Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.
diese Formen entstanden. Diese Umsetzung des geognostischen Wissens in §. 237. Das Reich des Naturschönen ist aber ungleich weiter als das Gebiet der Nichts ist klarer, als daß die ganze Welt der Freiheit zum Natur- 2*
dieſe Formen entſtanden. Dieſe Umſetzung des geognoſtiſchen Wiſſens in §. 237. Das Reich des Naturſchönen iſt aber ungleich weiter als das Gebiet der Nichts iſt klarer, als daß die ganze Welt der Freiheit zum Natur- 2*
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0031" n="19"/> dieſe Formen entſtanden. Dieſe Umſetzung des geognoſtiſchen Wiſſens in<lb/> die äſthetiſche Stimmung iſt nicht leicht, aber wie wichtig ſie iſt, kann<lb/> z. B. die einfache Vorſtellung zeigen, wenn man ſich einen Maler denkt,<lb/> der auf einer Studienreiſe begriffen von einem nahen Gebirge hört und<lb/> von der Gebirgsart Kunde erhält. Weiß er nun, welche Formen bei<lb/> dieſer oder jener Gebirgsart vorkommen, ſo kann ihn dieß entweder<lb/> beſtimmen, dieſelben aufzuſuchen und ihm reichen Gewinn an Studien<lb/> zuführen, oder es kann ihm, wenn er weiß, daß ſie unintereſſant ſind,<lb/> vergebliches Suchen erſparen. Ebenſo verhält es ſich mit Pflanzen,<lb/> Thieren u. ſ. w., und nicht umſonſt liest man Künſtlern Anatomie, denn<lb/> an ſich zwar brauchen ſie das Einzelne, was hinter der Oberfläche des<lb/> menſchlichen Organismus liegt, nicht zu kennen, aber ſie kennen die<lb/> Oberfläche erſt, wenn ſie wiſſen, nach welchen Geſetzen welche Theile in<lb/> Ruhe oder Bewegung auf der Oberfläche hervortreten oder zurücktreten<lb/> müßen. Mit aller gelehrten Naturkenntniß verhält es ſich demnach in<lb/> der Aeſthetik ſo: man muß jene in ſich aufnehmen, um ſie aufgenommen<lb/> zu <hi rendition="#g">haben</hi>, um ſie als eine gleichſam verdaute in die äſthetiſche Anſchauung<lb/> aufgehen zu laſſen; man muß wiſſen, um wieder zu vergeſſen, aber im<lb/> Vergeſſen bleibt eine Frucht von dem Gewußten.</hi> </p> </div><lb/> <div n="3"> <head>§. 237.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Das Reich des Naturſchönen iſt aber ungleich weiter als das Gebiet der<lb/> Naturwiſſenſchaft. Dieſe ſchließt das menſchliche Leben von dem Punkte an,<lb/> wo es durch Freiheit die Natur überwindet, von ſich aus; nicht ſo die Lehre<lb/> vom Naturſchönen. Hier liegt nicht der Gegenſatz von Natur und Geiſt über-<lb/> haupt, ſondern der Gegenſatz zwiſchen vorgefundener oder zufälliger und zwiſchen<lb/> einer ſolchen Schönheit vor, welche durch einen Willen, das Thun eines Subjects<lb/> entſteht. Zum Naturſchönen gehört alſo auch das perſönliche menſchliche Leben,<lb/> ſofern es, obwohl im Uebrigen ſelbſtbewußt und frei, diejenige Seite, nach<lb/> welcher es ſich als ſchön darſtellt, nicht als ſolche weiß und will, ſofern alſo<lb/> zwar der Inhalt deſſen, was es thut, nicht zufällig iſt, wohl aber die Form,<lb/> in welcher dieß Thun erſcheint.