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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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der Verdammung der Natur, der verdorbenen Phantasie, die in jeder
Freude Sünde sucht, der Heimlichkeit der zurückgedrückten Sinnlichkeit,
verachtet Form und Grazie, hat nicht den objectiven Ton und Rückhalt
in großer Macht und ist dafür um so viel verbissener, subjectiv gekniffener.
-- Fanatische Sekten wie die Wiedertäufer sind ein widerwärtiger Stoff.
Freund und Feind sind in den Auftritten zu Münster gleich elend; hier
sollte man nicht hineingreifen, kaum zu komischen Zwecken. Fanatisch,
aber doch groß und heroisch treten dagegen die Hussiten auf, die wir
nachher erwähnen.

§. 368.

Schön aber ist der erste Kampf der Reformation mit der bestehenden1
Welt. Große Männer treten auf und große Thaten geschehen. Sie erweckt2
ferner auch das Volk zum Bewußtsein der Freiheit; es tritt aus dem Dunkel
hervor, aber der Bauernkrieg endet blutig. Glücklich kämpft England, ebenso3
nach tragischen Wechseln die Niederlande, furchtbar leiden die Hugenotten.
Ein dreißigjähriger Krieg, zwar voll großer Erscheinungen, entfesselt die
Leidenschaften zu allgemeiner Wildheit, verwüstet und zerreißt Deutschland,
wirft den Charakter des deutschen Volks in die Einseitigkeit subjectiver Bildung
zurück. Eine blutige Umwälzung vollführt der Protestantismus in England.

1. Franz von Sickingen, Ulrich von Hutten, Luther, besonders auf
dem Reichstage zu Worms, wackere Gestalten der ersten protestantischen
Fürsten. Schmalkaldischer Krieg. Moriz von Sachsen. Höchst schlagender
Gegensatz in der Vertretung des katholischen Prinzips durch die vornehme,
spanische Grandezza, die durchaus politische, dem Gemüthsgehalte der
Reformation gänzlich fremde Natur Carls V. Dessen Schicksal, Lebens-
müde, Abdankung, Zurückziehung in's Kloster. (Biefves bekanntes Bild).
Schweiz: Zwingli, fällt auf dem Schlachtfelde. Hier sind schon überall
Stoffe, die der Gegenwart sich vertraut darbieten, Frühlingswehen des
neuen im Kampf mit Grabeshauch des alten Geistes; das sechzehnte Jahr-
hundert ist dem unsern so vielfach verwandt, daß sein bewegtes Leben
unter die fruchtbarsten, der Sympathie sichersten Fundgruben gehört.

2. Der Bauernkrieg zeigt zunächst überhaupt das Erwachen des Volkes
an. Dieß ist nicht nur in politischem Sinne, sondern auch in Betreff der Sitten
und Formen, namentlich für Deutschland, äußerst wichtig. Die adelige Fein-
heit verschwindet, derbe, bäurische Lust lärmt, trinkt, singt. (Fischarts ganzer
Ton und besonders seine Trinkstube. Stoffe der niederländischen Maler).
Doch gilt dieß in Deutschland mehr vom Bürgerstande; die Bauern suchen
sich aus furchtbarem Druck erst aufzuraffen. Die geistige Befreiung

Vischer's Aesthetik. 2. Band. 18

der Verdammung der Natur, der verdorbenen Phantaſie, die in jeder
Freude Sünde ſucht, der Heimlichkeit der zurückgedrückten Sinnlichkeit,
verachtet Form und Grazie, hat nicht den objectiven Ton und Rückhalt
in großer Macht und iſt dafür um ſo viel verbiſſener, ſubjectiv gekniffener.
— Fanatiſche Sekten wie die Wiedertäufer ſind ein widerwärtiger Stoff.
Freund und Feind ſind in den Auftritten zu Münſter gleich elend; hier
ſollte man nicht hineingreifen, kaum zu komiſchen Zwecken. Fanatiſch,
aber doch groß und heroiſch treten dagegen die Huſſiten auf, die wir
nachher erwähnen.

§. 368.

Schön aber iſt der erſte Kampf der Reformation mit der beſtehenden1
Welt. Große Männer treten auf und große Thaten geſchehen. Sie erweckt2
ferner auch das Volk zum Bewußtſein der Freiheit; es tritt aus dem Dunkel
hervor, aber der Bauernkrieg endet blutig. Glücklich kämpft England, ebenſo3
nach tragiſchen Wechſeln die Niederlande, furchtbar leiden die Hugenotten.
Ein dreißigjähriger Krieg, zwar voll großer Erſcheinungen, entfeſſelt die
Leidenſchaften zu allgemeiner Wildheit, verwüſtet und zerreißt Deutſchland,
wirft den Charakter des deutſchen Volks in die Einſeitigkeit ſubjectiver Bildung
zurück. Eine blutige Umwälzung vollführt der Proteſtantiſmus in England.

