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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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Rede ist, am wenigsten ein. Der öffentliche und volksthümliche Charakter
des Lebens äußert sich auch darin, daß die Bestellungen vom Staat, von
einer Stadt, Corporation, einem Kloster u. s. w. ausgehen; die Gemein-
schaft aber ist ein Theil des Volks und in naiver Zeit so wenig kritlich,
als dieses; man bestellt und läßt dann den Künstler frei gebahren, man vertraut
ihm, daß er es recht machen werde, man bestellt zunächst für sich, doch nicht
um das Kunstwerk einzusperren, sondern um es in Tempel, Kirche, Halle
Rath- und Stadthaus u. s. w. allem Volke beständig offen zu halten,
und dem Künstler von seiner Seite schwebt nur dieß unbefangene Ge-
sammt-Subject vor, es sind aller Augen, die auf ihn warten,
es ist nicht die Lorgnette launischer Einzelner, die er zu berück-
sichtigen hat und welche die Freudigkeit seines geheimen Schaffens stört.
Geht die Bestellung, einen Wettstreit eröffnend, an mehrere Künstler, so
fällt ohnedieß alles wirkliche oder vorgestellte Dareinreden weg, denn
da ist vorausgesetzt, daß derselbe Gegenstand auf verschiedene Weise be-
handelt werden könne, und erst auf die Vergleichung der vollendeten Werke
gründen die Besteller und Schiedsrichter ihr Urtheil.

§. 505.

Anders ist es, wenn der vom nationalen Boden entwurzelten Kunst die
vollendete Trennung von Volk und höherer Gesellschaft gegenübersteht: jetzt wird
der Künstler in der Darstellung von Stoffen, die dem Volksbewußtsein fremd
sind, von dem gelehrteren Gesichtskreise und der Willkühr Einzelner, in der
Auffaßungsweise von der Convenienz und Ueppigkeit, in der Composition von
der Einrede eitler Kennerschaft abhängig.

Dieser §. faßt Zustände zusammen, die im Allgemeinen als Verfall
zu bezeichnen sind. An der Grenze derselben liegen allerdings gewisse
Uebergänge, wo zunächst trotz der veränderten Stellung der Kunst die
Stoffe noch dem Volke verständlich bleiben und demgemäß auch zwischen
der Behandlung des Künstlers und dem Volksbewußtsein noch ein Band
bleibt, das sich aber allmählich lockert. Als in Griechenland zur Zeit
Alexanders des Großen die Kunst anfieng, dem Despotismus dienstbar zu
werden, blieb sie doch verhältnißmäßig noch öffentlich, dem Volke ver-
ständlich. Die Stoffe wurden zum größeren Theil noch dem geläufigen
Kreise des Mythus und der Heroensage entnommen. Freilich rieß nun
auch die schmeichlerische Verherrlichung der Person der Fürsten ein und
sofern sich die Kunst zu diesem herrschenden Stoffe bestellungsweise her-
gab, war, sobald nicht wirkliche Größe dieser Person den Künstler so
stellte, daß er in ihr selbst ein Allgemeines, eben das Volksbewußtsein, aus-

Rede iſt, am wenigſten ein. Der öffentliche und volksthümliche Charakter
des Lebens äußert ſich auch darin, daß die Beſtellungen vom Staat, von
einer Stadt, Corporation, einem Kloſter u. ſ. w. ausgehen; die Gemein-
ſchaft aber iſt ein Theil des Volks und in naiver Zeit ſo wenig kritlich,
als dieſes; man beſtellt und läßt dann den Künſtler frei gebahren, man vertraut
ihm, daß er es recht machen werde, man beſtellt zunächſt für ſich, doch nicht
um das Kunſtwerk einzuſperren, ſondern um es in Tempel, Kirche, Halle
Rath- und Stadthaus u. ſ. w. allem Volke beſtändig offen zu halten,
und dem Künſtler von ſeiner Seite ſchwebt nur dieß unbefangene Ge-
ſammt-Subject vor, es ſind aller Augen, die auf ihn warten,
es iſt nicht die Lorgnette launiſcher Einzelner, die er zu berück-
ſichtigen hat und welche die Freudigkeit ſeines geheimen Schaffens ſtört.
Geht die Beſtellung, einen Wettſtreit eröffnend, an mehrere Künſtler, ſo
fällt ohnedieß alles wirkliche oder vorgeſtellte Dareinreden weg, denn
da iſt vorausgeſetzt, daß derſelbe Gegenſtand auf verſchiedene Weiſe be-
handelt werden könne, und erſt auf die Vergleichung der vollendeten Werke
gründen die Beſteller und Schiedsrichter ihr Urtheil.

§. 505.

