Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.
Leben des Individuums allen Naturton, alle Unmittelbarkeit genommen, §. 375. 1 Im Innern ermattend schwillt die Revolution in dem Helden des neun- 1. Es war in Napoleon etwas Antikes, eine objective Gewaltigkeit,
Leben des Individuums allen Naturton, alle Unmittelbarkeit genommen, §. 375. 1 Im Innern ermattend ſchwillt die Revolution in dem Helden des neun- 1. Es war in Napoleon etwas Antikes, eine objective Gewaltigkeit, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0300" n="288"/> Leben des Individuums allen Naturton, alle Unmittelbarkeit genommen,<lb/> alle Objectivität der Formen ſeines Lebens zerſtört, weggeätzt; man glaubte<lb/> ſich der eigentlich objectiven Lebensform, der claſſiſchen, nachzubilden, war<lb/> aber nie entfernter von ihr. Statt der Natur waltet die auf abſtracte<lb/> Begriffe gehetzte Wildheit; dieſe iſt ja nicht mit Natur zu verwechſeln.<lb/> Es iſt daher begreiflich, warum das äſthetiſche Intereſſe ſich mit Vorliebe<lb/> an die Opfer der Revolution, Adel und Thron, an die Reaction in der<lb/> Vend<hi rendition="#aq">é</hi>e, Bretagne hält. Wie gut und erhaben die Revolution in ihrer<lb/> Idee, wie ungeheuer das Böſe ſelbſt ſein mag, das ſich aus ihrer Ab-<lb/> ſtraction entfaltete: Alles hat den Scheidwaſſer-Charakter, der die Schönheit<lb/> abſtößt; dagegen iſt in den Anhängern des Alten noch gebildete, zwar<lb/> nach der Richtſchnur von Täuſchungen und Vorurtheilen gebildete Natur,<lb/> Reſt des Poſitiven, das zwar nicht mehr berechtigt iſt, aber doch geſchicht-<lb/> liche Farbe hat, übrigens natürlich unwahr dargeſtellt würde, wenn nicht<lb/> die tiefe Schuld mit zur Erſcheinung käme. Die Revolution will Geſchichte<lb/><hi rendition="#g">machen</hi>; gemachte Geſchichte iſt nicht äſthetiſch. Die Revolution ſoll<lb/> daher nach dem Mißlingen ihres erſten abſtracten Durchbruchs ſich mit<lb/> der Natur und der Ueberlieferung vermitteln, ſie ſoll Charakter des<lb/> Werdenden und Gewordenen annehmen, natürlich wachſen und erſt der<lb/> künftige Baum, der ſo gewachſen, verſpricht Schönheit.</hi> </p> </div><lb/> <div n="7"> <head>§. 375.</head><lb/> <note place="left"> <hi rendition="#fr">1</hi> </note> <p> <hi rendition="#fr">Im Innern ermattend ſchwillt die Revolution in dem Helden des neun-<lb/> zehnten Jahrhunderts über die Ufer, er gründet als Eroberer ein Weltreich.<lb/> Die Völker raffen ſich auf, die Idee des Vaterlands erwacht, das Weltreich<lb/><note place="left">2</note>wird zertrümmert. Aber während, was in der Revolution fruchtbar war, im<lb/> Schooße des Völkerlebens fortkeimt, ſinken die beſtehenden Zuſtände, ſelbſt<lb/> nach einer zweiten Revolution, in eine unkräftige Zuſammenſetzung des freien<lb/> und des monarchiſchen Elements; der Staat wird ganz zum Polizei- und<lb/> Schreiber-Staate, worin bei wachſender Theilung der Arbeit allgemeiner<lb/> Mechaniſmus den Charakter der Stände verwiſcht und die Individualität nach<lb/> außen ertödtet, ſo daß alle Lebendigkeit ſich in das Privatleben verkriecht, in<lb/> welchem zwar das längſt erweckte Alterthum eine Durchbildung und Ausrundung<lb/> der Perſönlichkeit, die nicht mehr Monopol der Vornehmen iſt, als Frucht<lb/> getragen hat, jedoch ohne Wirkung auf das Ganze des Lebens.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">1. Es war in Napoleon etwas Antikes, eine objective Gewaltigkeit,<lb/> eine Naturmacht. Der Kopf dieſes Italieners zeigt ein klaſſiſches Profil.<lb/> Dadurch und als Kriegsheld iſt er eine ungleich mehr äſthetiſche Erſchei-<lb/> nung, als die ganze Revolution. Dieſe Heerzüge, dieſe Schlachten ſind<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [288/0300]
Leben des Individuums allen Naturton, alle Unmittelbarkeit genommen,
alle Objectivität der Formen ſeines Lebens zerſtört, weggeätzt; man glaubte
ſich der eigentlich objectiven Lebensform, der claſſiſchen, nachzubilden, war
aber nie entfernter von ihr. Statt der Natur waltet die auf abſtracte
Begriffe gehetzte Wildheit; dieſe iſt ja nicht mit Natur zu verwechſeln.
