Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.
nastischen, die berühmten Spiele zu Olympia u. s. w. zur Seite. Hier §. 349. Freie Geistigkeit durchdringt in diesem Volke das sinnliche Leben und Die Griechen sind mündig ohne die Reflexion der subjectiven Moral
naſtiſchen, die berühmten Spiele zu Olympia u. ſ. w. zur Seite. Hier §. 349. Freie Geiſtigkeit durchdringt in dieſem Volke das ſinnliche Leben und Die Griechen ſind mündig ohne die Reflexion der ſubjectiven Moral <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0249" n="237"/> naſtiſchen, die berühmten Spiele zu Olympia u. ſ. w. zur Seite. Hier<lb/> zeigte der Grieche dem Gott und dem Volke ſeine Kraft und Schönheit<lb/> und dieß allein ſchon, daß dieß Volk ſolche Feſte hatte, ſtempelt es zum<lb/> ſchönen Volke. Solche Spiele waren ein Gottesdienſt und dieſer beſtand<lb/> überhaupt vorzüglich in Aufzügen, wo das Volk an ſeinem Reichthum,<lb/> dem Adel ſeiner Stände, der Schönheit ſeiner Jünglinge und Jungfrauen,<lb/> ſeiner Roſſe und Rinder ſich erfreute. Da war nicht traurige Entſagung,<lb/> Kloſterleben, Einſiedelei, dumpfes Brüten die eine, wilde Wolluſt, ſcheußliche<lb/> Selbſtvernichtung die andere Seite; das düſtere Geheimniß ſpielte an den<lb/> Rand gedrängt in den Myſterien nebenher, das blutige Menſchenopfer<lb/> wurde weggeworfen, der Cult war heiter und ſonnig wie das ganze Leben.</hi> </p> </div><lb/> <div n="7"> <head>§. 349.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Freie Geiſtigkeit durchdringt in dieſem Volke das ſinnliche Leben und<lb/> bindet es zur Einheit, es bildet ſich daher hier erſt ein <hi rendition="#g">ethiſcher</hi> Volks-<lb/> charakter. Da aber die geiſtige Einheit nicht zum Bruche der Subjectivität mit<lb/> der Natur, des Individuellen mit dem Allgemeinen fortgeht, ſo herrſcht das<lb/> Ethiſche durchaus in der <hi rendition="#g">liberalen</hi> Form des Maßhaltenden Inſtincts,<lb/> behält die Friſche und Zufälligkeit des Naturtons. Das Leben iſt ungehemmt<lb/> von Satzung und doch geregelt, Sitte herrſcht bewußt und unbewußt zugleich,<lb/> frei unterſcheiden und gliedern ſich die Sphären des Lebens und breitet ſich in<lb/> der vielſeitigſten Bildung und Thätigkeit reine Menſchlichkeit aus.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">Die Griechen ſind mündig ohne die Reflexion der ſubjectiven Moral<lb/> und ohne den Staatsbegriff, der den Einzelnen privatrechtlich dem Ganzen,<lb/> für das er Andere ſorgen läßt, gegenüberſtellt. Da ſcheint nun jeder Compaß<lb/> unmöglich und ebendaher das Gängelband der Prieſtergewalt nöthig zu ſein,<lb/> und doch führt ſie frei ihr ſittliches Gefühl. Die Sitte herrſcht, ohne daß<lb/> man ſich Gründe angibt, politiſche Tugend herrſcht ohne Polizei. Dieß<lb/> eben iſt das ſchöne Geheimniß. So haben ſie auch kein Dogma und ſind<lb/> doch religiös. Es iſt Einem hier, wenn man von den Orientalen kommt, zu<lb/> Muthe, als ſprängen Riemen und Knebel vom Leibe; man athmet leicht auf.<lb/> Mit der Prieſterherrſchaft hört auch die Vermengung aller Sphären, wie ſie<lb/> im Orient beſtand, auf. Kunſt, Wiſſenſchaft, Staat, jede Thätigkeit löst ſich<lb/> vom Ganzen und doch bleibt organiſche Einheit. Kein Volk hat bekanntlich<lb/> ſo vielſeitig alle Kreiſe menſchlicher Thätigkeit durchlaufen, es ſind auch in<lb/> dieſem Sinne ganze Menſchen. Die geiſtigſte Blüthe dieſer Bildung iſt die<lb/> Philoſophie. Das reine Denken ſelbſt bleibt aber objectiv; wie es ſubjectiv<lb/> wird und als kritiſches Selbſtbewußtſein ſich auch vom Sittlichen Rechenſchaft<lb/> gibt, iſt es auch ein Symptom der Auflöſung des griechiſchen Lebens.</hi> </p> </div><lb/> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [237/0249]
