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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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interessant, der Effect ist Zweck, die Grazie wird zum Sinnenreiz, der
gefälligen Ausbildung des Einzelnen die Strenge der Composition geopfert,
die Idee unter prachtvoller Ueberladung erstickt, an die Stelle des innerlich
Großen das äußerlich Colossale gesetzt. Alle diese Züge haben in dem
Uebergewichte des Subjectiven über das objective Gewicht der Sache ihren
schließlichen Grund und fassen sich im Begriffe der Manier zusammen.
Wir müssen hier nur Eines der ausgesprochenen Merkmale näher ins
Auge fassen: das "Fortgehen bis an die ästhetische Grenze der Naturtreue"
und den "Naturalismus." Es hat dieß zunächst den doppelten Sinn,
daß mehr Stoff aus der wirklichen Welt und Geschichte in den Kreis der
Kunst gezogen wird (Lysippus: Alexander und seine Helden, Schule von
Pergamon: Keltenschlachten) und daß mehrere Seiten der Erscheinung des
Naturschönen in die Darstellung aufgenommen werden, als der frühere
Styl mit dem Adel des Ideals vereinbar hielt (Porträtzüge, Adern, Sehnen,
Muskelbildungen); dieß führt später dahin, daß die gemeine Natur ohne
Idealität sich eindrängt, was hier Naturalismus heißt. Allein in dieser
Wendung liegt allerdings von der andern Seite der Keim eines neuen
Ideals, also Styls, genau, wie in der altniederländischen Malerei in
derselben Aufnahme des Porträt- und Genre-artigen in das religiöse
Ideal mit dem Verfalle des letzteren zugleich der Aufgang eines neuen
sich kund gibt. Dieß zugleich ein Zug zur Erläuterung jener obigen
Bemerkung über "verschiedene Breite und Schwierigkeitsgrade der Ver-
wicklung" u. s. w. -- Uebrigens haben wir hier die Hauptzüge der
Geschichte der griechischen Plastik als einer prototypisch exemplarischen,
absolut instructiven Entwicklung zu Grunde gelegt, dasselbe Gesetz an der
griechischen Baukunst und Dichtkunst (Aeschylos, Sophokles, Euripides
und Aristophanes) nachzuweisen wäre leicht und die höchst interessante
Parallele der Geschichte der Malerei in Italien hat schon Winkelmann
berührt.

5.
Der Styl als Gesetz der einzelnen Künste.
§. 532.

Die Kunst kann nicht als abstract Allgemeines wirklich sein, sondern
muß sich in Künste und deren Zweige gliedern. Hiedurch erhält der Begriff
des Styls eine neue Bedeutung; er bezeichnet die Auffassung, wie sie der ein-
zelnen Kunst und einem einzelnen ihrer Zweige zu Grunde liegend sich in einer
bestimmten Technik niederlegt und stehend constituirt. Ein besonderer Accent

intereſſant, der Effect iſt Zweck, die Grazie wird zum Sinnenreiz, der
gefälligen Ausbildung des Einzelnen die Strenge der Compoſition geopfert,
die Idee unter prachtvoller Ueberladung erſtickt, an die Stelle des innerlich
Großen das äußerlich Coloſſale geſetzt. Alle dieſe Züge haben in dem
Uebergewichte des Subjectiven über das objective Gewicht der Sache ihren
ſchließlichen Grund und faſſen ſich im Begriffe der Manier zuſammen.
Wir müſſen hier nur Eines der ausgeſprochenen Merkmale näher ins
Auge faſſen: das „Fortgehen bis an die äſthetiſche Grenze der Naturtreue“
und den „Naturalismus.“ Es hat dieß zunächſt den doppelten Sinn,
daß mehr Stoff aus der wirklichen Welt und Geſchichte in den Kreis der
Kunſt gezogen wird (Lyſippus: Alexander und ſeine Helden, Schule von
Pergamon: Keltenſchlachten) und daß mehrere Seiten der Erſcheinung des
Naturſchönen in die Darſtellung aufgenommen werden, als der frühere
Styl mit dem Adel des Ideals vereinbar hielt (Porträtzüge, Adern, Sehnen,
Muskelbildungen); dieß führt ſpäter dahin, daß die gemeine Natur ohne
Idealität ſich eindrängt, was hier Naturalismus heißt. Allein in dieſer
Wendung liegt allerdings von der andern Seite der Keim eines neuen
Ideals, alſo Styls, genau, wie in der altniederländiſchen Malerei in
derſelben Aufnahme des Porträt- und Genre-artigen in das religiöſe
Ideal mit dem Verfalle des letzteren zugleich der Aufgang eines neuen
ſich kund gibt. Dieß zugleich ein Zug zur Erläuterung jener obigen
Bemerkung über „verſchiedene Breite und Schwierigkeitsgrade der Ver-
wicklung“ u. ſ. w. — Uebrigens haben wir hier die Hauptzüge der
Geſchichte der griechiſchen Plaſtik als einer prototypiſch exemplariſchen,
abſolut inſtructiven Entwicklung zu Grunde gelegt, daſſelbe Geſetz an der
griechiſchen Baukunſt und Dichtkunſt (Aeſchylos, Sophokles, Euripides
und Ariſtophanes) nachzuweiſen wäre leicht und die höchſt intereſſante
Parallele der Geſchichte der Malerei in Italien hat ſchon Winkelmann
berührt.

