Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

Bild:
<< vorherige Seite

mentalität hineingelegt hat. Buttler in der Dragoner-Uniform jener Zeit
ist ein Mensch aus Einem Stück, Max als Pappenheimer-Oberst ein
Unding. -- Endlich soll auch die umgebende Natur, freilich aber nicht bis zur
Gelehrsamkeit des Botanikers, Zoologen, Geognosten, mitwirken. Die Winter-
nacht im Hamlet bei der Erscheinung des Geistes, die Nachtigall und der
Granatbaum in Romeo und Julie sind hinreichende Scenerie zu dem nordi-
schen Hauche, der dort, dem südlichen, der hier durch das Ganze geht.

c.
Die Phantasie des Einzelneu.
a.
Die Arten.
§. 401.

Die Wissenschaft kann zunächst nur einen Unterschied von Arten aus
dem allgemeinen Gesetze ableiten, daß jede geistige Thätigkeit als Gabe der
Individuen die in ihr enthaltenen Momente trennend auseinanderlegt. In der
Eintheilung der individuellen Phantasie wiederholen sich daher die Theile des
bisherigen Systems und geben die Eintheilungsgründe für verschiedene Reihen
von Arten. Diese Reihen können aber in unendliche Verbindungen unter sich treten.

Kein ächter Günstling des Schönen hat eine Phantasie wie der
andere; so gewiß diese die Blüthe sämmtlicher, nur in ihm so verschlun-
gener Kräfte der Persönlichkeit ist, so gewiß ist er an einem nur ihm
eigenen Zuge in seinen Gebilden zu erkennen. Dieß kann nun so wenig,
als der Zufall überhaupt, durch den Begriff vorausbestimmt werden.
Wohl aber lassen sich die Arten der Phantasie bestimmen und eintheilen.
Es muß deren so viele geben, als das bisherige System in seinen einzel-
nen Theilen Momente unterscheidet. Indem wir diese Eintheilung vor-
nehmen, ist nur vorauszuschicken, daß diejenigen Unterschiede hier noch
keineswegs aufgeführt werden dürfen, welche dem geschichtlichen Bildungs-
gange der Phantasie im Großen angehören. Wir werden in der jetzigen
Eintheilung zwar vielfache Arten der Phantasie berühren, welche in der
Geschichte der Phantasie sich zu Hauptgestalten des Ideals ausbreiten;
allein diese sind als geschichtliche anders abzuleiten und was die Zeiten
im Großen unterscheidet, beschäftigt uns jetzt nur als ein Unterschied indi-
vidueller Organisation, wie er gleichzeitig überall vorkommen kann.

mentalität hineingelegt hat. Buttler in der Dragoner-Uniform jener Zeit
iſt ein Menſch aus Einem Stück, Max als Pappenheimer-Oberſt ein
Unding. — Endlich ſoll auch die umgebende Natur, freilich aber nicht bis zur
Gelehrſamkeit des Botanikers, Zoologen, Geognoſten, mitwirken. Die Winter-
nacht im Hamlet bei der Erſcheinung des Geiſtes, die Nachtigall und der
Granatbaum in Romeo und Julie ſind hinreichende Scenerie zu dem nordi-
ſchen Hauche, der dort, dem ſüdlichen, der hier durch das Ganze geht.

c.
Die Phantaſie des Einzelneu.
α.
Die Arten.
§. 401.

Die Wiſſenſchaft kann zunächſt nur einen Unterſchied von Arten aus
dem allgemeinen Geſetze ableiten, daß jede geiſtige Thätigkeit als Gabe der
Individuen die in ihr enthaltenen Momente trennend auseinanderlegt. In der
Eintheilung der individuellen Phantaſie wiederholen ſich daher die Theile des
bisherigen Syſtems und geben die Eintheilungsgründe für verſchiedene Reihen
von Arten. Dieſe Reihen können aber in unendliche Verbindungen unter ſich treten.

