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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848.

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Anrede u. s. w. geht ebenso zu Grunde oder dauert als widerliche
Affectation fort.

§. 380.

1

Allein die Gunst des Zufalls ist nicht nur selten und flüchtig, sie ist
überhaupt nur relativ: der trübende Zufall (§. 40) ist, sobald hinter das Ver-
klärende, was durch Ferne des Raums und der Zeit schon in der gewöhnlichen
Wahrnehmung liegt, zurückgegangen und die Sache genauer besehen wird, nur in
größerem Maaße überwunden; er wirft nicht blos in eine scheinbar schöne Zusam-
menstellung mehrerer Gegenstände, unwissend um die Schönheit des Ganzen,
das Störende, sondern er erstreckt sich auch auf den einzelnen begünstigten Ge-
genstand und es verbirgt sich nicht, daß er in Wahrheit allgemein herrscht,
2Daß es sich aber zuerst verbarg, dieß muß seinen Grund in einer zweiten.
Gunst des Zufalls haben, nämlich in der glücklichen Stimmung, wodurch das
Subject fähig war, den Gegenstand unter den Gesichtspunkt der reinen Form
(§. 54. 55. 75) zu rücken. Zunächst ruft der Gegenstand selbst durch die
obwohl nur relative Reinheit vom störenden Zufall diese Stimmung hervor.

1. Wir fahren in der Auflösung des Naturschönen rein empirisch
fort, denn wir haben nur einen Schein aufzuheben, dessen Grund wo
anders liegt. Das Naturschöne darf man nur näher ansehen, um sich
zu überzeugen, daß es nicht wahrhaft schön ist; es liegt am Tage, daß
wir uns eine offenbare Wahrheit bisher nur verborgen haben. Diese
Wahrheit ist, daß der störende Zufall nothwendig überall herrscht. Nicht
wir haben zu beweisen, daß er durchgängig über Alles sich erstreckt, sondern
nur das Gegentheil wäre zu beweisen, daß und wie nämlich im unend-
lichen Zusammensein der Dinge irgend eines sich den Störungen, Bedürf-
tigkeiten, Verletzungen, all' der Noth und Abhängigkeit des Lebens entziehen
könne. Zu erforschen ist nur, woher denn dann der Schein komme, als ob
Einiges davon eine Ausnahme mache, und dieses werden wir im Ver-
laufe leisten. Diese Aufzeigung muß eine subjective sein, sie muß den
Grund im Geiste aufsuchen, sie muß darthun, warum und nach welchem
Gesetze dieser der frei erzeugten Schönheit den Schein einer ersten,
unmittelbaren, vorgefundenen, voranschickt. Zunächst also ist nur einfach
aufzuzeigen, daß dieß bloßer Schein ist. Einige schöne Gegenstände sind
Einheit und Zusammenordnung mehrerer, und da wird sich bei genauerer
Betrachtung immer finden, zuerst, daß wir diese Gegenstände in solcher
Zusammenstellung nur sehen, weil wir einen bestimmten Standpunkt zu-
fällig eingenommen oder unbewußt (denn von eigentlich künstlerischer
Absicht ist noch nicht die Rede) gesucht haben. So namentlich die Land-

Anrede u. ſ. w. geht ebenſo zu Grunde oder dauert als widerliche
Affectation fort.

§. 380.

1

Allein die Gunſt des Zufalls iſt nicht nur ſelten und flüchtig, ſie iſt
überhaupt nur relativ: der trübende Zufall (§. 40) iſt, ſobald hinter das Ver-
klärende, was durch Ferne des Raums und der Zeit ſchon in der gewöhnlichen
Wahrnehmung liegt, zurückgegangen und die Sache genauer beſehen wird, nur in
größerem Maaße überwunden; er wirft nicht blos in eine ſcheinbar ſchöne Zuſam-
menſtellung mehrerer Gegenſtände, unwiſſend um die Schönheit des Ganzen,
das Störende, ſondern er erſtreckt ſich auch auf den einzelnen begünſtigten Ge-
genſtand und es verbirgt ſich nicht, daß er in Wahrheit allgemein herrſcht,
2Daß es ſich aber zuerſt verbarg, dieß muß ſeinen Grund in einer zweiten.
Gunſt des Zufalls haben, nämlich in der glücklichen Stimmung, wodurch das
Subject fähig war, den Gegenſtand unter den Geſichtspunkt der reinen Form
(§. 54. 55. 75) zu rücken. Zunächſt ruft der Gegenſtand ſelbſt durch die
obwohl nur relative Reinheit vom ſtörenden Zufall dieſe Stimmung hervor.

