Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.
Anlage getränkter Zustände, großer Momente der Geschichte und bewe- §. 484. Nachdem die empfindende Phantasie in mächtigen Klängen das Ringen Die romantische Schule hatte freilich auch ihren großen Musiker;
Anlage getränkter Zuſtände, großer Momente der Geſchichte und bewe- §. 484. Nachdem die empfindende Phantaſie in mächtigen Klängen das Ringen Die romantiſche Schule hatte freilich auch ihren großen Muſiker; <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0237" n="523"/> Anlage getränkter Zuſtände, großer Momente der Geſchichte und bewe-<lb/> gungsvoll maleriſcher Darſtellung derſelben. Vereinzelter, nachdenklicher,<lb/> die pſychologiſch behandelte ruhige Situation der bewegten Handlung vor-<lb/> ziehend folgten die Deutſchen, namentlich Leſſing. Ihnen fehlt noch vor<lb/> Allem der Sinn für die Spitze und Schneide des Moments und der Le-<lb/> benswärme. Beides fließt daraus, daß ſie das Mythiſche nicht laſſen<lb/> wollen, durch deſſen Einmiſchung ſelbſt Kaulbach großartig empfangene<lb/> weltgeſchichtliche Stoffe verderbt.</hi> </p> </div><lb/> <div n="6"> <head>§. 484.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Nachdem die <hi rendition="#g">empfindende</hi> Phantaſie in mächtigen Klängen das Ringen<lb/> des neuen Geiſtes ausgeſprochen, dann in Prunk und Wirkung auf Effect ver-<lb/> ſunken, hat die <hi rendition="#g">dichtende</hi> vorzüglich in ihrer bildenden Form durch den engli-<lb/> ſchen, deutſchen, franzöſiſchen Geiſt das ſoziale Leben im Sinne des modernen<lb/> Ideals ergriffen, in ihre übrigen Formen aber hat ſich, mit Ausnahme glück-<lb/> lichen komiſchen Talents im franzöſiſchen Volke, beſonders ſichtbar dasjenige<lb/> eingedrängt, was übrigens aller Thätigkeit der Phantaſie in einer unruhig ſtre-<lb/> benden Zeit nahe liegt, die <hi rendition="#g">Tendenz</hi>: eine äſthetiſch unzuläſſige Auffaſſung<lb/> im Sinne des Intereſſes (vergl. §. 56 — 60. 75. 76).</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">Die romantiſche Schule hatte freilich auch ihren großen Muſiker;<lb/> wir heben aber einzelne Erſcheinungen nur da hervor, wo es der<lb/> bezeichnenden wenige gibt, und ſo mußte hier Beethoven, dieſer muſika-<lb/> liſche Prophet, angedeutet werden. Leere Süßigkeit, Lärm, Knalleffect,<lb/> Prahlerei wird hierauf von glänzenden italieniſchen und franzöſiſchen Ta-<lb/> lenten eingeführt. In der dichtenden Phantaſie war es der bildenden Art<lb/> (dem Roman) am leichteſten, ächt moderne Richtung zu nehmen; der<lb/> hiſtoriſche, der ſoziale Roman iſt von großen Talenten angebaut worden.<lb/> Statt die engliſchen, deutſchen, franzöſiſchen Talente zu zählen, nennen<lb/> wir nur die edle G. Sand. Ehe wir nun von der Tendenz ſprechen,<lb/> welche freilich in alle Arten der Phantaſie, ſelbſt in die bildende (Hüb-<lb/> ners Tendenzbilder), vorzüglich aber in die ſubjectiv bewegten Formen<lb/> der dichtenden, die lyriſche und dramatiſche, ſich eindrängen mußte, iſt<lb/> als ganze und ächt äſthetiſche Erſcheinung das komödiſche Talent der<lb/> Franzoſen zu erwähnen, zwar abſtract in