Es tritt nun das System einer großen, bisher noch ungelösten, ja in ihrem ganzen Umfang noch nicht einmal gestellten und unendlich schwierigen Aufgabe entgegen. Die Physiognomik der Natur, welche diese Aufgabe ist, fordert eine Verbindung des Naturforschers und des Aesthetikers, welche in der unvermeidlichen Theilung subjectiver Kräfte vielleicht überhaupt nicht möglich ist. Der Aesthetiker müßte mit umfassender naturwissenschaftlicher Bildung ausgerüstet sein und der Naturforscher nicht nur mit philosophischer Einsicht in das Wesen des Schönen, sondern mit dem feinen Gefühle, dem speziellen erfahrungsreichen Formsinn des Künstlers. Die Natur- kenntniß müßte gerade deßwegen um so gründlicher und vollständiger sein, weil es gälte, über die ganze Masse des Stoffs mit der vollkommenen Freiheit des geläufigen Ueberblicks verfügen zu können, mit raschem Blicke zu unterscheiden, was für die Aesthetik brauchbar, was der Naturwissenschaft als solcher zu überlassen sei, und ebendarum müßte mit dieser umfassenden Naturkenntniß das Auge des Künstlers für die Form vereinigt sein. Die höchste bis jetzt gekannte Einheit des Naturforschers und des formfühlenden Auges ist in Ritter u. A. v. Humboldt aufgetreten, allein liest man z. B. die Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse, worin der Letztere ausdrücklich der Aesthetik in die Hand arbeiten wollte, so erkennt man sogleich, daß der Verf. doch viel zu bestimmt auf der Seite der Natur- forschung steht, um der Aesthetik zu genügen, denn diese hätte an den Botaniker noch eine Menge wesentlicher Fragen über die richtigste Anordnung der Pflanzen in Rücksicht auf die äußere Physiognomie ihres Baus, welche Humboldts geistvolle Skizze unbeantwortet läßt. Ist es äußerst schwer, auch nur in einem einzelnen Zweige der Naturwissenschaft, wie Geognosie und Botanik, den Blick auf die Form, welcher der Aesthetik, und den Blick in die innere Bildung, welcher der Naturwissenschaft eigen ist, so zu vereinigen, daß jener von diesem nur überall das entlehnt, was für ihn abfällt und dieser jenem das in die Hände arbeitet, was er braucht, so wird die Schwierigkeit unendlich, wenn man erwägt, daß die Aesthetik von einer umfassenden Kenntniß aller Naturreiche unterstützt sein müßte und daß auch der erbetene Rath wenig abwirft, weil er vor Allem die absolute Verschiedenheit der Standpunkte aufdeckt und die Stelle, wo die Aesthetik soviel vorgearbeitet finden sollte, um von der Naturkenntniß das Feinste für ihren Zweck abschöpfen zu können, als eine noch unbebaute aufzeigt. Im Angesichte einer solchen Aufgabe wird der folgende schwache und dürftige Versuch Nachsicht verdienen.
§. 236.
Der wesentliche Unterschied beider Gebiete ist darum nicht zu verkennen,1 denn die Naturgeschichte behandelt, vom Standpunkte der Aesthetik betrachtet,
Es tritt nun das Syſtem einer großen, bisher noch ungelösten, ja in ihrem ganzen Umfang noch nicht einmal geſtellten und unendlich ſchwierigen Aufgabe entgegen. Die Phyſiognomik der Natur, welche dieſe Aufgabe iſt, fordert eine Verbindung des Naturforſchers und des Aeſthetikers, welche in der unvermeidlichen Theilung ſubjectiver Kräfte vielleicht überhaupt nicht möglich iſt. Der Aeſthetiker müßte mit umfaſſender naturwiſſenſchaftlicher Bildung ausgerüſtet ſein und der Naturforſcher nicht nur mit philoſophiſcher Einſicht in das Weſen des Schönen, ſondern mit dem feinen Gefühle, dem ſpeziellen erfahrungsreichen Formſinn des Künſtlers. Die Natur- kenntniß müßte gerade deßwegen um ſo gründlicher und vollſtändiger ſein, weil es gälte, über die ganze Maſſe des Stoffs mit der vollkommenen Freiheit des geläufigen Ueberblicks verfügen zu können, mit raſchem Blicke zu unterſcheiden, was für die Aeſthetik brauchbar, was der Naturwiſſenſchaft als ſolcher zu überlaſſen ſei, und ebendarum müßte mit dieſer umfaſſenden Naturkenntniß das Auge des Künſtlers für die Form vereinigt ſein. Die höchſte bis jetzt gekannte Einheit des Naturforſchers und des formfühlenden Auges iſt in Ritter u. A. v. Humboldt aufgetreten, allein liest man z. B. die Ideen zu einer Phyſiognomik der Gewächſe, worin der Letztere ausdrücklich der Aeſthetik in die Hand arbeiten wollte, ſo erkennt man ſogleich, daß der Verf. doch viel zu beſtimmt auf der Seite der Natur- forſchung ſteht, um der Aeſthetik zu genügen, denn dieſe hätte an den Botaniker noch eine Menge weſentlicher Fragen über die richtigſte Anordnung der Pflanzen in Rückſicht auf die äußere Phyſiognomie ihres Baus, welche Humboldts geiſtvolle Skizze unbeantwortet läßt. Iſt es äußerſt ſchwer, auch nur in einem einzelnen Zweige der Naturwiſſenſchaft, wie Geognoſie und Botanik, den Blick auf die Form, welcher der Aeſthetik, und den Blick in die innere Bildung, welcher der Naturwiſſenſchaft eigen iſt, ſo zu vereinigen, daß jener von dieſem nur überall das entlehnt, was für ihn abfällt und dieſer jenem das in die Hände arbeitet, was er braucht, ſo wird die Schwierigkeit unendlich, wenn man erwägt, daß die Aeſthetik von einer umfaſſenden Kenntniß aller Naturreiche unterſtützt ſein müßte und daß auch der erbetene Rath wenig abwirft, weil er vor Allem die abſolute Verſchiedenheit der Standpunkte aufdeckt und die Stelle, wo die Aeſthetik ſoviel vorgearbeitet finden ſollte, um von der Naturkenntniß das Feinſte für ihren Zweck abſchöpfen zu können, als eine noch unbebaute aufzeigt. Im Angeſichte einer ſolchen Aufgabe wird der folgende ſchwache und dürftige Verſuch Nachſicht verdienen.