Kein ächter Günſtling des Schönen hat eine Phantaſie wie der
andere; ſo gewiß dieſe die Blüthe ſämmtlicher, nur in ihm ſo verſchlun-
gener Kräfte der Perſönlichkeit iſt, ſo gewiß iſt er an einem nur ihm
eigenen Zuge in ſeinen Gebilden zu erkennen. Dieß kann nun ſo wenig,
als der Zufall überhaupt, durch den Begriff vorausbeſtimmt werden.
Wohl aber laſſen ſich die Arten der Phantaſie beſtimmen und eintheilen.
Es muß deren ſo viele geben, als das bisherige Syſtem in ſeinen einzel-
nen Theilen Momente unterſcheidet. Indem wir dieſe Eintheilung vor-
nehmen, iſt nur vorauszuſchicken, daß diejenigen Unterſchiede hier noch
keineswegs aufgeführt werden dürfen, welche dem geſchichtlichen Bildungs-
gange der Phantaſie im Großen angehören. Wir werden in der jetzigen
Eintheilung zwar vielfache Arten der Phantaſie berühren, welche in der
Geſchichte der Phantaſie ſich zu Hauptgeſtalten des Ideals ausbreiten;
allein dieſe ſind als geſchichtliche anders abzuleiten und was die Zeiten
im Großen unterſcheidet, beſchäftigt uns jetzt nur als ein Unterſchied indi-
vidueller Organiſation, wie er gleichzeitig überall vorkommen kann.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0084" n="370"/>
mentalität hineingelegt hat. Buttler in der Dragoner-Uniform jener Zeit<lb/>
i&#x017F;t ein Men&#x017F;ch aus Einem Stück, Max als Pappenheimer-Ober&#x017F;t ein<lb/>
Unding. &#x2014; Endlich &#x017F;oll auch die umgebende Natur, freilich aber nicht bis zur<lb/>
Gelehr&#x017F;amkeit des Botanikers, Zoologen, Geogno&#x017F;ten, mitwirken. Die Winter-<lb/>
nacht im Hamlet bei der Er&#x017F;cheinung des Gei&#x017F;tes, die Nachtigall und der<lb/>
Granatbaum in Romeo und Julie &#x017F;ind hinreichende Scenerie zu dem nordi-<lb/>
&#x017F;chen Hauche, der dort, dem &#x017F;üdlichen, der hier durch das Ganze geht.</hi> </p>
                </div>
              </div>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">c.</hi><lb/><hi rendition="#g">Die Phanta&#x017F;ie des Einzelneu</hi>.</hi> </head><lb/>
              <div n="5">
                <head><hi rendition="#i">&#x03B1;</hi>.<lb/>
Die Arten.</head><lb/>
                <div n="6">
                  <head>§. 401.</head><lb/>
                  <p> <hi rendition="#fr">Die Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft kann zunäch&#x017F;t nur einen Unter&#x017F;chied von <hi rendition="#g">Arten</hi> aus<lb/>
dem allgemeinen Ge&#x017F;etze ableiten, daß jede gei&#x017F;tige Thätigkeit als Gabe der<lb/>
Individuen die in ihr enthaltenen Momente trennend auseinanderlegt. In der<lb/>
Eintheilung der individuellen Phanta&#x017F;ie wiederholen &#x017F;ich daher die Theile des<lb/>
bisherigen Sy&#x017F;tems und geben die Eintheilungsgründe für ver&#x017F;chiedene Reihen<lb/>
von Arten. Die&#x017F;e Reihen können aber in unendliche Verbindungen unter &#x017F;ich treten.</hi> </p><lb/>
                  <p> <hi rendition="#et">Kein ächter Gün&#x017F;tling des Schönen hat eine Phanta&#x017F;ie wie der<lb/>
andere; &#x017F;o gewiß die&#x017F;e die Blüthe &#x017F;ämmtlicher, nur in ihm <hi rendition="#g">&#x017F;o</hi> ver&#x017F;chlun-<lb/>
gener Kräfte der Per&#x017F;önlichkeit i&#x017F;t, &#x017F;o gewiß i&#x017F;t er an einem nur ihm<lb/>
eigenen Zuge in &#x017F;einen Gebilden zu erkennen. Dieß kann nun &#x017F;o wenig,<lb/>
als der Zufall überhaupt, durch den Begriff vorausbe&#x017F;timmt werden.<lb/>
