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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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gen soll; es begründet einen menschlich gesunden und scharfen realistischen
Blick, jedoch in jenem Sinne des Alterthums, der die Subjectivität dem
Allgemeinen opferte. Im Drama hätte dieses Volk ohne die Energie
der Reibung dieser so verschiedenartigen Elemente in seinem Charakter
nie die Höhe erreicht, zu der es gelangte, und dennoch bleibt es wahr,
daß ein Volk, das sich so wenig aus dem Mittelalter herauszuarbeiten
vermochte, diese Form der Phantasie nur mit Einschränkungen ausbilden
konnte, die auf ihr Grundwesen drücken. Im weltlichen Drama herrsch-
ten die halb mittelalterlichen, halb modernen Motive der Liebe, Ehre,
Loyalität mit einer Abstractheit, welche die innerste Eigenheit des Indi-
viduums so wenig berücksichtigt, als der römische Staat, im geistlichen
drückt das Jenseits auf den Willen, der nur durch mystische Flucht zu
ihm selbst sich retten kann, und löst sich die Natur in Wunder auf. Da-
gegen ist wieder überall eine Energie, welche trotz diesen Mängeln spannt,
eine maurische Farbenpracht, welche mit ihrer Empfindungsgluth den Man-
gel der Individualität, ihrer freien, unendlichen Eigenheit überdeckt.

b.
Mitte.
§. 476.

Die Mitte der Geschichte dieses Ideals, so weit sie bis jetzt gediehen
ist, bildet eine strenge Zusammenfassung dessen, was die romanischen Völker vom
objectiven Ideale des Alterthums in sich herübergenommen haben, im franzö-
sischen
Geiste, der den Beruf übernimmt, die immer noch rohe germanische Phan-
tasie in die Zucht seiner Regelmäßigkeit und Präcision zu nehmen. Allein die
so zur Norm erhobene Objectivität ist zugleich abstract, seelenlos, mechanisch, hö-
fisch, conventionell, ja durch den fremden Geist frivoler, auf Effect berechnen-
der, sich selbst bespiegelnder Subjectivität entstellt, ist daher falsche Classicität
und bestimmt, die Völker, die bei ihr in die Schule gegangen, zum Gegen-
schlage zu reizen.

Man sieht, wie dieser ästhetische Gang dem politischen (§. 370 ff.)
entspricht. Wie die Monarchie den Beruf hatte, das Mittelalter zu nivelli-
ren, so hatte die französische Classicität den Beruf, die immer noch bar-
barische Phantasie der germanischen Völker unter ihre Dißiplin zu beugen.
Allein dann weicht die Geschichte der Phantasie von der politischen gänz-
lich ab: in dieser reagirten die Franzosen selbst gegen die Despotie, traten
aber auf lange Zeit vom Schauplatz ästhetischer Zeugungskraft ab, in jener
dagegen übernahmen die Deutschen die Revolution gegen das französische

gen ſoll; es begründet einen menſchlich geſunden und ſcharfen realiſtiſchen
Blick, jedoch in jenem Sinne des Alterthums, der die Subjectivität dem
Allgemeinen opferte. Im Drama hätte dieſes Volk ohne die Energie
der Reibung dieſer ſo verſchiedenartigen Elemente in ſeinem Charakter
nie die Höhe erreicht, zu der es gelangte, und dennoch bleibt es wahr,
daß ein Volk, das ſich ſo wenig aus dem Mittelalter herauszuarbeiten
vermochte, dieſe Form der Phantaſie nur mit Einſchränkungen ausbilden
konnte, die auf ihr Grundweſen drücken. Im weltlichen Drama herrſch-
ten die halb mittelalterlichen, halb modernen Motive der Liebe, Ehre,
Loyalität mit einer Abſtractheit, welche die innerſte Eigenheit des Indi-
viduums ſo wenig berückſichtigt, als der römiſche Staat, im geiſtlichen
drückt das Jenſeits auf den Willen, der nur durch myſtiſche Flucht zu
ihm ſelbſt ſich retten kann, und löst ſich die Natur in Wunder auf. Da-
gegen iſt wieder überall eine Energie, welche trotz dieſen Mängeln ſpannt,
eine mauriſche Farbenpracht, welche mit ihrer Empfindungsgluth den Man-
gel der Individualität, ihrer freien, unendlichen Eigenheit überdeckt.

β.
Mitte.
§. 476.

