Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.
ganz andern und strengern Bedingungen, als die Unbestimmtheit des innern §. 511. Dieses Zurückblicken ist zunächst ein vom Künstler stetig geübtes auf-1
ganz andern und ſtrengern Bedingungen, als die Unbeſtimmtheit des innern §. 511. Dieſes Zurückblicken iſt zunächſt ein vom Künſtler ſtetig geübtes auf-1 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0089" n="77"/> ganz andern und ſtrengern Bedingungen, als die Unbeſtimmtheit des innern<lb/> Entwurfs vor der Ausführung, ſei es in welcher Kunſt es wolle; eben<lb/> in der Poeſie aber handelt es ſich ja weſentlich auch von Hand-<lb/> lungen, Charakteren, Sitten, und wie ſich der Maler bei der Entwerfung<lb/> der Skizze fragt: wie iſt denn das Ding, wie ſieht es denn aus? und<lb/> wie dieſer findet, daß er es zu wiſſen meinte und vielmehr nicht weiß,<lb/> ebenſo fragt ſich der Dichter: was thut, wie gebärdet ſich, wie ſpricht<lb/> dieſe Gattung Menſchen, dieß Individuum in der und der Situation? und<lb/> auch er muß ſich oft genug ſagen, daß er ſich das Ding erſt noch einmal<lb/> anſehen muß, ehe er auch nur die Skizze vollenden kann. Die erſte An-<lb/> ſchauung muß alſo wiederholt werden; iſt der Anſtoß zur Erfindung nicht<lb/> von der eigentlichen Anſchauung ausgegangen, ſondern von einem durch<lb/> Ueberlieferung vermittelten Bilde (§. 386), ſo wird der Künſtler vielleicht<lb/> überhaupt erſt in dieſem Momente ſuchen, das blos durch Kunde innerlich<lb/> Geſchaute wirklich zu ſchauen, wie denn z. B. Schiller ſich den Ton, Schnitt<lb/> und Manier des öſtreichiſchen Militärs anſah, als er Wallenſteins Lager<lb/> ſchon concipirt hatte. Doch kann auch in dieſem Falle etwas dem Geleſenen,<lb/> Gehörten, überhaupt nur Vorgeſtellten Aehnliches an dem äußern Auge<lb/> mehrfach ſchon früher vorübergegangen ſein, nur daß es nicht mit Auf-<lb/> merkſamkeit angeſchaut worden iſt. In allen Fällen muß aber jetzt die<lb/> Anſchauung des Gegenſtands mit einer Intention vollzogen werden, wie<lb/> ſolche der erſten Anſchauung, obwohl dieſe an ſich bereits etwas Anderes,<lb/> nachdrücklicher Erfaßendes iſt, als die gewöhnliche Wahrnehmung, nicht<lb/> inwohnte: die Abſicht der wirklichen Darſtellung legt dieſer erneuten An-<lb/> ſchauung eine verdoppelte Anſtrengung der Organe, Concentrirung des<lb/> Geiſtes und Kraft der Aneignung bei. Dieß ſetzt nun freilich zugleich<lb/> eine durch frühere Verſuche, Schulbildung, wirkliche Kunſtpraxis erlangte<lb/> Uebung der Anſchauung voraus: eine Anticipation, die hier nicht zu<lb/> vermeiden und auf welche ſchon zu §. 388, <hi rendition="#sub">1.</hi> (B. <hi rendition="#aq">II.</hi> S. 325) hingewieſen<lb/> iſt. Der Künſtler ſieht und beobachtet anders, als der Laie; wer ſchon<lb/> gezeichnet, gemalt, dichteriſch geſchildert hat, und zwar mit innerem Beruf,<lb/> deſſen Anſchauen iſt ein haarſcharfes inneres Nachzeichnen, Nachbilden.<lb/> Es wird aber dieſe wiederholte Anſchauung auch bereits ſo vorgenommen<lb/> werden, daß mit dem Anſchauen auch die techniſche Nachbildung verbun-<lb/> den wird, ſo daß wir hier in noch beſtimmterem Sinn einen Theil der<lb/> Technik vorausnehmen müßen; dieſe Vorausnahme iſt zu rechtfertigen,<lb/> nachdem verſchiedene Fälle und Formen unterſchieden ſein werden.</hi> </p> </div><lb/> <div n="6"> <head>§. 511.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Dieſes Zurückblicken iſt zunächſt ein vom Künſtler ſtetig geübtes auf-<note place="right">1</note><lb/> merkſames Umherſchauen auf alle Lebenserſcheinungen, welche überhaupt in das<note place="right">2</note><lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [77/0089]
