Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

Bild:
<< vorherige Seite

darzustellen, ist zum Vehikel geworden, und so schön die Phantasie ihn
verwendet, das ganze Motiv bleibt doch frostig, ganz zum leeren Ge-
rüste wird er z. B. bei Camoens. Auch mit den eigenen Mythen wird
wie mit einem bloßen Vehikel verfahren; die Geburt der Maria wird
ein Motiv, um eine Florentinische Kindsstube, die Hochzeit zu Kana,
um Venedigs Pracht und Ueppigkeit darzustellen, sie ist leeres Mittel.
Bassano benützt sogar christlich mythische Scenen zu Viehstücken.

2. Zunächst wächst das komische Bewußtsein überhaupt, Schwank,
schalkhafte Novelle wird beliebt. Schon hier gilt es allerdings nament-
lich den Pfaffen und aller Ascese. Direct aber wendet sich die Ironie
gegen die Rittersage und läßt ihre Hirngespenste und Abenteuer an der
unbarmherzigen Wirklichkeit scheitern (Cervantes), taucht ihren Adel in
das Schlammbad bäurischer Rohheit, ihre Träume in faustdicke Lügen
(Rabelais, Fischart) oder läßt ihre ganze Welt zwar scheinbar gelten,
löst sie aber thatsächlich in ein sinnlich anmuthiges Spiel auf (Ariosto).
Die Formen, die der §. zuletzt erwähnt, sind Satyre und Lehrgedicht.
Das Ende des Mittelalters ist voll von diesen Erscheinungen einer zwar
ästhetisch unorganischen, aber doch als Uebergangsform zu einem neuen
Ideal geschichtlich immer höchst wichtigen und durchgreifenden Art der
Phantasie.

c.
Das moderne Ideal
oder
die Phantasie der wahrhaft freien und mit der Objectivität
versöhnten Subjectivität
.
§. 466.

Wie der Mensch durch Erfahrung, Bildung mündig wird, so verliert die
Phantasie die zweite Stoffwelt. Sie kann nur noch als vorübergehendes Spiel
einer weit zurückgreifenden Beseelung des Dagewesenen, vorzüglich in komischer
Behandlung, als Nebenwerk und Nothhilfe, psychologisch als Glaube, nicht als
Geglaubtes in die Phantasie eintreten. Da aber die Religion auf ihrem Bo-
den, also die allgemeine Phantasie, im Widerspruche mit der übrigen Bildung
die zweite Stoffwelt festhält, so ist die besondere Phantasie auf sich allein ge-
stellt, das Schöne trennt sich von der Religion.

Wir fassen jetzt in dem Begriffe der Erfahrung und Bildung alle
von §. 365 an entwickelten geschichtlichen Momente zusammen und nennen

darzuſtellen, iſt zum Vehikel geworden, und ſo ſchön die Phantaſie ihn
verwendet, das ganze Motiv bleibt doch froſtig, ganz zum leeren Ge-
rüſte wird er z. B. bei Camoëns. Auch mit den eigenen Mythen wird
wie mit einem bloßen Vehikel verfahren; die Geburt der Maria wird
ein Motiv, um eine Florentiniſche Kindsſtube, die Hochzeit zu Kana,
um Venedigs Pracht und Ueppigkeit darzuſtellen, ſie iſt leeres Mittel.
Baſſano benützt ſogar chriſtlich mythiſche Scenen zu Viehſtücken.

2. Zunächſt wächſt das komiſche Bewußtſein überhaupt, Schwank,
ſchalkhafte Novelle wird beliebt. Schon hier gilt es allerdings nament-
lich den Pfaffen und aller Aſceſe. Direct aber wendet ſich die Ironie
gegen die Ritterſage und läßt ihre Hirngeſpenſte und Abenteuer an der
unbarmherzigen Wirklichkeit ſcheitern (Cervantes), taucht ihren Adel in
das Schlammbad bäuriſcher Rohheit, ihre Träume in fauſtdicke Lügen
(Rabelais, Fiſchart) oder läßt ihre ganze Welt zwar ſcheinbar gelten,
löst ſie aber thatſächlich in ein ſinnlich anmuthiges Spiel auf (Arioſto).
Die Formen, die der §. zuletzt erwähnt, ſind Satyre und Lehrgedicht.
Das Ende des Mittelalters iſt voll von dieſen Erſcheinungen einer zwar
äſthetiſch unorganiſchen, aber doch als Uebergangsform zu einem neuen
Ideal geſchichtlich immer höchſt wichtigen und durchgreifenden Art der
Phantaſie.

c.
Das moderne Ideal
oder
die Phantaſie der wahrhaft freien und mit der Objectivität
verſöhnten Subjectivität
.
§. 466.

