Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.
nicht gekannt hätte. Oder die Geschichte: die Griechen hatten eine über- §. 483. Unter diesen Schwierigkeiten sind dennoch bedeutende Anfänge hervorge- Es brauchte nicht ausdrücklich gesagt zu werden, daß hier näher
nicht gekannt hätte. Oder die Geſchichte: die Griechen hatten eine über- §. 483. Unter dieſen Schwierigkeiten ſind dennoch bedeutende Anfänge hervorge- Es brauchte nicht ausdrücklich geſagt zu werden, daß hier näher <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0236" n="522"/> nicht gekannt hätte. Oder die Geſchichte: die Griechen hatten eine über-<lb/> ſchauliche Sagenwelt, das Mittelalter ebenſo, Shakespeare einige Chro-<lb/> niken, einige Novellenſammlungen; der jetzige Künſtler, der in der Lectüre<lb/> einem ſeiner Phantaſie zuſagenden Stoff zu begegnen hofft, wird von<lb/> Bibliotheken, von tauſend Schriften über einen Stoff erdrückt. Es iſt zu<lb/> viel, überall zu viel, die Phantaſie muß das Gleichgewicht verlieren,<lb/> muß im dichten Walde den Weg verfehlen. Ein anderes Feld des Sam-<lb/> melns und Wiſſens aber zeigt der Phantaſie ihre eigene Geſchichte in<lb/> ihren Werken: die Style aller Zeiten und Völker umgeben uns in der<lb/> Literatur, in Muſeen, Kunſtgeſchichten; da wird der Künſtler an ſeiner<lb/> Auffaſſungsweiſe irre, weiß nicht, ſoll er dieſe oder jene nachahmen, ver-<lb/> liert ebenfalls den Boden unter den Füßen. Hat er aber einmal nicht<lb/> links und rechts geſehen und iſt ſeinem Genius gefolgt, ſo fährt die Kritik<lb/> über ihn her, ſteckt ihn nachträglich an, nimmt ihm die Freude.</hi> </p> </div><lb/> <div n="6"> <head>§. 483.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Unter dieſen Schwierigkeiten ſind dennoch bedeutende Anfänge hervorge-<lb/> treten, zuerſt in der <hi rendition="#g">bildenden</hi> Phantaſie, welche in Deutſchland mit einem<lb/> großen Aufſchwung am antiken Ideal, dann am mittelalterlichen ſich erfriſcht<lb/> hat und ſo den Bewegungen der dichtenden gefolgt iſt, hierauf an den freieren<lb/> und größeren Formen, die der italieniſche Genius am Schluſſe des Mittelalters<lb/> geſchaffen (§. 463) ſich begeiſtert, den mythiſchen Schein abgeworfen und mit<lb/> einzelnen kühnen Griffen die urſprüngliche Stoffwelt erfaßt hat. Hierin wurde<lb/> jedoch die deutſche Phantaſie von der feuriger bewegten franzöſiſchen und von<lb/> dem feinen Blicke der belgiſchen theilweiſe wieder überholt.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">Es brauchte nicht ausdrücklich geſagt zu werden, daß hier näher<lb/> von der Phantaſie des maleriſchen Sehens die Rede iſt. Baukunſt und<lb/> Plaſtik konnten nur im formalen Sinne der neuen Bewegung folgen, in-<lb/> dem ſie Dageweſenes rein nachahmten, im Sinne von Dageweſenem<lb/> rein reproduzirten. Warum insbeſondere die Zeit noch keinen Beruf hat,<lb/> einen neuen Bauſtyl zu ſchaffen, wird die Lehre von der Architectur zeigen.<lb/> Die Malerei begann unter den großartigen Einflüſſen des edeln Winkel-<lb/> mann, welche nicht nur die Plaſtik an die reine Quelle zurückführten, mit<lb/> Karſtens, Wächter, Schick die Periode ihrer reineren Claſſicität, folgte<lb/> mit den Nazarenern der romantiſchen Schule, wandte ſich mit Cornelius<lb/> zu Raphael und Mich. Angelo und verharrte, obwohl nun mit natur-<lb/> großen Formen ausgerüſtet, freilich noch im Mythiſchen. Franzoſen (Leop.