Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.Es tritt nun das System einer großen, bisher noch ungelösten, ja §. 236. Der wesentliche Unterschied beider Gebiete ist darum nicht zu verkennen,1 Es tritt nun das Syſtem einer großen, bisher noch ungelösten, ja §. 236. Der weſentliche Unterſchied beider Gebiete iſt darum nicht zu verkennen,1 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0025" n="13"/> <p> <hi rendition="#et">Es tritt nun das Syſtem einer großen, bisher noch ungelösten, ja<lb/> in ihrem ganzen Umfang noch nicht einmal geſtellten und unendlich ſchwierigen<lb/> Aufgabe entgegen. Die Phyſiognomik der Natur, welche dieſe Aufgabe<lb/> iſt, fordert eine Verbindung des Naturforſchers und des Aeſthetikers, welche<lb/> in der unvermeidlichen Theilung ſubjectiver Kräfte vielleicht überhaupt nicht<lb/> möglich iſt. Der Aeſthetiker müßte mit umfaſſender naturwiſſenſchaftlicher<lb/> Bildung ausgerüſtet ſein und der Naturforſcher nicht nur mit philoſophiſcher<lb/> Einſicht in das Weſen des Schönen, ſondern mit dem feinen Gefühle,<lb/> dem ſpeziellen erfahrungsreichen Formſinn des Künſtlers. Die Natur-<lb/> kenntniß müßte gerade deßwegen um ſo gründlicher und vollſtändiger ſein,<lb/> weil es gälte, über die ganze Maſſe des Stoffs mit der vollkommenen<lb/> Freiheit des geläufigen Ueberblicks verfügen zu können, mit raſchem Blicke<lb/> zu unterſcheiden, was für die Aeſthetik brauchbar, was der Naturwiſſenſchaft<lb/> als ſolcher zu überlaſſen ſei, und ebendarum müßte mit dieſer umfaſſenden<lb/> Naturkenntniß das Auge des Künſtlers für die Form vereinigt ſein. Die<lb/> höchſte bis jetzt gekannte Einheit des Naturforſchers und des formfühlenden<lb/> Auges iſt in <hi rendition="#g">Ritter</hi> u. A. v. <hi rendition="#g">Humboldt</hi> aufgetreten, allein liest man<lb/> z. B. die Ideen zu einer Phyſiognomik der Gewächſe, worin der Letztere<lb/> ausdrücklich der Aeſthetik in die Hand arbeiten wollte, ſo erkennt man<lb/> ſogleich, daß der Verf. doch viel zu beſtimmt auf der Seite der Natur-<lb/> forſchung ſteht, um der Aeſthetik zu genügen, denn dieſe hätte an den<lb/> Botaniker noch eine Menge weſentlicher Fragen über die richtigſte Anordnung<lb/> der Pflanzen in Rückſicht auf die äußere Phyſiognomie ihres Baus, welche<lb/><hi rendition="#g">Humboldts</hi> geiſtvolle Skizze unbeantwortet läßt. Iſt es äußerſt ſchwer,<lb/> auch nur in einem einzelnen Zweige der Naturwiſſenſchaft, wie Geognoſie<lb/> und Botanik, den Blick auf die Form, welcher der Aeſthetik, und den<lb/> Blick in die innere Bildung, welcher der Naturwiſſenſchaft eigen iſt, ſo zu<lb/> vereinigen, daß jener von dieſem nur überall das entlehnt, was für ihn<lb/> abfällt und dieſer jenem das in die Hände arbeitet, was er braucht, ſo<lb/> wird die Schwierigkeit unendlich, wenn man erwägt, daß die Aeſthetik<lb/> von einer umfaſſenden Kenntniß aller Naturreiche unterſtützt ſein müßte<lb/> und daß auch der erbetene Rath wenig abwirft, weil er vor Allem die<lb/> abſolute Verſchiedenheit der Standpunkte aufdeckt und die Stelle, wo die<lb/> Aeſthetik ſoviel vorgearbeitet finden ſollte, um von der Naturkenntniß das<lb/> Feinſte für ihren Zweck abſchöpfen zu können, als eine noch unbebaute<lb/> aufzeigt. Im Angeſichte einer ſolchen Aufgabe wird der folgende ſchwache<lb/> und dürftige Verſuch Nachſicht verdienen.</hi> </p> </div><lb/> <div n="3"> <head>§. 236.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Der weſentliche Unterſchied beider Gebiete iſt darum nicht zu verkennen,<note place="right">1</note><lb/> denn die Naturgeſchichte behandelt, vom Standpunkte der Aeſthetik betrachtet,<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [13/0025]