Wohl aber la&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich die Arten der Phanta&#x017F;ie be&#x017F;timmen und eintheilen.<lb/>
Es muß deren &#x017F;o viele geben, als das bisherige Sy&#x017F;tem in &#x017F;einen einzel-<lb/>
nen Theilen Momente unter&#x017F;cheidet. Indem wir die&#x017F;e Eintheilung vor-<lb/>
nehmen, i&#x017F;t nur vorauszu&#x017F;chicken, daß diejenigen Unter&#x017F;chiede hier noch<lb/>
keineswegs aufgeführt werden dürfen, welche dem ge&#x017F;chichtlichen Bildungs-<lb/>
gange der Phanta&#x017F;ie im Großen angehören. Wir werden in der jetzigen<lb/>
Eintheilung zwar vielfache Arten der Phanta&#x017F;ie berühren, welche in der<lb/>
Ge&#x017F;chichte der Phanta&#x017F;ie &#x017F;ich zu Hauptge&#x017F;talten des Ideals ausbreiten;<lb/>
allein die&#x017F;e &#x017F;ind als ge&#x017F;chichtliche anders abzuleiten und was die Zeiten<lb/>
im Großen unter&#x017F;cheidet, be&#x017F;chäftigt uns jetzt nur als ein Unter&#x017F;chied indi-<lb/>
vidueller Organi&#x017F;ation, wie er gleichzeitig überall vorkommen kann.<lb/></hi> </p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[370/0084] mentalität hineingelegt hat. Buttler in der Dragoner-Uniform jener Zeit iſt ein Menſch aus Einem Stück, Max als Pappenheimer-Oberſt ein Unding. — Endlich ſoll auch die umgebende Natur, freilich aber nicht bis zur Gelehrſamkeit des Botanikers, Zoologen, Geognoſten, mitwirken. Die Winter- nacht im Hamlet bei der Erſcheinung des Geiſtes, die Nachtigall und der Granatbaum in Romeo und Julie ſind hinreichende Scenerie zu dem nordi- ſchen Hauche, der dort, dem ſüdlichen, der hier durch das Ganze geht. c. Die Phantaſie des Einzelneu. α. Die Arten. §. 401. Die Wiſſenſchaft kann zunächſt nur einen Unterſchied von Arten aus dem allgemeinen Geſetze ableiten, daß jede geiſtige Thätigkeit als Gabe der Individuen die in ihr enthaltenen Momente trennend auseinanderlegt. In der Eintheilung der individuellen Phantaſie wiederholen ſich daher die Theile des bisherigen Syſtems und geben die Eintheilungsgründe für verſchiedene Reihen von Arten. Dieſe Reihen können aber in unendliche Verbindungen unter ſich treten. Kein ächter Günſtling des Schönen hat eine Phantaſie wie der andere; ſo gewiß dieſe die Blüthe ſämmtlicher, nur in ihm ſo verſchlun- gener Kräfte der Perſönlichkeit iſt, ſo gewiß iſt er an einem nur ihm eigenen Zuge in ſeinen Gebilden zu erkennen. Dieß kann nun ſo wenig, als der Zufall überhaupt, durch den Begriff vorausbeſtimmt werden. Wohl aber laſſen ſich die Arten der Phantaſie beſtimmen und eintheilen. Es muß deren ſo viele geben, als das bisherige Syſtem in ſeinen einzel- nen Theilen Momente unterſcheidet. Indem wir dieſe Eintheilung vor- nehmen, iſt nur vorauszuſchicken, daß diejenigen Unterſchiede hier noch keineswegs aufgeführt werden dürfen, welche dem geſchichtlichen Bildungs- gange der Phantaſie im Großen angehören. Wir werden in der jetzigen Eintheilung zwar vielfache Arten der Phantaſie berühren, welche in der Geſchichte der Phantaſie ſich zu Hauptgeſtalten des Ideals ausbreiten; allein dieſe ſind als geſchichtliche anders abzuleiten und was die Zeiten im Großen unterſcheidet, beſchäftigt uns jetzt nur als ein Unterſchied indi- vidueller Organiſation, wie er gleichzeitig überall vorkommen kann.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/84
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 370. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/84>, abgerufen am 21.11.2024.