Zuerst bietet sich der einfache Gegensatz von aufsteigender und wagrecht ausgedehnter Form, von Berg und Ebene dar, beide wirken noch abgesehen von ihrer näheren Beschaffenheit in dem, §. 91, 3. ausgesprochenen, Sinne. Die Berge treten zu Berggruppen, diese zu Gebirgen zusammen, welche in ihren Gipfeln die Häupter, in ihren Ketten, Aesten und Zweigen ihren Körper zeigen; hier erst wird der nähere Unterschied der ästhetischen Formen wichtig und tritt als Hauptgepräge ein Gegensatz des formlos und des formeinhaltend Erhabenen (§. 87, 2.) oder des Erhabenen gegen das relativ Schöne hervor.
Der einzelne Berg kann natürlich die verschiedensten Formen haben, allein die Aesthetik muß den bedeutenderen und umfassenderen Erscheinungen zueilen. Daher wird zunächst nur im Allgemeinen die das Gemüth aus- dehnende Wirkung der Ebene, die erhebende oder ängstlich drohende der Erhebung hervorgehoben. Den Flachländer können Berge energisch erfreuen, aber sie können ihn auch drücken, mit Schwindel beängstigen; der Berg- bewohner sehnt sich nach der Ebene, es wird ihm leicht und weit zu Muthe, aber die Einförmigkeit des Flachen verkehrt dieß Gefühl in Oede. Von der localen Physiognomie, Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit ist hier noch nicht die Rede, es kommen nur die allgemeinen Verhältnisse in Betracht. -- Der große Unterschied des ästhetischen Charakters der Gebirge wird nun im Folgenden beleuchtet werden.
§. 262.
Das formlos Erhabene erscheint theils als Charakter einer plumpen und rauhen Massenhaftigkeit, theils durch kühne, vorherrschend eckige und zackige Umrisse als Charakter der Wildheit und Zerrissenheit in den körnigen Gesteinen des durch Feuer gebildeten Urgebirgs. Dagegen bildet schiefriges Urgebirge und das schichtenförmig durch Wasser aufgelagerte Flötzgebirge im Allgemeinen ruhigere Formen. Durch den lebendig befriedigenden Charakter der gebogenen Linie erfreuen hier theils rundliche Kuppen und Kegel, umgestürzte Glocken, Mulden und Sättel, sanftere, geschwungene Absenkungen, theils zieht die gerade Linie in der breiten Fläche der Rücken und dem regelmäßigen Abfalle das Gemüth in's Weite. Die letztere Form wird durch ihren Mangel an Wechsel immer, die erstere, wenn sie bei geringerer Höhe lange in gleichen Wellen hin- zieht, leicht einförmig oder Schwermuth erregend.
1. Wenn hier eine allgemeine Charakterzeichnung der Profile der Hauptgebirgsarten versucht wird, so werden darum die vielerlei Ursachen,
§. 261.
Zuerſt bietet ſich der einfache Gegenſatz von aufſteigender und wagrecht ausgedehnter Form, von Berg und Ebene dar, beide wirken noch abgeſehen von ihrer näheren Beſchaffenheit in dem, §. 91, 3. ausgeſprochenen, Sinne. Die Berge treten zu Berggruppen, dieſe zu Gebirgen zuſammen, welche in ihren Gipfeln die Häupter, in ihren Ketten, Aeſten und Zweigen ihren Körper zeigen; hier erſt wird der nähere Unterſchied der äſthetiſchen Formen wichtig und tritt als Hauptgepräge ein Gegenſatz des formlos und des formeinhaltend Erhabenen (§. 87, 2.) oder des Erhabenen gegen das relativ Schöne hervor.
Der einzelne Berg kann natürlich die verſchiedenſten Formen haben, allein die Aeſthetik muß den bedeutenderen und umfaſſenderen Erſcheinungen zueilen. Daher wird zunächſt nur im Allgemeinen die das Gemüth aus- dehnende Wirkung der Ebene, die erhebende oder ängſtlich drohende der Erhebung hervorgehoben. Den Flachländer können Berge energiſch erfreuen, aber ſie können ihn auch drücken, mit Schwindel beängſtigen; der Berg- bewohner ſehnt ſich nach der Ebene, es wird ihm leicht und weit zu Muthe, aber die Einförmigkeit des Flachen verkehrt dieß Gefühl in Oede. Von der localen Phyſiognomie, Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit iſt hier noch nicht die Rede, es kommen nur die allgemeinen Verhältniſſe in Betracht. — Der große Unterſchied des äſthetiſchen Charakters der Gebirge wird nun im Folgenden beleuchtet werden.
