die Kunst von ihrer Seite ebenfalls an der Entwicklung und Fort- bildung derselben mit. Was nun die Ausbildungsstufen dieses theoreti- schen Bewußtseins betrifft, so sind theils Zeiten, theils Zweige wohl zu unterscheiden. Die Epochen blühender Kunst im Alterthum und Mittelalter haben im Großen und Ganzen mit dem Instinct und einzelnen Regeln ausgereicht, erst an der Grenze des höchsten Schwungs hat sich ein wissenschaftliches Bewußtsein über die Gesetze der darzustellenden Natur (namentlich Anatomie), des Materials, der Technik ausgebildet. Unsere und jede künftige Zeit aber trifft die Wissenschaft bereits ausgebildet an, der Schüler muß sie, soweit sie sich auf die Kunst bezieht, durcharbeiten, wobei er die Erleichterung, die sie ihm verschafft, mit einer Gefahr bezahlt, welche demnächst zur Sprache kommen muß. Unterscheidet man jedoch verschiedene Zweige, so erscheint dieser Gegensatz der Zeiten zunächst wieder beschränkt. In einigen der ersteren nämlich muß allerdings schon in der instinctiven Zeit ein theoretisches Bewußtsein vorhanden sein: ohne geomet- rische, mechanische, statische Kenntniße läßt sich überhaupt nicht bauen, einige mineralogische, statische Kenntnisse, ein Bewußtsein über die Proportionen des menschlichen Körpers setzt die Bildhauerkunst voraus, über den Rhythmus in Musik und Poesie entwickeln sich Begriffe und die Malerei kann ohne die Kenntniß der Perspective sich nicht als selbständige Kunstform ausbilden. Von einem systematischen Ausbau dieser Wissenschaften kann jedoch in den Epochen, deren blühende Kunst auf einer naiven Cultur ruht, nicht die Rede sein und ebenso beschränkt ist das theoretische Bewußtsein seiner Aus- dehnung nach: es gibt z. B. keine Farbenlehre, keine Anatomie; Mathematik und Physik haben wesentliche Zweige, die jetzt zur Propädeutik des Künstlers gehören, noch gar nicht getrieben und diese qualitativen und quantitativen Lücken sind nur der Ausdruck einer noch unentwickelten Reflexionsbildung, wodurch der oben ausgesprochene Gegensatz im Ganzen und Großen sich wiederherstellt.
b. Die Schule.
§. 517.
Tritt nun die Phantasie auf den so vorbereiteten Boden ein, so findet sie ihre Arbeit am Materiale zwar erleichtert, aber sie hat dem auf andern Gebieten Erlernten einen völlig neuen Geist einzugießen. Dieser Schöpfung stellt sich das Material unendlich spröder entgegen, als den in §. 514--516 voraus- gesetzten Thätigkeiten: es beengt durch die sinnliche Ausschließlichkeit seiner Natur die Freiheit der Erfindung und es sträubt sich, die flüßig lebendige Form in sich aufzunehmen.
die Kunſt von ihrer Seite ebenfalls an der Entwicklung und Fort- bildung derſelben mit. Was nun die Ausbildungsſtufen dieſes theoreti- ſchen Bewußtſeins betrifft, ſo ſind theils Zeiten, theils Zweige wohl zu unterſcheiden. Die Epochen blühender Kunſt im Alterthum und Mittelalter haben im Großen und Ganzen mit dem Inſtinct und einzelnen Regeln ausgereicht, erſt an der Grenze des höchſten Schwungs hat ſich ein wiſſenſchaftliches Bewußtſein über die Geſetze der darzuſtellenden Natur (namentlich Anatomie), des Materials, der Technik ausgebildet. Unſere und jede künftige Zeit aber trifft die Wiſſenſchaft bereits ausgebildet an, der Schüler muß ſie, ſoweit ſie ſich auf die Kunſt bezieht, durcharbeiten, wobei er die Erleichterung, die ſie ihm verſchafft, mit einer Gefahr bezahlt, welche demnächſt zur Sprache kommen muß. Unterſcheidet man jedoch verſchiedene Zweige, ſo erſcheint dieſer Gegenſatz der Zeiten zunächſt wieder beſchränkt. In einigen der erſteren nämlich muß allerdings ſchon in der inſtinctiven Zeit ein theoretiſches Bewußtſein vorhanden ſein: ohne geomet- riſche, mechaniſche, ſtatiſche Kenntniße läßt ſich überhaupt nicht bauen, einige mineralogiſche, ſtatiſche Kenntniſſe, ein Bewußtſein über die Proportionen des menſchlichen Körpers ſetzt die Bildhauerkunſt voraus, über den Rhythmus in Muſik und Poeſie entwickeln ſich Begriffe und die Malerei kann ohne die Kenntniß der Perſpective ſich nicht als ſelbſtändige Kunſtform ausbilden. Von einem ſyſtematiſchen Ausbau dieſer Wiſſenſchaften kann jedoch in den Epochen, deren blühende Kunſt auf einer naiven Cultur ruht, nicht die Rede ſein und ebenſo beſchränkt iſt das theoretiſche Bewußtſein ſeiner Aus- dehnung nach: es gibt z. B. keine Farbenlehre, keine Anatomie; Mathematik und Phyſik haben weſentliche Zweige, die jetzt zur Propädeutik des Künſtlers gehören, noch gar nicht getrieben und dieſe qualitativen und quantitativen Lücken ſind nur der Ausdruck einer noch unentwickelten Reflexionsbildung, wodurch der oben ausgeſprochene Gegenſatz im Ganzen und Großen ſich wiederherſtellt.