<lb/> Robert, Delaroche, <choice><sic>Horacc</sic><corr>Horace</corr></choice> Vernet), Belgier (Bi<hi rendition="#aq">è</hi>fve, Gallait, de Kayſer)<lb/> überholten uns in warmer Ergreifung rein menſchlicher, doch mit heroiſcher<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [522/0236]
nicht gekannt hätte. Oder die Geſchichte: die Griechen hatten eine über-
ſchauliche Sagenwelt, das Mittelalter ebenſo, Shakespeare einige Chro-
niken, einige Novellenſammlungen; der jetzige Künſtler, der in der Lectüre
einem ſeiner Phantaſie zuſagenden Stoff zu begegnen hofft, wird von
Bibliotheken, von tauſend Schriften über einen Stoff erdrückt. Es iſt zu
viel, überall zu viel, die Phantaſie muß das Gleichgewicht verlieren,
muß im dichten Walde den Weg verfehlen. Ein anderes Feld des Sam-
melns und Wiſſens aber zeigt der Phantaſie ihre eigene Geſchichte in
ihren Werken: die Style aller Zeiten und Völker umgeben uns in der
Literatur, in Muſeen, Kunſtgeſchichten; da wird der Künſtler an ſeiner
Auffaſſungsweiſe irre, weiß nicht, ſoll er dieſe oder jene nachahmen, ver-
liert ebenfalls den Boden unter den Füßen. Hat er aber einmal nicht
links und rechts geſehen und iſt ſeinem Genius gefolgt, ſo fährt die Kritik
über ihn her, ſteckt ihn nachträglich an, nimmt ihm die Freude.
§. 483.
Unter dieſen Schwierigkeiten ſind dennoch bedeutende Anfänge hervorge-
treten, zuerſt in der bildenden Phantaſie, welche in Deutſchland mit einem
großen Aufſchwung am antiken Ideal, dann am mittelalterlichen ſich erfriſcht
hat und ſo den Bewegungen der dichtenden gefolgt iſt, hierauf an den freieren
und größeren Formen, die der italieniſche Genius am Schluſſe des Mittelalters
geſchaffen (§. 463) ſich begeiſtert, den mythiſchen Schein abgeworfen und mit
einzelnen kühnen Griffen die urſprüngliche Stoffwelt erfaßt hat. Hierin wurde
jedoch die deutſche Phantaſie von der feuriger bewegten franzöſiſchen und von
dem feinen Blicke der belgiſchen theilweiſe wieder überholt.
Es brauchte nicht ausdrücklich geſagt zu werden, daß hier näher
von der Phantaſie des maleriſchen Sehens die Rede iſt. Baukunſt und
Plaſtik konnten nur im formalen Sinne der neuen Bewegung folgen, in-
dem ſie Dageweſenes rein nachahmten, im Sinne von Dageweſenem
rein reproduzirten. Warum insbeſondere die Zeit noch keinen Beruf hat,
einen neuen Bauſtyl zu ſchaffen, wird die Lehre von der Architectur zeigen.
Die Malerei begann unter den großartigen Einflüſſen des edeln Winkel-
mann, welche nicht nur die Plaſtik an die reine Quelle zurückführten, mit
Karſtens, Wächter, Schick die Periode ihrer reineren Claſſicität, folgte
mit den Nazarenern der romantiſchen Schule, wandte ſich mit Cornelius
zu Raphael und Mich. Angelo und verharrte, obwohl nun mit natur-
großen Formen ausgerüſtet, freilich noch im Mythiſchen. Franzoſen (Leop.
Robert, Delaroche, Horace Vernet), Belgier (Bièfve, Gallait, de Kayſer)
überholten uns in warmer Ergreifung rein menſchlicher, doch mit heroiſcher
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