§. 262.
Das formlos Erhabene erſcheint theils als Charakter einer plumpen und rauhen Maſſenhaftigkeit, theils durch kühne, vorherrſchend eckige und zackige Umriſſe als Charakter der Wildheit und Zerriſſenheit in den körnigen Geſteinen des durch Feuer gebildeten Urgebirgs. Dagegen bildet ſchiefriges Urgebirge und das ſchichtenförmig durch Waſſer aufgelagerte Flötzgebirge im Allgemeinen ruhigere Formen. Durch den lebendig befriedigenden Charakter der gebogenen Linie erfreuen hier theils rundliche Kuppen und Kegel, umgeſtürzte Glocken, Mulden und Sättel, ſanftere, geſchwungene Abſenkungen, theils zieht die gerade Linie in der breiten Fläche der Rücken und dem regelmäßigen Abfalle das Gemüth in’s Weite. Die letztere Form wird durch ihren Mangel an Wechſel immer, die erſtere, wenn ſie bei geringerer Höhe lange in gleichen Wellen hin- zieht, leicht einförmig oder Schwermuth erregend.
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§. 261.
Zuerſt bietet ſich der einfache Gegenſatz von aufſteigender und wagrecht
ausgedehnter Form, von Berg und Ebene dar, beide wirken noch abgeſehen von
ihrer näheren Beſchaffenheit in dem, §. 91, 3. ausgeſprochenen, Sinne. Die
Berge treten zu Berggruppen, dieſe zu Gebirgen zuſammen, welche in ihren
Gipfeln die Häupter, in ihren Ketten, Aeſten und Zweigen ihren Körper
zeigen; hier erſt wird der nähere Unterſchied der äſthetiſchen Formen wichtig
und tritt als Hauptgepräge ein Gegenſatz des formlos und des formeinhaltend
Erhabenen (§. 87, 2.) oder des Erhabenen gegen das relativ Schöne hervor.
Der einzelne Berg kann natürlich die verſchiedenſten Formen haben,
allein die Aeſthetik muß den bedeutenderen und umfaſſenderen Erſcheinungen
zueilen. Daher wird zunächſt nur im Allgemeinen die das Gemüth aus-
dehnende Wirkung der Ebene, die erhebende oder ängſtlich drohende der
Erhebung hervorgehoben. Den Flachländer können Berge energiſch erfreuen,
aber ſie können ihn auch drücken, mit Schwindel beängſtigen; der Berg-
bewohner ſehnt ſich nach der Ebene, es wird ihm leicht und weit zu Muthe,
aber die Einförmigkeit des Flachen verkehrt dieß Gefühl in Oede. Von
der localen Phyſiognomie, Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit iſt hier noch
nicht die Rede, es kommen nur die allgemeinen Verhältniſſe in Betracht. —
Der große Unterſchied des äſthetiſchen Charakters der Gebirge wird nun
im Folgenden beleuchtet werden.
§. 262.
Das formlos Erhabene erſcheint theils als Charakter einer plumpen und
rauhen Maſſenhaftigkeit, theils durch kühne, vorherrſchend eckige und zackige
Umriſſe als Charakter der Wildheit und Zerriſſenheit in den körnigen Geſteinen
des durch Feuer gebildeten Urgebirgs. Dagegen bildet ſchiefriges Urgebirge
und das ſchichtenförmig durch Waſſer aufgelagerte Flötzgebirge im Allgemeinen
ruhigere Formen. Durch den lebendig befriedigenden Charakter der gebogenen
Linie erfreuen hier theils rundliche Kuppen und Kegel, umgeſtürzte Glocken,
Mulden und Sättel, ſanftere, geſchwungene Abſenkungen, theils zieht die gerade
Linie in der breiten Fläche der Rücken und dem regelmäßigen Abfalle das
Gemüth in’s Weite. Die letztere Form wird durch ihren Mangel an Wechſel
immer, die erſtere, wenn ſie bei geringerer Höhe lange in gleichen Wellen hin-
zieht, leicht einförmig oder Schwermuth erregend.
1. Wenn hier eine allgemeine Charakterzeichnung der Profile der
Hauptgebirgsarten verſucht wird, ſo werden darum die vielerlei Urſachen,
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/78>, abgerufen am 07.01.2025.
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