β. Die Schule.
§. 517.
Tritt nun die Phantaſie auf den ſo vorbereiteten Boden ein, ſo findet ſie ihre Arbeit am Materiale zwar erleichtert, aber ſie hat dem auf andern Gebieten Erlernten einen völlig neuen Geiſt einzugießen. Dieſer Schöpfung ſtellt ſich das Material unendlich ſpröder entgegen, als den in §. 514—516 voraus- geſetzten Thätigkeiten: es beengt durch die ſinnliche Ausſchließlichkeit ſeiner Natur die Freiheit der Erfindung und es ſträubt ſich, die flüßig lebendige Form in ſich aufzunehmen.
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die Kunſt von ihrer Seite ebenfalls an der Entwicklung und Fort-
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ſchen Bewußtſeins betrifft, ſo ſind theils Zeiten, theils Zweige wohl
zu unterſcheiden. Die Epochen blühender Kunſt im Alterthum und
Mittelalter haben im Großen und Ganzen mit dem Inſtinct und einzelnen
Regeln ausgereicht, erſt an der Grenze des höchſten Schwungs hat ſich ein
wiſſenſchaftliches Bewußtſein über die Geſetze der darzuſtellenden Natur
(namentlich Anatomie), des Materials, der Technik ausgebildet. Unſere
und jede künftige Zeit aber trifft die Wiſſenſchaft bereits ausgebildet an,
der Schüler muß ſie, ſoweit ſie ſich auf die Kunſt bezieht, durcharbeiten,
wobei er die Erleichterung, die ſie ihm verſchafft, mit einer Gefahr bezahlt,
welche demnächſt zur Sprache kommen muß. Unterſcheidet man jedoch
verſchiedene Zweige, ſo erſcheint dieſer Gegenſatz der Zeiten zunächſt wieder
beſchränkt. In einigen der erſteren nämlich muß allerdings ſchon in der
inſtinctiven Zeit ein theoretiſches Bewußtſein vorhanden ſein: ohne geomet-
riſche, mechaniſche, ſtatiſche Kenntniße läßt ſich überhaupt nicht bauen, einige
mineralogiſche, ſtatiſche Kenntniſſe, ein Bewußtſein über die Proportionen
des menſchlichen Körpers ſetzt die Bildhauerkunſt voraus, über den Rhythmus
in Muſik und Poeſie entwickeln ſich Begriffe und die Malerei kann ohne
die Kenntniß der Perſpective ſich nicht als ſelbſtändige Kunſtform ausbilden.
Von einem ſyſtematiſchen Ausbau dieſer Wiſſenſchaften kann jedoch in
den Epochen, deren blühende Kunſt auf einer naiven Cultur ruht, nicht
die Rede ſein und ebenſo beſchränkt iſt das theoretiſche Bewußtſein ſeiner Aus-
dehnung nach: es gibt z. B. keine Farbenlehre, keine Anatomie; Mathematik
und Phyſik haben weſentliche Zweige, die jetzt zur Propädeutik des Künſtlers
gehören, noch gar nicht getrieben und dieſe qualitativen und quantitativen Lücken
ſind nur der Ausdruck einer noch unentwickelten Reflexionsbildung, wodurch
der oben ausgeſprochene Gegenſatz im Ganzen und Großen ſich wiederherſtellt.
β.
Die Schule.
§. 517.
Tritt nun die Phantaſie auf den ſo vorbereiteten Boden ein, ſo findet ſie
ihre Arbeit am Materiale zwar erleichtert, aber ſie hat dem auf andern Gebieten
Erlernten einen völlig neuen Geiſt einzugießen. Dieſer Schöpfung ſtellt ſich
das Material unendlich ſpröder entgegen, als den in §. 514—516 voraus-
geſetzten Thätigkeiten: es beengt durch die ſinnliche Ausſchließlichkeit ſeiner
Natur die Freiheit der Erfindung und es ſträubt ſich, die flüßig lebendige
Form in ſich aufzunehmen.
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/107>, abgerufen am 17.02.2025.
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