Es tritt nun das Syſtem einer großen, bisher noch ungelösten, ja
in ihrem ganzen Umfang noch nicht einmal geſtellten und unendlich ſchwierigen
Aufgabe entgegen. Die Phyſiognomik der Natur, welche dieſe Aufgabe
iſt, fordert eine Verbindung des Naturforſchers und des Aeſthetikers, welche
in der unvermeidlichen Theilung ſubjectiver Kräfte vielleicht überhaupt nicht
möglich iſt. Der Aeſthetiker müßte mit umfaſſender naturwiſſenſchaftlicher
Bildung ausgerüſtet ſein und der Naturforſcher nicht nur mit philoſophiſcher
Einſicht in das Weſen des Schönen, ſondern mit dem feinen Gefühle,
dem ſpeziellen erfahrungsreichen Formſinn des Künſtlers. Die Natur-
kenntniß müßte gerade deßwegen um ſo gründlicher und vollſtändiger ſein,
weil es gälte, über die ganze Maſſe des Stoffs mit der vollkommenen
Freiheit des geläufigen Ueberblicks verfügen zu können, mit raſchem Blicke
zu unterſcheiden, was für die Aeſthetik brauchbar, was der Naturwiſſenſchaft
als ſolcher zu überlaſſen ſei, und ebendarum müßte mit dieſer umfaſſenden
Naturkenntniß das Auge des Künſtlers für die Form vereinigt ſein. Die
höchſte bis jetzt gekannte Einheit des Naturforſchers und des formfühlenden
Auges iſt in Ritter u. A. v. Humboldt aufgetreten, allein liest man
z. B. die Ideen zu einer Phyſiognomik der Gewächſe, worin der Letztere
ausdrücklich der Aeſthetik in die Hand arbeiten wollte, ſo erkennt man
ſogleich, daß der Verf. doch viel zu beſtimmt auf der Seite der Natur-
forſchung ſteht, um der Aeſthetik zu genügen, denn dieſe hätte an den
Botaniker noch eine Menge weſentlicher Fragen über die richtigſte Anordnung
der Pflanzen in Rückſicht auf die äußere Phyſiognomie ihres Baus, welche
Humboldts geiſtvolle Skizze unbeantwortet läßt. Iſt es äußerſt ſchwer,
auch nur in einem einzelnen Zweige der Naturwiſſenſchaft, wie Geognoſie
und Botanik, den Blick auf die Form, welcher der Aeſthetik, und den
Blick in die innere Bildung, welcher der Naturwiſſenſchaft eigen iſt, ſo zu
vereinigen, daß jener von dieſem nur überall das entlehnt, was für ihn
abfällt und dieſer jenem das in die Hände arbeitet, was er braucht, ſo
wird die Schwierigkeit unendlich, wenn man erwägt, daß die Aeſthetik
von einer umfaſſenden Kenntniß aller Naturreiche unterſtützt ſein müßte
und daß auch der erbetene Rath wenig abwirft, weil er vor Allem die
abſolute Verſchiedenheit der Standpunkte aufdeckt und die Stelle, wo die
Aeſthetik ſoviel vorgearbeitet finden ſollte, um von der Naturkenntniß das
Feinſte für ihren Zweck abſchöpfen zu können, als eine noch unbebaute
aufzeigt. Im Angeſichte einer ſolchen Aufgabe wird der folgende ſchwache
und dürftige Verſuch Nachſicht verdienen.
§. 236.
Der weſentliche Unterſchied beider Gebiete iſt darum nicht zu verkennen,
denn die Naturgeſchichte behandelt, vom Standpunkte der Aeſthetik betrachtet,
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