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">Nichts iſt klarer, als daß die ganze Welt der Freiheit zum Natur-<lb/> ſchönen gehört, ſofern die handelnden Perſonen nicht darnach fragen und<lb/> nicht darauf arbeiten, wie ſie in ihrem Thun ausſehen, ſofern alſo das, was<lb/> Zuſtände und Thaten ſchön macht, nicht als ſolches gewollt, ebendaher<lb/> zufällig und ein Werk unbewußter Kräfte iſt, wie die Schönheit der auch<lb/> außer der Aeſthetik ſo genannten, der ungeiſtigen Natur. Eine Schlacht, eine<lb/> Heldenthat in dieſer Schlacht mag den edelſten Gütern der Menſchheit gelten</hi><lb/> <fw place="bottom" type="sig">2*</fw><lb/> </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [19/0031]
dieſe Formen entſtanden. Dieſe Umſetzung des geognoſtiſchen Wiſſens in
die äſthetiſche Stimmung iſt nicht leicht, aber wie wichtig ſie iſt, kann
z. B. die einfache Vorſtellung zeigen, wenn man ſich einen Maler denkt,
der auf einer Studienreiſe begriffen von einem nahen Gebirge hört und
von der Gebirgsart Kunde erhält. Weiß er nun, welche Formen bei
dieſer oder jener Gebirgsart vorkommen, ſo kann ihn dieß entweder
beſtimmen, dieſelben aufzuſuchen und ihm reichen Gewinn an Studien
zuführen, oder es kann ihm, wenn er weiß, daß ſie unintereſſant ſind,
vergebliches Suchen erſparen. Ebenſo verhält es ſich mit Pflanzen,
Thieren u. ſ. w., und nicht umſonſt liest man Künſtlern Anatomie, denn
an ſich zwar brauchen ſie das Einzelne, was hinter der Oberfläche des
menſchlichen Organismus liegt, nicht zu kennen, aber ſie kennen die
Oberfläche erſt, wenn ſie wiſſen, nach welchen Geſetzen welche Theile in
Ruhe oder Bewegung auf der Oberfläche hervortreten oder zurücktreten
müßen. Mit aller gelehrten Naturkenntniß verhält es ſich demnach in
der Aeſthetik ſo: man muß jene in ſich aufnehmen, um ſie aufgenommen
zu haben, um ſie als eine gleichſam verdaute in die äſthetiſche Anſchauung
aufgehen zu laſſen; man muß wiſſen, um wieder zu vergeſſen, aber im
Vergeſſen bleibt eine Frucht von dem Gewußten.
§. 237.
Das Reich des Naturſchönen iſt aber ungleich weiter als das Gebiet der
Naturwiſſenſchaft. Dieſe ſchließt das menſchliche Leben von dem Punkte an,
wo es durch Freiheit die Natur überwindet, von ſich aus; nicht ſo die Lehre
vom Naturſchönen. Hier liegt nicht der Gegenſatz von Natur und Geiſt über-
haupt, ſondern der Gegenſatz zwiſchen vorgefundener oder zufälliger und zwiſchen
einer ſolchen Schönheit vor, welche durch einen Willen, das Thun eines Subjects
entſteht. Zum Naturſchönen gehört alſo auch das perſönliche menſchliche Leben,
ſofern es, obwohl im Uebrigen ſelbſtbewußt und frei, diejenige Seite, nach
welcher es ſich als ſchön darſtellt, nicht als ſolche weiß und will, ſofern alſo
zwar der Inhalt deſſen, was es thut, nicht zufällig iſt, wohl aber die Form,
in welcher dieß Thun erſcheint.
Nichts iſt klarer, als daß die ganze Welt der Freiheit zum Natur-
ſchönen gehört, ſofern die handelnden Perſonen nicht darnach fragen und
nicht darauf arbeiten, wie ſie in ihrem Thun ausſehen, ſofern alſo das, was
Zuſtände und Thaten ſchön macht, nicht als ſolches gewollt, ebendaher
zufällig und ein Werk unbewußter Kräfte iſt, wie die Schönheit der auch
außer der Aeſthetik ſo genannten, der ungeiſtigen Natur. Eine Schlacht, eine
Heldenthat in dieſer Schlacht mag den edelſten Gütern der Menſchheit gelten
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