Es iſt daher begreiflich, warum das äſthetiſche Intereſſe ſich mit Vorliebe
an die Opfer der Revolution, Adel und Thron, an die Reaction in der
Vendée, Bretagne hält. Wie gut und erhaben die Revolution in ihrer
Idee, wie ungeheuer das Böſe ſelbſt ſein mag, das ſich aus ihrer Ab-
ſtraction entfaltete: Alles hat den Scheidwaſſer-Charakter, der die Schönheit
abſtößt; dagegen iſt in den Anhängern des Alten noch gebildete, zwar
nach der Richtſchnur von Täuſchungen und Vorurtheilen gebildete Natur,
Reſt des Poſitiven, das zwar nicht mehr berechtigt iſt, aber doch geſchicht-
liche Farbe hat, übrigens natürlich unwahr dargeſtellt würde, wenn nicht
die tiefe Schuld mit zur Erſcheinung käme. Die Revolution will Geſchichte
machen; gemachte Geſchichte iſt nicht äſthetiſch. Die Revolution ſoll
daher nach dem Mißlingen ihres erſten abſtracten Durchbruchs ſich mit
der Natur und der Ueberlieferung vermitteln, ſie ſoll Charakter des
Werdenden und Gewordenen annehmen, natürlich wachſen und erſt der
künftige Baum, der ſo gewachſen, verſpricht Schönheit.
§. 375.
Im Innern ermattend ſchwillt die Revolution in dem Helden des neun-
zehnten Jahrhunderts über die Ufer, er gründet als Eroberer ein Weltreich.
Die Völker raffen ſich auf, die Idee des Vaterlands erwacht, das Weltreich
wird zertrümmert. Aber während, was in der Revolution fruchtbar war, im
Schooße des Völkerlebens fortkeimt, ſinken die beſtehenden Zuſtände, ſelbſt
nach einer zweiten Revolution, in eine unkräftige Zuſammenſetzung des freien
und des monarchiſchen Elements; der Staat wird ganz zum Polizei- und
Schreiber-Staate, worin bei wachſender Theilung der Arbeit allgemeiner
Mechaniſmus den Charakter der Stände verwiſcht und die Individualität nach
außen ertödtet, ſo daß alle Lebendigkeit ſich in das Privatleben verkriecht, in
welchem zwar das längſt erweckte Alterthum eine Durchbildung und Ausrundung
der Perſönlichkeit, die nicht mehr Monopol der Vornehmen iſt, als Frucht
getragen hat, jedoch ohne Wirkung auf das Ganze des Lebens.
1. Es war in Napoleon etwas Antikes, eine objective Gewaltigkeit,
eine Naturmacht. Der Kopf dieſes Italieners zeigt ein klaſſiſches Profil.
Dadurch und als Kriegsheld iſt er eine ungleich mehr äſthetiſche Erſchei-
nung, als die ganze Revolution. Dieſe Heerzüge, dieſe Schlachten ſind
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