1. Franz von Sickingen, Ulrich von Hutten, Luther, beſonders auf
dem Reichstage zu Worms, wackere Geſtalten der erſten proteſtantiſchen
Fürſten. Schmalkaldiſcher Krieg. Moriz von Sachſen. Höchſt ſchlagender
Gegenſatz in der Vertretung des katholiſchen Prinzips durch die vornehme,
ſpaniſche Grandezza, die durchaus politiſche, dem Gemüthsgehalte der
Reformation gänzlich fremde Natur Carls V. Deſſen Schickſal, Lebens-
müde, Abdankung, Zurückziehung in’s Kloſter. (Bièfves bekanntes Bild).
Schweiz: Zwingli, fällt auf dem Schlachtfelde. Hier ſind ſchon überall
Stoffe, die der Gegenwart ſich vertraut darbieten, Frühlingswehen des
neuen im Kampf mit Grabeshauch des alten Geiſtes; das ſechzehnte Jahr-
hundert iſt dem unſern ſo vielfach verwandt, daß ſein bewegtes Leben
unter die fruchtbarſten, der Sympathie ſicherſten Fundgruben gehört.

2. Der Bauernkrieg zeigt zunächſt überhaupt das Erwachen des Volkes
an. Dieß iſt nicht nur in politiſchem Sinne, ſondern auch in Betreff der Sitten
und Formen, namentlich für Deutſchland, äußerſt wichtig. Die adelige Fein-
heit verſchwindet, derbe, bäuriſche Luſt lärmt, trinkt, ſingt. (Fiſcharts ganzer
Ton und beſonders ſeine Trinkſtube. Stoffe der niederländiſchen Maler).
Doch gilt dieß in Deutſchland mehr vom Bürgerſtande; die Bauern ſuchen
ſich aus furchtbarem Druck erſt aufzuraffen. Die geiſtige Befreiung

Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 18
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[273/0285] der Verdammung der Natur, der verdorbenen Phantaſie, die in jeder Freude Sünde ſucht, der Heimlichkeit der zurückgedrückten Sinnlichkeit, verachtet Form und Grazie, hat nicht den objectiven Ton und Rückhalt in großer Macht und iſt dafür um ſo viel verbiſſener, ſubjectiv gekniffener. — Fanatiſche Sekten wie die Wiedertäufer ſind ein widerwärtiger Stoff. Freund und Feind ſind in den Auftritten zu Münſter gleich elend; hier ſollte man nicht hineingreifen, kaum zu komiſchen Zwecken. Fanatiſch, aber doch groß und heroiſch treten dagegen die Huſſiten auf, die wir nachher erwähnen. §. 368. Schön aber iſt der erſte Kampf der Reformation mit der beſtehenden Welt. Große Männer treten auf und große Thaten geſchehen. Sie erweckt ferner auch das Volk zum Bewußtſein der Freiheit; es tritt aus dem Dunkel hervor, aber der Bauernkrieg endet blutig. Glücklich kämpft England, ebenſo nach tragiſchen Wechſeln die Niederlande, furchtbar leiden die Hugenotten. Ein dreißigjähriger Krieg, zwar voll großer Erſcheinungen, entfeſſelt die Leidenſchaften zu allgemeiner Wildheit, verwüſtet und zerreißt Deutſchland, wirft den Charakter des deutſchen Volks in die Einſeitigkeit ſubjectiver Bildung zurück. Eine blutige Umwälzung vollführt der Proteſtantiſmus in England. 1. Franz von Sickingen, Ulrich von Hutten, Luther, beſonders auf dem Reichstage zu Worms, wackere Geſtalten der erſten proteſtantiſchen Fürſten. Schmalkaldiſcher Krieg. Moriz von Sachſen. Höchſt ſchlagender Gegenſatz in der Vertretung des katholiſchen Prinzips durch die vornehme, ſpaniſche Grandezza, die durchaus politiſche, dem Gemüthsgehalte der Reformation gänzlich fremde Natur Carls V. Deſſen Schickſal, Lebens- müde, Abdankung, Zurückziehung in’s Kloſter. (Bièfves bekanntes Bild). Schweiz: Zwingli, fällt auf dem Schlachtfelde. Hier ſind ſchon überall Stoffe, die der Gegenwart ſich vertraut darbieten, Frühlingswehen des neuen im Kampf mit Grabeshauch des alten Geiſtes; das ſechzehnte Jahr- hundert iſt dem unſern ſo vielfach verwandt, daß ſein bewegtes Leben unter die fruchtbarſten, der Sympathie ſicherſten Fundgruben gehört. 2. Der Bauernkrieg zeigt zunächſt überhaupt das Erwachen des Volkes an. Dieß iſt nicht nur in politiſchem Sinne, ſondern auch in Betreff der Sitten und Formen, namentlich für Deutſchland, äußerſt wichtig. Die adelige Fein- heit verſchwindet, derbe, bäuriſche Luſt lärmt, trinkt, ſingt. (Fiſcharts ganzer Ton und beſonders ſeine Trinkſtube. Stoffe der niederländiſchen Maler). Doch gilt dieß in Deutſchland mehr vom Bürgerſtande; die Bauern ſuchen ſich aus furchtbarem Druck erſt aufzuraffen. Die geiſtige Befreiung Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 18

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 273. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/285>, abgerufen am 21.11.2024.