ist. Die empfindende Phantasie ist reif, ergreift mit den unsagbaren Herzenstiefen jeden Stoff, jedes Verhältniß, legt ihre schönsten Empfin- dungen im Liebestausch der h. Familie nieder, erfaßt von der ursprünglichen Stoffwelt die Liebe, die Frauen, den Frühling, doch immer, um mit der Erhebung aller Stoffe in die höchsten, mythischen zu schließen.
§. 462.
An den zu mystischer Inbrunst vertieften Kreis der Haupt-Mythen setzt sich eine unendliche Reihe von Legenden als religiöser Sagenkreis an. Ihm steht als mehr weltlicher Kreis die Ritterwelt mit den zu §. 361 genannten Motiven hauptsächlich in der Artus-Sage gegenüber, vereinigt sich aber durch den Mittelpunkt eines mystischen Reliquiendienstes mit ihm in der Sage vom h. Gral. Der mythisch religiöse Sagenkreis gehört der bildenden und dich- tenden, die andern der bildend dichtenden Phantasie an, die aber ihren in ver- einzelten Abentheuern einer unmöglichen Tapferkeit für illusorische Zwecke nebelhaft sich fortspinnenden Stoff dem Gesetze fester Gestaltung nicht einzu- ordnen vermag.
Es genügt, diese Sagenkreise aufzuführen; ihr Inhalt ist hier nicht darzustellen, der Geist, in dem sie empfangen sind, ist in allem Bisheri- gen gegeben. Der religiöse Mythus gehört vorzüglich der Malerei, Pla- stik, der lyrischen Dichtkunst, die Legende oder Sage von dem Leben heiliger Personen jenen beiden und der epischen Dichtung, die Rittersage nur der letzteren an, die allgemeinen Grund-Empfindungen der Zeit finden in der Architectur und Lyrik ihren Ausdruck. Was nun die Art der Phantasie betrifft, die das Epos erzeugt und die wir noch die bildend dichtende nen- nen, so folgt von selbst aus der Objectivität des in sie übergetragenen tastenden Sehens, daß sie eine gediegene Welt, sächlich begründete, ein- fache Motive, klar umrissene Gestalten braucht; es erhellt aber, daß mit der Einfachheit der objectiven Lebensform dieser feste Boden der bildenden Phantasie entzogen ist. In einer zusammenhangslosen Schnur von Aben- theuern kämpft in der Artussage der Ritter für die Frauen, die ein transcendenter Cultus des Herzens zu überirdischen Wesen erhebt und bodenlos verwöhnt, für das auf Stelzen gestellte Gefühl der Ehre, für den Glauben gegen Ungläubige, gegen fabelhafte Wesen, welche die fin- stern, im Heidenthum verehrten Naturmächte darstellen, gegen Riesen, Zwerge, Drachen. Der Faden der Begebenheiten läuft räumlich und zeitlich in Fernen, wo alle Ueberschaulichkeit schwindet, und ebenso zerfließt im phantastischen Nebel des Gemüths der Helden, im ewigen Verlieren und Finden das Band des Charakters, die Treue, die Redlichkeit, und
iſt. Die empfindende Phantaſie iſt reif, ergreift mit den unſagbaren Herzenstiefen jeden Stoff, jedes Verhältniß, legt ihre ſchönſten Empfin- dungen im Liebestauſch der h. Familie nieder, erfaßt von der urſprünglichen Stoffwelt die Liebe, die Frauen, den Frühling, doch immer, um mit der Erhebung aller Stoffe in die höchſten, mythiſchen zu ſchließen.
§. 462.
An den zu myſtiſcher Inbrunſt vertieften Kreis der Haupt-Mythen ſetzt ſich eine unendliche Reihe von Legenden als religiöſer Sagenkreis an. Ihm ſteht als mehr weltlicher Kreis die Ritterwelt mit den zu §. 361 genannten Motiven hauptſächlich in der Artus-Sage gegenüber, vereinigt ſich aber durch den Mittelpunkt eines myſtiſchen Reliquiendienſtes mit ihm in der Sage vom h. Gral. Der mythiſch religiöſe Sagenkreis gehört der bildenden und dich- tenden, die andern der bildend dichtenden Phantaſie an, die aber ihren in ver- einzelten Abentheuern einer unmöglichen Tapferkeit für illuſoriſche Zwecke nebelhaft ſich fortſpinnenden Stoff dem Geſetze feſter Geſtaltung nicht einzu- ordnen vermag.