ganz andern und ſtrengern Bedingungen, als die Unbeſtimmtheit des innern
Entwurfs vor der Ausführung, ſei es in welcher Kunſt es wolle; eben
in der Poeſie aber handelt es ſich ja weſentlich auch von Hand-
lungen, Charakteren, Sitten, und wie ſich der Maler bei der Entwerfung
der Skizze fragt: wie iſt denn das Ding, wie ſieht es denn aus? und
wie dieſer findet, daß er es zu wiſſen meinte und vielmehr nicht weiß,
ebenſo fragt ſich der Dichter: was thut, wie gebärdet ſich, wie ſpricht
dieſe Gattung Menſchen, dieß Individuum in der und der Situation? und
auch er muß ſich oft genug ſagen, daß er ſich das Ding erſt noch einmal
anſehen muß, ehe er auch nur die Skizze vollenden kann. Die erſte An-
ſchauung muß alſo wiederholt werden; iſt der Anſtoß zur Erfindung nicht
von der eigentlichen Anſchauung ausgegangen, ſondern von einem durch
Ueberlieferung vermittelten Bilde (§. 386), ſo wird der Künſtler vielleicht
überhaupt erſt in dieſem Momente ſuchen, das blos durch Kunde innerlich
Geſchaute wirklich zu ſchauen, wie denn z. B. Schiller ſich den Ton, Schnitt
und Manier des öſtreichiſchen Militärs anſah, als er Wallenſteins Lager
ſchon concipirt hatte. Doch kann auch in dieſem Falle etwas dem Geleſenen,
Gehörten, überhaupt nur Vorgeſtellten Aehnliches an dem äußern Auge
mehrfach ſchon früher vorübergegangen ſein, nur daß es nicht mit Auf-
merkſamkeit angeſchaut worden iſt. In allen Fällen muß aber jetzt die
Anſchauung des Gegenſtands mit einer Intention vollzogen werden, wie
ſolche der erſten Anſchauung, obwohl dieſe an ſich bereits etwas Anderes,
nachdrücklicher Erfaßendes iſt, als die gewöhnliche Wahrnehmung, nicht
inwohnte: die Abſicht der wirklichen Darſtellung legt dieſer erneuten An-
ſchauung eine verdoppelte Anſtrengung der Organe, Concentrirung des
Geiſtes und Kraft der Aneignung bei. Dieß ſetzt nun freilich zugleich
eine durch frühere Verſuche, Schulbildung, wirkliche Kunſtpraxis erlangte
Uebung der Anſchauung voraus: eine Anticipation, die hier nicht zu
vermeiden und auf welche ſchon zu §. 388, 1. (B. II. S. 325) hingewieſen
iſt. Der Künſtler ſieht und beobachtet anders, als der Laie; wer ſchon
gezeichnet, gemalt, dichteriſch geſchildert hat, und zwar mit innerem Beruf,
deſſen Anſchauen iſt ein haarſcharfes inneres Nachzeichnen, Nachbilden.
Es wird aber dieſe wiederholte Anſchauung auch bereits ſo vorgenommen
werden, daß mit dem Anſchauen auch die techniſche Nachbildung verbun-
den wird, ſo daß wir hier in noch beſtimmterem Sinn einen Theil der
Technik vorausnehmen müßen; dieſe Vorausnahme iſt zu rechtfertigen,
nachdem verſchiedene Fälle und Formen unterſchieden ſein werden.
§. 511.
Dieſes Zurückblicken iſt zunächſt ein vom Künſtler ſtetig geübtes auf-
merkſames Umherſchauen auf alle Lebenserſcheinungen, welche überhaupt in das
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