naſtiſchen, die berühmten Spiele zu Olympia u. ſ. w. zur Seite. Hier
zeigte der Grieche dem Gott und dem Volke ſeine Kraft und Schönheit
und dieß allein ſchon, daß dieß Volk ſolche Feſte hatte, ſtempelt es zum
ſchönen Volke. Solche Spiele waren ein Gottesdienſt und dieſer beſtand
überhaupt vorzüglich in Aufzügen, wo das Volk an ſeinem Reichthum,
dem Adel ſeiner Stände, der Schönheit ſeiner Jünglinge und Jungfrauen,
ſeiner Roſſe und Rinder ſich erfreute. Da war nicht traurige Entſagung,
Kloſterleben, Einſiedelei, dumpfes Brüten die eine, wilde Wolluſt, ſcheußliche
Selbſtvernichtung die andere Seite; das düſtere Geheimniß ſpielte an den
Rand gedrängt in den Myſterien nebenher, das blutige Menſchenopfer
wurde weggeworfen, der Cult war heiter und ſonnig wie das ganze Leben.
§. 349.
Freie Geiſtigkeit durchdringt in dieſem Volke das ſinnliche Leben und
bindet es zur Einheit, es bildet ſich daher hier erſt ein ethiſcher Volks-
charakter. Da aber die geiſtige Einheit nicht zum Bruche der Subjectivität mit
der Natur, des Individuellen mit dem Allgemeinen fortgeht, ſo herrſcht das
Ethiſche durchaus in der liberalen Form des Maßhaltenden Inſtincts,
behält die Friſche und Zufälligkeit des Naturtons. Das Leben iſt ungehemmt
von Satzung und doch geregelt, Sitte herrſcht bewußt und unbewußt zugleich,
frei unterſcheiden und gliedern ſich die Sphären des Lebens und breitet ſich in
der vielſeitigſten Bildung und Thätigkeit reine Menſchlichkeit aus.
Die Griechen ſind mündig ohne die Reflexion der ſubjectiven Moral
und ohne den Staatsbegriff, der den Einzelnen privatrechtlich dem Ganzen,
für das er Andere ſorgen läßt, gegenüberſtellt. Da ſcheint nun jeder Compaß
unmöglich und ebendaher das Gängelband der Prieſtergewalt nöthig zu ſein,
und doch führt ſie frei ihr ſittliches Gefühl. Die Sitte herrſcht, ohne daß
man ſich Gründe angibt, politiſche Tugend herrſcht ohne Polizei. Dieß
eben iſt das ſchöne Geheimniß. So haben ſie auch kein Dogma und ſind
doch religiös. Es iſt Einem hier, wenn man von den Orientalen kommt, zu
Muthe, als ſprängen Riemen und Knebel vom Leibe; man athmet leicht auf.
Mit der Prieſterherrſchaft hört auch die Vermengung aller Sphären, wie ſie
im Orient beſtand, auf. Kunſt, Wiſſenſchaft, Staat, jede Thätigkeit löst ſich
vom Ganzen und doch bleibt organiſche Einheit. Kein Volk hat bekanntlich
ſo vielſeitig alle Kreiſe menſchlicher Thätigkeit durchlaufen, es ſind auch in
dieſem Sinne ganze Menſchen. Die geiſtigſte Blüthe dieſer Bildung iſt die
Philoſophie. Das reine Denken ſelbſt bleibt aber objectiv; wie es ſubjectiv
wird und als kritiſches Selbſtbewußtſein ſich auch vom Sittlichen Rechenſchaft
gibt, iſt es auch ein Symptom der Auflöſung des griechiſchen Lebens.
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