1. Wir fahren in der Auflöſung des Naturſchönen rein empiriſch
fort, denn wir haben nur einen Schein aufzuheben, deſſen Grund wo
anders liegt. Das Naturſchöne darf man nur näher anſehen, um ſich
zu überzeugen, daß es nicht wahrhaft ſchön iſt; es liegt am Tage, daß
wir uns eine offenbare Wahrheit bisher nur verborgen haben. Dieſe
Wahrheit iſt, daß der ſtörende Zufall nothwendig überall herrſcht. Nicht
wir haben zu beweiſen, daß er durchgängig über Alles ſich erſtreckt, ſondern
nur das Gegentheil wäre zu beweiſen, daß und wie nämlich im unend-
lichen Zuſammenſein der Dinge irgend eines ſich den Störungen, Bedürf-
tigkeiten, Verletzungen, all’ der Noth und Abhängigkeit des Lebens entziehen
könne. Zu erforſchen iſt nur, woher denn dann der Schein komme, als ob
Einiges davon eine Ausnahme mache, und dieſes werden wir im Ver-
laufe leiſten. Dieſe Aufzeigung muß eine ſubjective ſein, ſie muß den
Grund im Geiſte aufſuchen, ſie muß darthun, warum und nach welchem
Geſetze dieſer der frei erzeugten Schönheit den Schein einer erſten,
unmittelbaren, vorgefundenen, voranſchickt. Zunächſt alſo iſt nur einfach
aufzuzeigen, daß dieß bloßer Schein iſt. Einige ſchöne Gegenſtände ſind
Einheit und Zuſammenordnung mehrerer, und da wird ſich bei genauerer
Betrachtung immer finden, zuerſt, daß wir dieſe Gegenſtände in ſolcher
Zuſammenſtellung nur ſehen, weil wir einen beſtimmten Standpunkt zu-
fällig eingenommen oder unbewußt (denn von eigentlich künſtleriſcher
Abſicht iſt noch nicht die Rede) geſucht haben. So namentlich die Land-

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[304/0018] Anrede u. ſ. w. geht ebenſo zu Grunde oder dauert als widerliche Affectation fort. §. 380. Allein die Gunſt des Zufalls iſt nicht nur ſelten und flüchtig, ſie iſt überhaupt nur relativ: der trübende Zufall (§. 40) iſt, ſobald hinter das Ver- klärende, was durch Ferne des Raums und der Zeit ſchon in der gewöhnlichen Wahrnehmung liegt, zurückgegangen und die Sache genauer beſehen wird, nur in größerem Maaße überwunden; er wirft nicht blos in eine ſcheinbar ſchöne Zuſam- menſtellung mehrerer Gegenſtände, unwiſſend um die Schönheit des Ganzen, das Störende, ſondern er erſtreckt ſich auch auf den einzelnen begünſtigten Ge- genſtand und es verbirgt ſich nicht, daß er in Wahrheit allgemein herrſcht, Daß es ſich aber zuerſt verbarg, dieß muß ſeinen Grund in einer zweiten. Gunſt des Zufalls haben, nämlich in der glücklichen Stimmung, wodurch das Subject fähig war, den Gegenſtand unter den Geſichtspunkt der reinen Form (§. 54. 55. 75) zu rücken. Zunächſt ruft der Gegenſtand ſelbſt durch die obwohl nur relative Reinheit vom ſtörenden Zufall dieſe Stimmung hervor. 1. Wir fahren in der Auflöſung des Naturſchönen rein empiriſch fort, denn wir haben nur einen Schein aufzuheben, deſſen Grund wo anders liegt. Das Naturſchöne darf man nur näher anſehen, um ſich zu überzeugen, daß es nicht wahrhaft ſchön iſt; es liegt am Tage, daß wir uns eine offenbare Wahrheit bisher nur verborgen haben. Dieſe Wahrheit iſt, daß der ſtörende Zufall nothwendig überall herrſcht. Nicht wir haben zu beweiſen, daß er durchgängig über Alles ſich erſtreckt, ſondern nur das Gegentheil wäre zu beweiſen, daß und wie nämlich im unend- lichen Zuſammenſein der Dinge irgend eines ſich den Störungen, Bedürf- tigkeiten, Verletzungen, all’ der Noth und Abhängigkeit des Lebens entziehen könne. Zu erforſchen iſt nur, woher denn dann der Schein komme, als ob Einiges davon eine Ausnahme mache, und dieſes werden wir im Ver- laufe leiſten. Dieſe Aufzeigung muß eine ſubjective ſein, ſie muß den Grund im Geiſte aufſuchen, ſie muß darthun, warum und nach welchem Geſetze dieſer der frei erzeugten Schönheit den Schein einer erſten, unmittelbaren, vorgefundenen, voranſchickt. Zunächſt alſo iſt nur einfach aufzuzeigen, daß dieß bloßer Schein iſt. Einige ſchöne Gegenſtände ſind Einheit und Zuſammenordnung mehrerer, und da wird ſich bei genauerer Betrachtung immer finden, zuerſt, daß wir dieſe Gegenſtände in ſolcher Zuſammenſtellung nur ſehen, weil wir einen beſtimmten Standpunkt zu- fällig eingenommen oder unbewußt (denn von eigentlich künſtleriſcher Abſicht iſt noch nicht die Rede) geſucht haben. So namentlich die Land-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 304. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0202_1848/18>, abgerufen am 21.11.2024.