Wie der Menſch durch Erfahrung, Bildung mündig wird, ſo verliert die
Phantaſie die zweite Stoffwelt. Sie kann nur noch als vorübergehendes Spiel
einer weit zurückgreifenden Beſeelung des Dageweſenen, vorzüglich in komiſcher
Behandlung, als Nebenwerk und Nothhilfe, pſychologiſch als Glaube, nicht als
Geglaubtes in die Phantaſie eintreten. Da aber die Religion auf ihrem Bo-
den, alſo die allgemeine Phantaſie, im Widerſpruche mit der übrigen Bildung
die zweite Stoffwelt feſthält, ſo iſt die beſondere Phantaſie auf ſich allein ge-
ſtellt, das Schöne trennt ſich von der Religion.

Wir faſſen jetzt in dem Begriffe der Erfahrung und Bildung alle
von §. 365 an entwickelten geſchichtlichen Momente zuſammen und nennen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0214" n="500"/>
darzu&#x017F;tellen, i&#x017F;t zum Vehikel geworden, und &#x017F;o &#x017F;chön die Phanta&#x017F;ie ihn<lb/>
verwendet, das ganze Motiv bleibt doch fro&#x017F;tig, ganz zum leeren Ge-<lb/>&#x017F;te wird er z. B. bei Camo<hi rendition="#aq">ë</hi>ns. Auch mit den eigenen Mythen wird<lb/>
wie mit einem bloßen Vehikel verfahren; die Geburt der Maria wird<lb/>
ein Motiv, um eine Florentini&#x017F;che Kinds&#x017F;tube, die Hochzeit zu Kana,<lb/>
um Venedigs Pracht und Ueppigkeit darzu&#x017F;tellen, &#x017F;ie i&#x017F;t leeres Mittel.<lb/>
Ba&#x017F;&#x017F;ano benützt &#x017F;ogar chri&#x017F;tlich mythi&#x017F;che Scenen zu Vieh&#x017F;tücken.</hi> </p><lb/>
                  <p> <hi rendition="#et">2. Zunäch&#x017F;t wäch&#x017F;t das komi&#x017F;che Bewußt&#x017F;ein überhaupt, Schwank,<lb/>
&#x017F;chalkhafte Novelle wird beliebt. Schon hier gilt es allerdings nament-<lb/>
lich den Pfaffen und aller A&#x017F;ce&#x017F;e. Direct aber wendet &#x017F;ich die Ironie<lb/>
gegen die Ritter&#x017F;age und läßt ihre Hirnge&#x017F;pen&#x017F;te und Abenteuer an der<lb/>
unbarmherzigen Wirklichkeit &#x017F;cheitern (Cervantes), taucht ihren Adel in<lb/>
das Schlammbad bäuri&#x017F;cher Rohheit, ihre Träume in fau&#x017F;tdicke Lügen<lb/>
(Rabelais, Fi&#x017F;chart) oder läßt ihre ganze Welt zwar &#x017F;cheinbar gelten,<lb/>
löst &#x017F;ie aber that&#x017F;ächlich in ein &#x017F;innlich anmuthiges Spiel auf (Ario&#x017F;to).<lb/>
Die Formen, die der §. zuletzt erwähnt, &#x017F;ind Satyre und Lehrgedicht.<lb/>
Das Ende des Mittelalters i&#x017F;t voll von die&#x017F;en Er&#x017F;cheinungen einer zwar<lb/>
ä&#x017F;theti&#x017F;ch unorgani&#x017F;chen, aber doch als Uebergangsform zu einem neuen<lb/>
Ideal ge&#x017F;chichtlich immer höch&#x017F;t wichtigen und durchgreifenden Art der<lb/>
Phanta&#x017F;ie.</hi> </p>
                </div>
              </div>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">c.</hi><lb/><hi rendition="#g">Das moderne Ideal</hi><lb/>
oder<lb/><hi rendition="#g">die Phanta&#x017F;ie der wahrhaft freien und mit der Objectivität<lb/>
ver&#x017F;öhnten Subjectivität</hi>.</hi> </head><lb/>
              <div n="5">
                <head>§. 466.</head><lb/>
                <p> <hi rendition="#fr">Wie der Men&#x017F;ch durch Erfahrung, Bildung mündig wird, &#x017F;o verliert die<lb/>
Phanta&#x017F;ie die zweite Stoffwelt. Sie kann nur noch als vorübergehendes Spiel<lb/>
