Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.
Standpuncte des Schneiders beurtheilte, und ein Künstler, der sich diesem b. Der Rückblick auf das Naturschöne. §. 510. Die Unreife (§. 492) des erst innern Ideals erweist sich im Uebergange Alles Angeschaute, in den Geist gezogen und hier als inneres Bild
Standpuncte des Schneiders beurtheilte, und ein Künſtler, der ſich dieſem β. Der Rückblick auf das Naturſchöne. §. 510. Die Unreife (§. 492) des erſt innern Ideals erweist ſich im Uebergange Alles Angeſchaute, in den Geiſt gezogen und hier als inneres Bild <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0088" n="76"/> Standpuncte des Schneiders beurtheilte, und ein Künſtler, der ſich dieſem<lb/> Forum als dem competenten und wahren ſtellt, hat auf das Schöne<lb/> verzichtet und ſich dem Schneider unterworfen, wo denn in dieſer Rückſicht<lb/> auf ſalonmäßige Taille alle Freiheit der innern Anſchauung und Organiſation<lb/> eines Kunſtwerks verſchwindet.</hi> </p> </div> </div> </div><lb/> <div n="5"> <head><hi rendition="#i">β.</hi><lb/> Der Rückblick auf das Naturſchöne.</head><lb/> <div n="6"> <head>§. 510.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Die Unreife (§. 492) des erſt innern Ideals erweist ſich im Uebergange<lb/> zur Ausführung auf der andern Seite als eine Verwiſchung der Beſtimmtheit<lb/> und Lebendigkeit, die der Geſtalt des naturſchönen Gegenſtands, welcher die<lb/> Phantaſie zu einer Erfindung begeiſtert hat, eigen war. Die Schuld gegen<lb/> das Naturſchöne (§. 488) nimmt daher beſtimmtere Form an: es ergibt ſich,<lb/> daß die erſte Anſchauung nicht genügt, daß der Künſtler auf jenes mit neuer<lb/> Intention zurückblicken muß, was eine Uebung und Bildung des Anſchauungs-<lb/> vermögens vorausſetzt.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">Alles Angeſchaute, in den Geiſt gezogen und hier als inneres Bild<lb/> ſchwebend, verliert an Beſtimmtheit und Schärfe, es wird hingenommen<lb/> in den bewegten Fluß der geiſtigen Allgemeinheit, worin die Deutlichkeit<lb/> des Einzelnen, der Umriß erzittert und verſchwimmt. Schon zu §. 492<lb/> mußte die neue Aufgabe, welche hier erſteht, mit der Bemerkung einge-<lb/> leitet werden, daß die Phantaſie, obwohl ſie mehr iſt, als die Einbildungs-<lb/> kraft, doch mit dieſer das Schwanken der Umriße (vergl. §. 388) theile.<lb/> Sie gebietet allerdings der gaukelnden Unruhe der Einbildungskraft<lb/> Stillſtand und reduzirt das Zerfließende und Verſchwommene zur Beſtimmt-<lb/> heit und klaren Begrenzung, allein ihr ebenfalls nur inneres Bild muß,<lb/> obwohl den Träumen der Imagination gegenüber klar und ſcharf, gegen-<lb/> über den nun aufgetretenen Forderungen der äußern Objectivität mit<lb/> jenem allgemeinen Mangel noch behaftet ſein. Auch dieß bekommt der<lb/> Künſtler in der Ausführung der Skizze zu fühlen: hier gilt es beſtimmte<lb/> Zeichnung, beſtimmte Farben, Töne, Bilder, und er muß ſich ſagen, daß<lb/> dieſe vor ſeinem Innern ſo klar nicht ſtehen, als er in der Freude des<lb/> innern Entwerfens, in der Stunde der Viſion, da das Ideal wie ein<lb/> glänzendes Traumbild vor ihm erſchien, es glaubte. Die Unbeſtimmtheit<lb/> wird ſich ebenſo über Bewegungen, Handlungen, Sitten, wie über feſte<lb/> ſichtbare Formen erſtrecken. Die Poeſie führt zwar ihr Werk auch nur<lb/> der innern Vorſtellung vor, aber die relative Unbeſtimmtheit, welche darum<lb/> das Sichtbare in ihrer Darſtellung haben darf, unterliegt doch immer noch<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [76/0088]
Standpuncte des Schneiders beurtheilte, und ein Künſtler, der ſich dieſem
Forum als dem competenten und wahren ſtellt, hat auf das Schöne
verzichtet und ſich dem Schneider unterworfen, wo denn in dieſer Rückſicht
auf ſalonmäßige Taille alle Freiheit der innern Anſchauung und Organiſation
eines Kunſtwerks verſchwindet.
β.
Der Rückblick auf das Naturſchöne.
§. 510.
Die Unreife (§. 492) des erſt innern Ideals erweist ſich im Uebergange
zur Ausführung auf der andern Seite als eine Verwiſchung der Beſtimmtheit
und Lebendigkeit, die der Geſtalt des naturſchönen Gegenſtands, welcher die
Phantaſie zu einer Erfindung begeiſtert hat, eigen war. Die Schuld gegen
das Naturſchöne (§. 488) nimmt daher beſtimmtere Form an: es ergibt ſich,
daß die erſte Anſchauung nicht genügt, daß der Künſtler auf jenes mit neuer
Intention zurückblicken muß, was eine Uebung und Bildung des Anſchauungs-
vermögens vorausſetzt.
Alles Angeſchaute, in den Geiſt gezogen und hier als inneres Bild
ſchwebend, verliert an Beſtimmtheit und Schärfe, es wird hingenommen
in den bewegten Fluß der geiſtigen Allgemeinheit, worin die Deutlichkeit
des Einzelnen, der Umriß erzittert und verſchwimmt. Schon zu §. 492
mußte die neue Aufgabe, welche hier erſteht, mit der Bemerkung einge-
leitet werden, daß die Phantaſie, obwohl ſie mehr iſt, als die Einbildungs-
kraft, doch mit dieſer das Schwanken der Umriße (vergl. §. 388) theile.
Sie gebietet allerdings der gaukelnden Unruhe der Einbildungskraft
Stillſtand und reduzirt das Zerfließende und Verſchwommene zur Beſtimmt-
heit und klaren Begrenzung, allein ihr ebenfalls nur inneres Bild muß,
obwohl den Träumen der Imagination gegenüber klar und ſcharf, gegen-
über den nun aufgetretenen Forderungen der äußern Objectivität mit
jenem allgemeinen Mangel noch behaftet ſein. Auch dieß bekommt der
Künſtler in der Ausführung der Skizze zu fühlen: hier gilt es beſtimmte
Zeichnung, beſtimmte Farben, Töne, Bilder, und er muß ſich ſagen, daß
dieſe vor ſeinem Innern ſo klar nicht ſtehen, als er in der Freude des
innern Entwerfens, in der Stunde der Viſion, da das Ideal wie ein
glänzendes Traumbild vor ihm erſchien, es glaubte. Die Unbeſtimmtheit
wird ſich ebenſo über Bewegungen, Handlungen, Sitten, wie über feſte
ſichtbare Formen erſtrecken. Die Poeſie führt zwar ihr Werk auch nur
der innern Vorſtellung vor, aber die relative Unbeſtimmtheit, welche darum
das Sichtbare in ihrer Darſtellung haben darf, unterliegt doch immer noch
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