5.
Der Styl als Geſetz der einzelnen Künſte.
§. 532.

Die Kunſt kann nicht als abſtract Allgemeines wirklich ſein, ſondern
muß ſich in Künſte und deren Zweige gliedern. Hiedurch erhält der Begriff
des Styls eine neue Bedeutung; er bezeichnet die Auffaſſung, wie ſie der ein-
zelnen Kunſt und einem einzelnen ihrer Zweige zu Grunde liegend ſich in einer
beſtimmten Technik niederlegt und ſtehend conſtituirt. Ein beſonderer Accent

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[138/0150] intereſſant, der Effect iſt Zweck, die Grazie wird zum Sinnenreiz, der gefälligen Ausbildung des Einzelnen die Strenge der Compoſition geopfert, die Idee unter prachtvoller Ueberladung erſtickt, an die Stelle des innerlich Großen das äußerlich Coloſſale geſetzt. Alle dieſe Züge haben in dem Uebergewichte des Subjectiven über das objective Gewicht der Sache ihren ſchließlichen Grund und faſſen ſich im Begriffe der Manier zuſammen. Wir müſſen hier nur Eines der ausgeſprochenen Merkmale näher ins Auge faſſen: das „Fortgehen bis an die äſthetiſche Grenze der Naturtreue“ und den „Naturalismus.“ Es hat dieß zunächſt den doppelten Sinn, daß mehr Stoff aus der wirklichen Welt und Geſchichte in den Kreis der Kunſt gezogen wird (Lyſippus: Alexander und ſeine Helden, Schule von Pergamon: Keltenſchlachten) und daß mehrere Seiten der Erſcheinung des Naturſchönen in die Darſtellung aufgenommen werden, als der frühere Styl mit dem Adel des Ideals vereinbar hielt (Porträtzüge, Adern, Sehnen, Muskelbildungen); dieß führt ſpäter dahin, daß die gemeine Natur ohne Idealität ſich eindrängt, was hier Naturalismus heißt. Allein in dieſer Wendung liegt allerdings von der andern Seite der Keim eines neuen Ideals, alſo Styls, genau, wie in der altniederländiſchen Malerei in derſelben Aufnahme des Porträt- und Genre-artigen in das religiöſe Ideal mit dem Verfalle des letzteren zugleich der Aufgang eines neuen ſich kund gibt. Dieß zugleich ein Zug zur Erläuterung jener obigen Bemerkung über „verſchiedene Breite und Schwierigkeitsgrade der Ver- wicklung“ u. ſ. w. — Uebrigens haben wir hier die Hauptzüge der Geſchichte der griechiſchen Plaſtik als einer prototypiſch exemplariſchen, abſolut inſtructiven Entwicklung zu Grunde gelegt, daſſelbe Geſetz an der griechiſchen Baukunſt und Dichtkunſt (Aeſchylos, Sophokles, Euripides und Ariſtophanes) nachzuweiſen wäre leicht und die höchſt intereſſante Parallele der Geſchichte der Malerei in Italien hat ſchon Winkelmann berührt. 5. Der Styl als Geſetz der einzelnen Künſte. §. 532. Die Kunſt kann nicht als abſtract Allgemeines wirklich ſein, ſondern muß ſich in Künſte und deren Zweige gliedern. Hiedurch erhält der Begriff des Styls eine neue Bedeutung; er bezeichnet die Auffaſſung, wie ſie der ein- zelnen Kunſt und einem einzelnen ihrer Zweige zu Grunde liegend ſich in einer beſtimmten Technik niederlegt und ſtehend conſtituirt. Ein beſonderer Accent

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/150>, abgerufen am 21.12.2024.