einer weit zurückgreifenden Be&#x017F;eelung des Dagewe&#x017F;enen, vorzüglich in komi&#x017F;cher<lb/>
Behandlung, als Nebenwerk und Nothhilfe, p&#x017F;ychologi&#x017F;ch als Glaube, nicht als<lb/>
Geglaubtes in die Phanta&#x017F;ie eintreten. Da aber die Religion auf ihrem Bo-<lb/>
den, al&#x017F;o die allgemeine Phanta&#x017F;ie, im Wider&#x017F;pruche mit der übrigen Bildung<lb/>
die zweite Stoffwelt fe&#x017F;thält, &#x017F;o i&#x017F;t die be&#x017F;ondere Phanta&#x017F;ie auf &#x017F;ich allein ge-<lb/>
&#x017F;tellt, das Schöne trennt &#x017F;ich von der Religion.</hi> </p><lb/>
                <p> <hi rendition="#et">Wir fa&#x017F;&#x017F;en jetzt in dem Begriffe der Erfahrung und Bildung alle<lb/>
von §. 365 an entwickelten ge&#x017F;chichtlichen Momente zu&#x017F;ammen und nennen<lb/></hi> </p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[500/0214] darzuſtellen, iſt zum Vehikel geworden, und ſo ſchön die Phantaſie ihn verwendet, das ganze Motiv bleibt doch froſtig, ganz zum leeren Ge- rüſte wird er z. B. bei Camoëns. Auch mit den eigenen Mythen wird wie mit einem bloßen Vehikel verfahren; die Geburt der Maria wird ein Motiv, um eine Florentiniſche Kindsſtube, die Hochzeit zu Kana, um Venedigs Pracht und Ueppigkeit darzuſtellen, ſie iſt leeres Mittel. Baſſano benützt ſogar chriſtlich mythiſche Scenen zu Viehſtücken. 2. Zunächſt wächſt das komiſche Bewußtſein überhaupt, Schwank, ſchalkhafte Novelle wird beliebt. Schon hier gilt es allerdings nament- lich den Pfaffen und aller Aſceſe. Direct aber wendet ſich die Ironie gegen die Ritterſage und läßt ihre Hirngeſpenſte und Abenteuer an der unbarmherzigen Wirklichkeit ſcheitern (Cervantes), taucht ihren Adel in das Schlammbad bäuriſcher Rohheit, ihre Träume in fauſtdicke Lügen (Rabelais, Fiſchart) oder läßt ihre ganze Welt zwar ſcheinbar gelten, löst ſie aber thatſächlich in ein ſinnlich anmuthiges Spiel auf (Arioſto). Die Formen, die der §. zuletzt erwähnt, ſind Satyre und Lehrgedicht. Das Ende des Mittelalters iſt voll von dieſen Erſcheinungen einer zwar äſthetiſch unorganiſchen, aber doch als Uebergangsform zu einem neuen Ideal geſchichtlich immer höchſt wichtigen und durchgreifenden Art der Phantaſie. c. Das moderne Ideal oder die Phantaſie der wahrhaft freien und mit der Objectivität verſöhnten Subjectivität. §. 466. Wie der Menſch durch Erfahrung, Bildung mündig wird, ſo verliert die Phantaſie die zweite Stoffwelt. Sie kann nur noch als vorübergehendes Spiel einer weit zurückgreifenden Beſeelung des Dageweſenen, vorzüglich in komiſcher Behandlung, als Nebenwerk und Nothhilfe, pſychologiſch als Glaube, nicht als Geglaubtes in die Phantaſie eintreten. Da aber die Religion auf ihrem Bo- den, alſo die allgemeine Phantaſie, im Widerſpruche mit der übrigen Bildung die zweite Stoffwelt feſthält, ſo iſt die beſondere Phantaſie auf ſich allein ge- ſtellt, das Schöne trennt ſich von der Religion. Wir faſſen jetzt in dem Begriffe der Erfahrung und Bildung alle von §. 365 an entwickelten geſchichtlichen Momente zuſammen und nennen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/214
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 500. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/214>, abgerufen am 21.11.2024.