§. 236.
Der weſentliche Unterſchied beider Gebiete iſt darum nicht zu verkennen,1 denn die Naturgeſchichte behandelt, vom Standpunkte der Aeſthetik betrachtet,
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Es tritt nun das Syſtem einer großen, bisher noch ungelösten, ja
in ihrem ganzen Umfang noch nicht einmal geſtellten und unendlich ſchwierigen
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iſt, fordert eine Verbindung des Naturforſchers und des Aeſthetikers, welche
in der unvermeidlichen Theilung ſubjectiver Kräfte vielleicht überhaupt nicht
möglich iſt. Der Aeſthetiker müßte mit umfaſſender naturwiſſenſchaftlicher
Bildung ausgerüſtet ſein und der Naturforſcher nicht nur mit philoſophiſcher
Einſicht in das Weſen des Schönen, ſondern mit dem feinen Gefühle,
dem ſpeziellen erfahrungsreichen Formſinn des Künſtlers. Die Natur-
kenntniß müßte gerade deßwegen um ſo gründlicher und vollſtändiger ſein,
weil es gälte, über die ganze Maſſe des Stoffs mit der vollkommenen
Freiheit des geläufigen Ueberblicks verfügen zu können, mit raſchem Blicke
zu unterſcheiden, was für die Aeſthetik brauchbar, was der Naturwiſſenſchaft
als ſolcher zu überlaſſen ſei, und ebendarum müßte mit dieſer umfaſſenden
Naturkenntniß das Auge des Künſtlers für die Form vereinigt ſein. Die
höchſte bis jetzt gekannte Einheit des Naturforſchers und des formfühlenden
Auges iſt in Ritter u. A. v. Humboldt aufgetreten, allein liest man
z. B. die Ideen zu einer Phyſiognomik der Gewächſe, worin der Letztere
ausdrücklich der Aeſthetik in die Hand arbeiten wollte, ſo erkennt man
ſogleich, daß der Verf. doch viel zu beſtimmt auf der Seite der Natur-
forſchung ſteht, um der Aeſthetik zu genügen, denn dieſe hätte an den
Botaniker noch eine Menge weſentlicher Fragen über die richtigſte Anordnung
der Pflanzen in Rückſicht auf die äußere Phyſiognomie ihres Baus, welche
Humboldts geiſtvolle Skizze unbeantwortet läßt. Iſt es äußerſt ſchwer,
auch nur in einem einzelnen Zweige der Naturwiſſenſchaft, wie Geognoſie
und Botanik, den Blick auf die Form, welcher der Aeſthetik, und den
Blick in die innere Bildung, welcher der Naturwiſſenſchaft eigen iſt, ſo zu
vereinigen, daß jener von dieſem nur überall das entlehnt, was für ihn
abfällt und dieſer jenem das in die Hände arbeitet, was er braucht, ſo
wird die Schwierigkeit unendlich, wenn man erwägt, daß die Aeſthetik
von einer umfaſſenden Kenntniß aller Naturreiche unterſtützt ſein müßte
und daß auch der erbetene Rath wenig abwirft, weil er vor Allem die
abſolute Verſchiedenheit der Standpunkte aufdeckt und die Stelle, wo die
Aeſthetik ſoviel vorgearbeitet finden ſollte, um von der Naturkenntniß das
Feinſte für ihren Zweck abſchöpfen zu können, als eine noch unbebaute
aufzeigt. Im Angeſichte einer ſolchen Aufgabe wird der folgende ſchwache
und dürftige Verſuch Nachſicht verdienen.
§. 236.
Der weſentliche Unterſchied beider Gebiete iſt darum nicht zu verkennen,
denn die Naturgeſchichte behandelt, vom Standpunkte der Aeſthetik betrachtet,
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/25>, abgerufen am 22.02.2025.
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