der Charakterbildung, aber voll<lb/> Kraft, eine geſellige Lebensfrage mit raſchem Blick zu erfaſſen, zu leb-<lb/> hafter Wirkung zu ſpannen. Daß übrigens in den verſchiedenſten Sphären<lb/> die unorganiſch komiſche Form, die Satyre, zeitgemäß wirken kann und<lb/> muß, ja beſonders fetten Boden hat in kritiſcher Zeit, dieß folgt von<lb/> ſelbſt aus dem, was über ihre Natur ſchon geſagt iſt. Die Tendenz-<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [523/0237]
Anlage getränkter Zuſtände, großer Momente der Geſchichte und bewe-
gungsvoll maleriſcher Darſtellung derſelben. Vereinzelter, nachdenklicher,
die pſychologiſch behandelte ruhige Situation der bewegten Handlung vor-
ziehend folgten die Deutſchen, namentlich Leſſing. Ihnen fehlt noch vor
Allem der Sinn für die Spitze und Schneide des Moments und der Le-
benswärme. Beides fließt daraus, daß ſie das Mythiſche nicht laſſen
wollen, durch deſſen Einmiſchung ſelbſt Kaulbach großartig empfangene
weltgeſchichtliche Stoffe verderbt.
§. 484.
Nachdem die empfindende Phantaſie in mächtigen Klängen das Ringen
des neuen Geiſtes ausgeſprochen, dann in Prunk und Wirkung auf Effect ver-
ſunken, hat die dichtende vorzüglich in ihrer bildenden Form durch den engli-
ſchen, deutſchen, franzöſiſchen Geiſt das ſoziale Leben im Sinne des modernen
Ideals ergriffen, in ihre übrigen Formen aber hat ſich, mit Ausnahme glück-
lichen komiſchen Talents im franzöſiſchen Volke, beſonders ſichtbar dasjenige
eingedrängt, was übrigens aller Thätigkeit der Phantaſie in einer unruhig ſtre-
benden Zeit nahe liegt, die Tendenz: eine äſthetiſch unzuläſſige Auffaſſung
im Sinne des Intereſſes (vergl. §. 56 — 60. 75. 76).
Die romantiſche Schule hatte freilich auch ihren großen Muſiker;
wir heben aber einzelne Erſcheinungen nur da hervor, wo es der
bezeichnenden wenige gibt, und ſo mußte hier Beethoven, dieſer muſika-
liſche Prophet, angedeutet werden. Leere Süßigkeit, Lärm, Knalleffect,
Prahlerei wird hierauf von glänzenden italieniſchen und franzöſiſchen Ta-
lenten eingeführt. In der dichtenden Phantaſie war es der bildenden Art
(dem Roman) am leichteſten, ächt moderne Richtung zu nehmen; der
hiſtoriſche, der ſoziale Roman iſt von großen Talenten angebaut worden.
Statt die engliſchen, deutſchen, franzöſiſchen Talente zu zählen, nennen
wir nur die edle G. Sand. Ehe wir nun von der Tendenz ſprechen,
welche freilich in alle Arten der Phantaſie, ſelbſt in die bildende (Hüb-
ners Tendenzbilder), vorzüglich aber in die ſubjectiv bewegten Formen
der dichtenden, die lyriſche und dramatiſche, ſich eindrängen mußte, iſt
als ganze und ächt äſthetiſche Erſcheinung das komödiſche Talent der
Franzoſen zu erwähnen, zwar abſtract in der Charakterbildung, aber voll
Kraft, eine geſellige Lebensfrage mit raſchem Blick zu erfaſſen, zu leb-
hafter Wirkung zu ſpannen. Daß übrigens in den verſchiedenſten Sphären
die unorganiſch komiſche Form, die Satyre, zeitgemäß wirken kann und
muß, ja beſonders fetten Boden hat in kritiſcher Zeit, dieß folgt von
ſelbſt aus dem, was über ihre Natur ſchon geſagt iſt. Die Tendenz-
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