Anders iſt es, wenn der vom nationalen Boden entwurzelten Kunſt die
vollendete Trennung von Volk und höherer Geſellſchaft gegenüberſteht: jetzt wird
der Künſtler in der Darſtellung von Stoffen, die dem Volksbewußtſein fremd
ſind, von dem gelehrteren Geſichtskreiſe und der Willkühr Einzelner, in der
Auffaßungsweiſe von der Convenienz und Ueppigkeit, in der Compoſition von
der Einrede eitler Kennerſchaft abhängig.

Dieſer §. faßt Zuſtände zuſammen, die im Allgemeinen als Verfall
zu bezeichnen ſind. An der Grenze derſelben liegen allerdings gewiſſe
Uebergänge, wo zunächſt trotz der veränderten Stellung der Kunſt die
Stoffe noch dem Volke verſtändlich bleiben und demgemäß auch zwiſchen
der Behandlung des Künſtlers und dem Volksbewußtſein noch ein Band
bleibt, das ſich aber allmählich lockert. Als in Griechenland zur Zeit
Alexanders des Großen die Kunſt anfieng, dem Despotismus dienſtbar zu
werden, blieb ſie doch verhältnißmäßig noch öffentlich, dem Volke ver-
ſtändlich. Die Stoffe wurden zum größeren Theil noch dem geläufigen
Kreiſe des Mythus und der Heroenſage entnommen. Freilich rieß nun
auch die ſchmeichleriſche Verherrlichung der Perſon der Fürſten ein und
ſofern ſich die Kunſt zu dieſem herrſchenden Stoffe beſtellungsweiſe her-
gab, war, ſobald nicht wirkliche Größe dieſer Perſon den Künſtler ſo
ſtellte, daß er in ihr ſelbſt ein Allgemeines, eben das Volksbewußtſein, aus-

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[60/0072] Rede iſt, am wenigſten ein. Der öffentliche und volksthümliche Charakter des Lebens äußert ſich auch darin, daß die Beſtellungen vom Staat, von einer Stadt, Corporation, einem Kloſter u. ſ. w. ausgehen; die Gemein- ſchaft aber iſt ein Theil des Volks und in naiver Zeit ſo wenig kritlich, als dieſes; man beſtellt und läßt dann den Künſtler frei gebahren, man vertraut ihm, daß er es recht machen werde, man beſtellt zunächſt für ſich, doch nicht um das Kunſtwerk einzuſperren, ſondern um es in Tempel, Kirche, Halle Rath- und Stadthaus u. ſ. w. allem Volke beſtändig offen zu halten, und dem Künſtler von ſeiner Seite ſchwebt nur dieß unbefangene Ge- ſammt-Subject vor, es ſind aller Augen, die auf ihn warten, es iſt nicht die Lorgnette launiſcher Einzelner, die er zu berück- ſichtigen hat und welche die Freudigkeit ſeines geheimen Schaffens ſtört. Geht die Beſtellung, einen Wettſtreit eröffnend, an mehrere Künſtler, ſo fällt ohnedieß alles wirkliche oder vorgeſtellte Dareinreden weg, denn da iſt vorausgeſetzt, daß derſelbe Gegenſtand auf verſchiedene Weiſe be- handelt werden könne, und erſt auf die Vergleichung der vollendeten Werke gründen die Beſteller und Schiedsrichter ihr Urtheil. §. 505. Anders iſt es, wenn der vom nationalen Boden entwurzelten Kunſt die vollendete Trennung von Volk und höherer Geſellſchaft gegenüberſteht: jetzt wird der Künſtler in der Darſtellung von Stoffen, die dem Volksbewußtſein fremd ſind, von dem gelehrteren Geſichtskreiſe und der Willkühr Einzelner, in der Auffaßungsweiſe von der Convenienz und Ueppigkeit, in der Compoſition von der Einrede eitler Kennerſchaft abhängig. Dieſer §. faßt Zuſtände zuſammen, die im Allgemeinen als Verfall zu bezeichnen ſind. An der Grenze derſelben liegen allerdings gewiſſe Uebergänge, wo zunächſt trotz der veränderten Stellung der Kunſt die Stoffe noch dem Volke verſtändlich bleiben und demgemäß auch zwiſchen der Behandlung des Künſtlers und dem Volksbewußtſein noch ein Band bleibt, das ſich aber allmählich lockert. Als in Griechenland zur Zeit Alexanders des Großen die Kunſt anfieng, dem Despotismus dienſtbar zu werden, blieb ſie doch verhältnißmäßig noch öffentlich, dem Volke ver- ſtändlich. Die Stoffe wurden zum größeren Theil noch dem geläufigen Kreiſe des Mythus und der Heroenſage entnommen. Freilich rieß nun auch die ſchmeichleriſche Verherrlichung der Perſon der Fürſten ein und ſofern ſich die Kunſt zu dieſem herrſchenden Stoffe beſtellungsweiſe her- gab, war, ſobald nicht wirkliche Größe dieſer Perſon den Künſtler ſo ſtellte, daß er in ihr ſelbſt ein Allgemeines, eben das Volksbewußtſein, aus-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/72>, abgerufen am 13.11.2024.