genug ist, um seine Theile in deutlicher Unterscheidung dem ungezwungen verweilenden Auge darzustellen, mag mit einem Anderen verglichen wohl selbst wieder als klein erscheinen, hat aber doch im absoluten Verhältniß zu unserem Auge die zum Schönen geforderte Größe. -- Hier kann nach- träglich bemerkt werden, wie die andere Hälfte vom Satze des Aristoteles, daß nämlich der schöne Gegenstand ebensowenig allzugroß sein dürfe, auf die Erdbildungen seine Anwendung findet. Aristoteles begründet diese Hälfte des Satzes sehr richtig damit, daß, während dort in der Zusammen- fassung die Einzeltheile verschwinden, hier über den Einzeltheilen die Zu- sammenfassung entschwindet: die Sinne halten sich zu lange bei den Theilen auf, es entflieht dem Anschauenden das Eine und Ganze bei der Anschauung. Bei den Erscheinungen des Lichts, der Farbe, der Luft, des Wassers versteht sich, weil sie an sich selbst keine Begrenzung haben, zum Voraus, daß eine Begrenzung durch den Standpunkt des Anschauenden angenommen wird; ein Gebirge aber hat seine Grenze, wiewohl sie ihm durch äußere Gewalt gegeben ist, an sich und kann daher mit dem Thiere des Aristoteles ver- glichen werden, das 10,000 Stadien lang wäre. Hier ist denn zu sagen, daß ein überschaulicher Theil des Gebirges (oder der Ebene) vorliegen muß, der eine Vorstellung von der übrigen Form, Höhe, Breite, Länge des Gebirges gibt. Sehe ich z. B. an einem überschaulichen Theile des Urgebirgs, wie furchtbar hier die Feuergewalt Massen gethürmt hat, so habe ich die Vorstellung von einem Ganzen, das so emporgeworfen wurde, von seinen riesigen Verhältnissen, seinen wilden Formen; diese Vorstellung mag unbe- stimmt bleiben, wenn nur das, was ich wirklich sehe, bestimmt ist.
§. 267.
Daher tritt hier ein Widerspruch zwischen der Naturwissenschaft und der Aesthetik ein. Der Krystall ist, vom Standpunkte der ersteren betrachtet, das höchste Werk der unorganischen Natur, erste Spur und Vorbild organischer Form; allein die nicht individuellen Erscheinungen der unorganischen Natur sind ästhetisch vollkommener, weil sie bewegt sind. Diese Bewegung ist zwar nur äußerlich und mechanisch, aber sie reizt, ihr organische Bewegung, ja Seelenstimmung unterzulegen, während das starre Mineral zwar zu einem ahnenden Vorgriff in das organische Leben, wo dieß krystallische Bildungsgesetz in belebter Form wiederkehrt, anzuregen vermag, jene wirkliche Unterlegung aber ausschließt. Daher findet hier die Einschränkung §. 18, 1. eine Stelle ihrer Anwendung. Die genannte Umkehrung trifft aber auch die Erdbildungen im Großen.
Der Gang unserer Darstellung der unorganischen Natur dreht sich um; der Seelenblitz des Lichtes, der Farbe, der Luft, des Wassers erscheint
genug iſt, um ſeine Theile in deutlicher Unterſcheidung dem ungezwungen verweilenden Auge darzuſtellen, mag mit einem Anderen verglichen wohl ſelbſt wieder als klein erſcheinen, hat aber doch im abſoluten Verhältniß zu unſerem Auge die zum Schönen geforderte Größe. — Hier kann nach- träglich bemerkt werden, wie die andere Hälfte vom Satze des Ariſtoteles, daß nämlich der ſchöne Gegenſtand ebenſowenig allzugroß ſein dürfe, auf die Erdbildungen ſeine Anwendung findet. Ariſtoteles begründet dieſe Hälfte des Satzes ſehr richtig damit, daß, während dort in der Zuſammen- faſſung die Einzeltheile verſchwinden, hier über den Einzeltheilen die Zu- ſammenfaſſung entſchwindet: die Sinne halten ſich zu lange bei den Theilen auf, es entflieht dem Anſchauenden das Eine und Ganze bei der Anſchauung. Bei den Erſcheinungen des Lichts, der Farbe, der Luft, des Waſſers verſteht ſich, weil ſie an ſich ſelbſt keine Begrenzung haben, zum Voraus, daß eine Begrenzung durch den Standpunkt des Anſchauenden angenommen wird; ein Gebirge aber hat ſeine Grenze, wiewohl ſie ihm durch äußere Gewalt gegeben iſt, an ſich und kann daher mit dem Thiere des Ariſtoteles ver- glichen werden, das 10,000 Stadien lang wäre. Hier iſt denn zu ſagen, daß ein überſchaulicher Theil des Gebirges (oder der Ebene) vorliegen muß, der eine Vorſtellung von der übrigen Form, Höhe, Breite, Länge des Gebirges gibt. Sehe ich z. B. an einem überſchaulichen Theile des Urgebirgs, wie furchtbar hier die Feuergewalt Maſſen gethürmt hat, ſo habe ich die Vorſtellung von einem Ganzen, das ſo emporgeworfen wurde, von ſeinen rieſigen Verhältniſſen, ſeinen wilden Formen; dieſe Vorſtellung mag unbe- ſtimmt bleiben, wenn nur das, was ich wirklich ſehe, beſtimmt iſt.