Die Mitte der Geſchichte dieſes Ideals, ſo weit ſie bis jetzt gediehen
iſt, bildet eine ſtrenge Zuſammenfaſſung deſſen, was die romaniſchen Völker vom
objectiven Ideale des Alterthums in ſich herübergenommen haben, im franzö-
ſiſchen
Geiſte, der den Beruf übernimmt, die immer noch rohe germaniſche Phan-
taſie in die Zucht ſeiner Regelmäßigkeit und Präciſion zu nehmen. Allein die
ſo zur Norm erhobene Objectivität iſt zugleich abſtract, ſeelenlos, mechaniſch, hö-
fiſch, conventionell, ja durch den fremden Geiſt frivoler, auf Effect berechnen-
der, ſich ſelbſt beſpiegelnder Subjectivität entſtellt, iſt daher falſche Claſſicität
und beſtimmt, die Völker, die bei ihr in die Schule gegangen, zum Gegen-
ſchlage zu reizen.

Man ſieht, wie dieſer äſthetiſche Gang dem politiſchen (§. 370 ff.)
entſpricht. Wie die Monarchie den Beruf hatte, das Mittelalter zu nivelli-
ren, ſo hatte die franzöſiſche Claſſicität den Beruf, die immer noch bar-
bariſche Phantaſie der germaniſchen Völker unter ihre Diſziplin zu beugen.
Allein dann weicht die Geſchichte der Phantaſie von der politiſchen gänz-
lich ab: in dieſer reagirten die Franzoſen ſelbſt gegen die Deſpotie, traten
aber auf lange Zeit vom Schauplatz äſthetiſcher Zeugungskraft ab, in jener
dagegen übernahmen die Deutſchen die Revolution gegen das franzöſiſche

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[512/0226] gen ſoll; es begründet einen menſchlich geſunden und ſcharfen realiſtiſchen Blick, jedoch in jenem Sinne des Alterthums, der die Subjectivität dem Allgemeinen opferte. Im Drama hätte dieſes Volk ohne die Energie der Reibung dieſer ſo verſchiedenartigen Elemente in ſeinem Charakter nie die Höhe erreicht, zu der es gelangte, und dennoch bleibt es wahr, daß ein Volk, das ſich ſo wenig aus dem Mittelalter herauszuarbeiten vermochte, dieſe Form der Phantaſie nur mit Einſchränkungen ausbilden konnte, die auf ihr Grundweſen drücken. Im weltlichen Drama herrſch- ten die halb mittelalterlichen, halb modernen Motive der Liebe, Ehre, Loyalität mit einer Abſtractheit, welche die innerſte Eigenheit des Indi- viduums ſo wenig berückſichtigt, als der römiſche Staat, im geiſtlichen drückt das Jenſeits auf den Willen, der nur durch myſtiſche Flucht zu ihm ſelbſt ſich retten kann, und löst ſich die Natur in Wunder auf. Da- gegen iſt wieder überall eine Energie, welche trotz dieſen Mängeln ſpannt, eine mauriſche Farbenpracht, welche mit ihrer Empfindungsgluth den Man- gel der Individualität, ihrer freien, unendlichen Eigenheit überdeckt. β. Mitte. §. 476. Die Mitte der Geſchichte dieſes Ideals, ſo weit ſie bis jetzt gediehen iſt, bildet eine ſtrenge Zuſammenfaſſung deſſen, was die romaniſchen Völker vom objectiven Ideale des Alterthums in ſich herübergenommen haben, im franzö- ſiſchen Geiſte, der den Beruf übernimmt, die immer noch rohe germaniſche Phan- taſie in die Zucht ſeiner Regelmäßigkeit und Präciſion zu nehmen. Allein die ſo zur Norm erhobene Objectivität iſt zugleich abſtract, ſeelenlos, mechaniſch, hö- fiſch, conventionell, ja durch den fremden Geiſt frivoler, auf Effect berechnen- der, ſich ſelbſt beſpiegelnder Subjectivität entſtellt, iſt daher falſche Claſſicität und beſtimmt, die Völker, die bei ihr in die Schule gegangen, zum Gegen- ſchlage zu reizen. Man ſieht, wie dieſer äſthetiſche Gang dem politiſchen (§. 370 ff.) entſpricht. Wie die Monarchie den Beruf hatte, das Mittelalter zu nivelli- ren, ſo hatte die franzöſiſche Claſſicität den Beruf, die immer noch bar- bariſche Phantaſie der germaniſchen Völker unter ihre Diſziplin zu beugen. Allein dann weicht die Geſchichte der Phantaſie von der politiſchen gänz- lich ab: in dieſer reagirten die Franzoſen ſelbſt gegen die Deſpotie, traten aber auf lange Zeit vom Schauplatz äſthetiſcher Zeugungskraft ab, in jener dagegen übernahmen die Deutſchen die Revolution gegen das franzöſiſche

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 512. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/226>, abgerufen am 21.11.2024.