Es genügt, dieſe Sagenkreiſe aufzuführen; ihr Inhalt iſt hier nicht darzuſtellen, der Geiſt, in dem ſie empfangen ſind, iſt in allem Bisheri- gen gegeben. Der religiöſe Mythus gehört vorzüglich der Malerei, Pla- ſtik, der lyriſchen Dichtkunſt, die Legende oder Sage von dem Leben heiliger Perſonen jenen beiden und der epiſchen Dichtung, die Ritterſage nur der letzteren an, die allgemeinen Grund-Empfindungen der Zeit finden in der Architectur und Lyrik ihren Ausdruck. Was nun die Art der Phantaſie betrifft, die das Epos erzeugt und die wir noch die bildend dichtende nen- nen, ſo folgt von ſelbſt aus der Objectivität des in ſie übergetragenen taſtenden Sehens, daß ſie eine gediegene Welt, ſächlich begründete, ein- fache Motive, klar umriſſene Geſtalten braucht; es erhellt aber, daß mit der Einfachheit der objectiven Lebensform dieſer feſte Boden der bildenden Phantaſie entzogen iſt. In einer zuſammenhangsloſen Schnur von Aben- theuern kämpft in der Artusſage der Ritter für die Frauen, die ein tranſcendenter Cultus des Herzens zu überirdiſchen Weſen erhebt und bodenlos verwöhnt, für das auf Stelzen geſtellte Gefühl der Ehre, für den Glauben gegen Ungläubige, gegen fabelhafte Weſen, welche die fin- ſtern, im Heidenthum verehrten Naturmächte darſtellen, gegen Rieſen, Zwerge, Drachen. Der Faden der Begebenheiten läuft räumlich und zeitlich in Fernen, wo alle Ueberſchaulichkeit ſchwindet, und ebenſo zerfließt im phantaſtiſchen Nebel des Gemüths der Helden, im ewigen Verlieren und Finden das Band des Charakters, die Treue, die Redlichkeit, und
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iſt. Die empfindende Phantaſie iſt reif, ergreift mit den unſagbaren
Herzenstiefen jeden Stoff, jedes Verhältniß, legt ihre ſchönſten Empfin-
dungen im Liebestauſch der h. Familie nieder, erfaßt von der urſprünglichen
Stoffwelt die Liebe, die Frauen, den Frühling, doch immer, um mit der
Erhebung aller Stoffe in die höchſten, mythiſchen zu ſchließen.
§. 462.
An den zu myſtiſcher Inbrunſt vertieften Kreis der Haupt-Mythen
ſetzt ſich eine unendliche Reihe von Legenden als religiöſer Sagenkreis an. Ihm
ſteht als mehr weltlicher Kreis die Ritterwelt mit den zu §. 361 genannten
Motiven hauptſächlich in der Artus-Sage gegenüber, vereinigt ſich aber durch
den Mittelpunkt eines myſtiſchen Reliquiendienſtes mit ihm in der Sage vom
h. Gral. Der mythiſch religiöſe Sagenkreis gehört der bildenden und dich-
tenden, die andern der bildend dichtenden Phantaſie an, die aber ihren in ver-
einzelten Abentheuern einer unmöglichen Tapferkeit für illuſoriſche Zwecke
nebelhaft ſich fortſpinnenden Stoff dem Geſetze feſter Geſtaltung nicht einzu-
ordnen vermag.
Es genügt, dieſe Sagenkreiſe aufzuführen; ihr Inhalt iſt hier nicht
darzuſtellen, der Geiſt, in dem ſie empfangen ſind, iſt in allem Bisheri-
gen gegeben. Der religiöſe Mythus gehört vorzüglich der Malerei, Pla-
ſtik, der lyriſchen Dichtkunſt, die Legende oder Sage von dem Leben heiliger
Perſonen jenen beiden und der epiſchen Dichtung, die Ritterſage nur der
letzteren an, die allgemeinen Grund-Empfindungen der Zeit finden in
der Architectur und Lyrik ihren Ausdruck. Was nun die Art der Phantaſie
betrifft, die das Epos erzeugt und die wir noch die bildend dichtende nen-
nen, ſo folgt von ſelbſt aus der Objectivität des in ſie übergetragenen
taſtenden Sehens, daß ſie eine gediegene Welt, ſächlich begründete, ein-
fache Motive, klar umriſſene Geſtalten braucht; es erhellt aber, daß mit
der Einfachheit der objectiven Lebensform dieſer feſte Boden der bildenden
Phantaſie entzogen iſt. In einer zuſammenhangsloſen Schnur von Aben-
theuern kämpft in der Artusſage der Ritter für die Frauen, die ein
tranſcendenter Cultus des Herzens zu überirdiſchen Weſen erhebt und
bodenlos verwöhnt, für das auf Stelzen geſtellte Gefühl der Ehre, für
den Glauben gegen Ungläubige, gegen fabelhafte Weſen, welche die fin-
ſtern, im Heidenthum verehrten Naturmächte darſtellen, gegen Rieſen,
Zwerge, Drachen. Der Faden der Begebenheiten läuft räumlich und
zeitlich in Fernen, wo alle Ueberſchaulichkeit ſchwindet, und ebenſo zerfließt
im phantaſtiſchen Nebel des Gemüths der Helden, im ewigen Verlieren
und Finden das Band des Charakters, die Treue, die Redlichkeit, und
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 495. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/209>, abgerufen am 22.02.2025.
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