§. 267.
Daher tritt hier ein Widerſpruch zwiſchen der Naturwiſſenſchaft und der Aeſthetik ein. Der Kryſtall iſt, vom Standpunkte der erſteren betrachtet, das höchſte Werk der unorganiſchen Natur, erſte Spur und Vorbild organiſcher Form; allein die nicht individuellen Erſcheinungen der unorganiſchen Natur ſind äſthetiſch vollkommener, weil ſie bewegt ſind. Dieſe Bewegung iſt zwar nur äußerlich und mechaniſch, aber ſie reizt, ihr organiſche Bewegung, ja Seelenſtimmung unterzulegen, während das ſtarre Mineral zwar zu einem ahnenden Vorgriff in das organiſche Leben, wo dieß kryſtalliſche Bildungsgeſetz in belebter Form wiederkehrt, anzuregen vermag, jene wirkliche Unterlegung aber ausſchließt. Daher findet hier die Einſchränkung §. 18, 1. eine Stelle ihrer Anwendung. Die genannte Umkehrung trifft aber auch die Erdbildungen im Großen.
Der Gang unſerer Darſtellung der unorganiſchen Natur dreht ſich um; der Seelenblitz des Lichtes, der Farbe, der Luft, des Waſſers erſcheint
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><p><hirendition="#et"><pbfacs="#f0087"n="75"/>
genug iſt, um ſeine Theile in deutlicher Unterſcheidung dem ungezwungen<lb/>
verweilenden Auge darzuſtellen, mag mit einem Anderen verglichen wohl<lb/>ſelbſt wieder als klein erſcheinen, hat aber doch im abſoluten Verhältniß<lb/>
zu unſerem Auge die zum Schönen geforderte Größe. — Hier kann nach-<lb/>
träglich bemerkt werden, wie die andere Hälfte vom Satze des Ariſtoteles,<lb/>
daß nämlich der ſchöne Gegenſtand ebenſowenig allzugroß ſein dürfe, auf<lb/>
die Erdbildungen ſeine Anwendung findet. Ariſtoteles begründet dieſe<lb/>
Hälfte des Satzes ſehr richtig damit, daß, während dort in der Zuſammen-<lb/>
faſſung die Einzeltheile verſchwinden, hier über den Einzeltheilen die Zu-<lb/>ſammenfaſſung entſchwindet: die Sinne halten ſich zu lange bei den Theilen<lb/>
auf, es entflieht dem Anſchauenden das Eine und Ganze bei der Anſchauung.<lb/>
Bei den Erſcheinungen des Lichts, der Farbe, der Luft, des Waſſers verſteht<lb/>ſich, weil ſie an ſich ſelbſt keine Begrenzung haben, zum Voraus, daß eine<lb/>
Begrenzung durch den Standpunkt des Anſchauenden angenommen wird;<lb/>
ein Gebirge aber hat ſeine Grenze, wiewohl ſie ihm durch äußere Gewalt<lb/>
gegeben iſt, an ſich und kann daher mit dem Thiere des Ariſtoteles ver-<lb/>
glichen werden, das 10,000 Stadien lang wäre. Hier iſt denn zu ſagen,<lb/>
daß ein überſchaulicher Theil des Gebirges (oder der Ebene) vorliegen muß,<lb/>
der eine Vorſtellung von der übrigen Form, Höhe, Breite, Länge des<lb/>
Gebirges gibt. Sehe ich z. B. an einem überſchaulichen Theile des Urgebirgs,<lb/>
wie furchtbar hier die Feuergewalt Maſſen gethürmt hat, ſo habe ich die<lb/>
Vorſtellung von einem Ganzen, das ſo emporgeworfen wurde, von ſeinen<lb/>
rieſigen Verhältniſſen, ſeinen wilden Formen; dieſe Vorſtellung mag unbe-<lb/>ſtimmt bleiben, wenn nur das, was ich wirklich ſehe, beſtimmt iſt.</hi></p></div><lb/><divn="5"><head>§. 267.</head><lb/><p><hirendition="#fr">Daher tritt hier ein Widerſpruch zwiſchen der Naturwiſſenſchaft und der<lb/>
Aeſthetik ein. Der Kryſtall iſt, vom Standpunkte der erſteren betrachtet, das<lb/>
höchſte Werk der unorganiſchen Natur, erſte Spur und Vorbild organiſcher Form;<lb/>
allein die nicht individuellen Erſcheinungen der unorganiſchen Natur ſind äſthetiſch<lb/>
vollkommener, weil ſie bewegt ſind. Dieſe Bewegung iſt zwar nur äußerlich<lb/>
und mechaniſch, aber ſie reizt, ihr organiſche Bewegung, ja Seelenſtimmung<lb/>
