie<lb/>
der Ueberblick über ihre Ge&#x017F;chichte zeigen wird, ver&#x017F;öhnt in irgend einem<lb/>
Grad immer &#x017F;owohl die Glieder jedes Gegen&#x017F;atzes miteinander, als auch<lb/>
das Ganze jedes Gegen&#x017F;atzes mit dem Ganzen eines andern. Die Fa<hi rendition="#aq">ç</hi>ade,<lb/>
d. h. die reichere Kun&#x017F;tgliederung der Seite, die der Bau der Menge der<lb/>
Vorübergehenden und Eintretenden entgegen&#x017F;treckt, die&#x017F;es Ange&#x017F;icht, worin<lb/>
der Bau &#x017F;eine Seele nach außen aus&#x017F;pricht, wird darum we&#x017F;entlich vom<lb/>
vorherr&#x017F;chenden Innenbau entwickelt, weil die&#x017F;er &#x017F;ein zunäch&#x017F;t verborgenes<lb/>
Innere als Haupt&#x017F;itz der Schönheit nach außen dem Herantretenden an-<lb/>
zukündigen bedacht &#x017F;ein muß, was freilich eben &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;chon eine relative<lb/>&#x017F;ung des Gegen&#x017F;atzes zwi&#x017F;chen Innenbau und Außenbau i&#x017F;t. Was<lb/>
übrigens die&#x017F;en Gegen&#x017F;atz betrifft, &#x017F;o wird &#x017F;ich zeigen, daß wo &#x017F;eine<lb/>
Glieder noch ein&#x017F;eitig auftreten, zugleich eine dialekti&#x017F;che Schwierigkeit<lb/>
darüber ent&#x017F;teht, welchem <choice><sic>der&#x017F;elbeu</sic><corr>der&#x017F;elben</corr></choice> eine Bauart angehöre.</hi> </p>
                  </div><lb/>
                  <div n="7">
                    <head>§. 566.</head><lb/>
                    <p> <hi rendition="#fr">Die&#x017F;e Elemente hat die <hi rendition="#g">Compo&#x017F;ition</hi>, welche in die&#x017F;er Kun&#x017F;t als<lb/>
Rhythmus (vergl. § . 500) das <hi rendition="#g">Ganze</hi> des ä&#x017F;theti&#x017F;chen Lebens in &#x017F;ich begreift,</hi><lb/>
                      <fw place="bottom" type="sig">15*</fw><lb/>
                    </p>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[223/0063] werbe, Verſammlungen u. ſ. w.) in das Gebiet, wo die blos anhängende Kunſt ſich erſt zur freien erhebt. Neben dem Viereckbau iſt kein Dreieck- bau, noch außer der runden irgend eine mathematiſche Figur genannt: der Grund davon wird ſich aus dem erſt aufzuführenden Geſetze der Symmetrie ergeben; alle zuſammengeſetzten Schemata, wie Kreuzgeſtalt, Polygon haben das Viereck und den Kreis zu Grunde liegen. Der Gegenſatz des Viereckigen und Runden iſt zunächſt nur mit einem „Da- neben“ aufgeführt und erſt nachher die tiefgreifende Bedeutung ſeiner Löſung hervorgehoben. Die reine Rotunde kommt nämlich, abgeſehen von Gebäuden, die nicht den höchſten Gebieten angehören, wie Theatern, Odeen, und von bloßen Theilen eines Bauwerks der höchſten Gattung, wie Kirchthürmen, nur als eine Uebergang bildende vereinzelte Erſcheinung vor, die ſich mit dem Vierecke, welches die durchaus herrſchende Grundform iſt, erſt zu vereinigen hat; der Grund davon iſt im Charakter unterſchiedsloſer Einheit, der im Kreiſe liegt, ſchon im vorhergehenden §. im Allgemeinen aufge- wieſen und ebenda die innere Bedeutung des Eckigen und der Kreisausſchnitte ſo weit ausgeſprochen, daß ſich errathen läßt, warum die Vereinigung dieſer Gegenſätze ein Ziel der reifſten Entwicklung iſt. Dagegen tritt jedes Glied der übrigen Gegenſätze, die der §. aufführt, einſeitig ausgebildet nicht nur in vereinzelten Uebergangs-Erſcheinungen, auch nicht im blos anhängenden Gebiete (wie Hochbau bei Fabriken), ſondern in ganzen, wiewohl nur unreifen Kunſt-Epochen als herrſchende Richtung der höheren und höchſten Kunſt (Grabmal, Tempel) auf und erſt die reife Kunſt, wie der Ueberblick über ihre Geſchichte zeigen wird, verſöhnt in irgend einem Grad immer ſowohl die Glieder jedes Gegenſatzes miteinander, als auch das Ganze jedes Gegenſatzes mit dem Ganzen eines andern. Die Façade, d. h. die reichere Kunſtgliederung der Seite, die der Bau der Menge der Vorübergehenden und Eintretenden entgegenſtreckt, dieſes Angeſicht, worin der Bau ſeine Seele nach außen ausſpricht, wird darum weſentlich vom vorherrſchenden Innenbau entwickelt, weil dieſer ſein zunächſt verborgenes Innere als Hauptſitz der Schönheit nach außen dem Herantretenden an- zukündigen bedacht ſein muß, was freilich eben ſelbſt ſchon eine relative Löſung des Gegenſatzes zwiſchen Innenbau und Außenbau iſt. Was übrigens dieſen Gegenſatz betrifft, ſo wird ſich zeigen, daß wo ſeine Glieder noch einſeitig auftreten, zugleich eine dialektiſche Schwierigkeit darüber entſteht, welchem derſelben eine Bauart angehöre. §. 566. Dieſe Elemente hat die Compoſition, welche in dieſer Kunſt als Rhythmus (vergl. § . 500) das Ganze des äſthetiſchen Lebens in ſich begreift, 15*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/63
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/63>, abgerufen am 21.12.2024.