unterzulegen, während das ſtarre Mineral zwar zu einem ahnenden Vorgriff in<lb/>
das organiſche Leben, wo dieß kryſtalliſche Bildungsgeſetz in belebter Form<lb/>
wiederkehrt, anzuregen vermag, jene wirkliche Unterlegung aber ausſchließt.<lb/>
Daher findet hier die Einſchränkung §. 18, <hirendition="#sub">1.</hi> eine Stelle ihrer Anwendung.<lb/>
Die genannte Umkehrung trifft aber auch die Erdbildungen im Großen.</hi></p><lb/><p><hirendition="#et">Der Gang unſerer Darſtellung der unorganiſchen Natur dreht ſich<lb/>
um; der Seelenblitz des Lichtes, der Farbe, der Luft, des Waſſers erſcheint<lb/></hi></p></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[75/0087]
genug iſt, um ſeine Theile in deutlicher Unterſcheidung dem ungezwungen
verweilenden Auge darzuſtellen, mag mit einem Anderen verglichen wohl
ſelbſt wieder als klein erſcheinen, hat aber doch im abſoluten Verhältniß
zu unſerem Auge die zum Schönen geforderte Größe. — Hier kann nach-
träglich bemerkt werden, wie die andere Hälfte vom Satze des Ariſtoteles,
daß nämlich der ſchöne Gegenſtand ebenſowenig allzugroß ſein dürfe, auf
die Erdbildungen ſeine Anwendung findet. Ariſtoteles begründet dieſe
Hälfte des Satzes ſehr richtig damit, daß, während dort in der Zuſammen-
faſſung die Einzeltheile verſchwinden, hier über den Einzeltheilen die Zu-
ſammenfaſſung entſchwindet: die Sinne halten ſich zu lange bei den Theilen
auf, es entflieht dem Anſchauenden das Eine und Ganze bei der Anſchauung.
Bei den Erſcheinungen des Lichts, der Farbe, der Luft, des Waſſers verſteht
ſich, weil ſie an ſich ſelbſt keine Begrenzung haben, zum Voraus, daß eine
Begrenzung durch den Standpunkt des Anſchauenden angenommen wird;
ein Gebirge aber hat ſeine Grenze, wiewohl ſie ihm durch äußere Gewalt
gegeben iſt, an ſich und kann daher mit dem Thiere des Ariſtoteles ver-
glichen werden, das 10,000 Stadien lang wäre. Hier iſt denn zu ſagen,
daß ein überſchaulicher Theil des Gebirges (oder der Ebene) vorliegen muß,
der eine Vorſtellung von der übrigen Form, Höhe, Breite, Länge des
Gebirges gibt. Sehe ich z. B. an einem überſchaulichen Theile des Urgebirgs,
wie furchtbar hier die Feuergewalt Maſſen gethürmt hat, ſo habe ich die
Vorſtellung von einem Ganzen, das ſo emporgeworfen wurde, von ſeinen
rieſigen Verhältniſſen, ſeinen wilden Formen; dieſe Vorſtellung mag unbe-
ſtimmt bleiben, wenn nur das, was ich wirklich ſehe, beſtimmt iſt.
§. 267.
Daher tritt hier ein Widerſpruch zwiſchen der Naturwiſſenſchaft und der
Aeſthetik ein. Der Kryſtall iſt, vom Standpunkte der erſteren betrachtet, das
höchſte Werk der unorganiſchen Natur, erſte Spur und Vorbild organiſcher Form;
allein die nicht individuellen Erſcheinungen der unorganiſchen Natur ſind äſthetiſch
vollkommener, weil ſie bewegt ſind. Dieſe Bewegung iſt zwar nur äußerlich
und mechaniſch, aber ſie reizt, ihr organiſche Bewegung, ja Seelenſtimmung
unterzulegen, während das ſtarre Mineral zwar zu einem ahnenden Vorgriff in
das organiſche Leben, wo dieß kryſtalliſche Bildungsgeſetz in belebter Form
wiederkehrt, anzuregen vermag, jene wirkliche Unterlegung aber ausſchließt.
Daher findet hier die Einſchränkung §. 18, 1. eine Stelle ihrer Anwendung.
Die genannte Umkehrung trifft aber auch die Erdbildungen im Großen.
Der Gang unſerer Darſtellung der unorganiſchen Natur dreht ſich
um; der Seelenblitz des Lichtes, der Farbe, der Luft, des Waſſers erſcheint
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/87>, abgerufen am 22.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.