Es ergibt sich nun für die Lehre von dem Naturschönen die Aufgabe, zunächst die Reiche der gewöhnlich sogenannten Natur oder der Idee, wie sie erst als bewußtlose Lebenskraft wirklich ist (vergl. §. 17), zu durchgehen und unter der Voraussetzung des glücklichen Zufalls (§. 234) das Eigenthümliche der Schönheit jeder Hauptstufe in ihren Gattungen und Arten zu betrachten. Die Aesthetik geht auf diesem Wege Hand in Hand mit der Naturwissenschaft und wird zu einer Physiognomik der Natur.
Der Schritt von der Metaphysik des Schönen zu der Physik des Schönen ist, wie schon bemerkt, keineswegs mit dem Uebergang von der Metaphysik überhaupt in die Naturphilosophie zu verwechseln. Der wesentliche Unterschied der ästhetischen und der allgemein philosophischen Naturlehre wird im folgenden §. aufgezeigt und dargethan werden, daß das Naturschöne auch das ganze sittliche Leben in der Unmittelbarkeit seiner ästhetischen Erscheinung befaßt. Man könnte nun einwenden: wenn die Lehre vom Naturschönen etwas ganz Anderes ist, als die Natur- philosophie, wenn daher die letztere als gegeben in der Aesthetik voraus- gesetzt ist, warum soll erst jetzt, im zweiten Theile, das Naturgebiet (wie nachher das sittlich geschichtliche) vom Standpunkte der Aesthetik durch- wandert werden? Warum geschah dieß nicht schon im ersten Theile in der Lehre von der Idee, §. 15 bis 29? Warum dort nur eine Skizze der Hauptstufen der wirklichen Idee, der Reiche des Lebens, und jetzt erst ein genaueres Eingehen? Der Grund ist einfach der: die Metaphysik des Schönen hatte die Grundbegriffe zu entwickeln, das weitere System im idealen Grundrisse vorzubilden; hier wurde die Frage noch nicht auf- geworfen, ob die wirkliche Welt unmittelbar, wie sie erscheint, oder nur durch das umbildende Zuthun des Subjects schön sei. Nun aber ist diese Frage aufgeworfen und zunächst mit Absicht der Schein hingestellt, als sei das Erstere zu bejahen. Jetzt erst gilt es also, statt der ganz gedrängten Skizze der wirklichen Idee, welche im ersten Theile §. 15--29 gegeben ist, die Reiche des Lebens, zuerst die der bewußtlosen Natur in der Nähe darauf anzuschauen, wie viel oder wenig Schönheit das Leben selbst in seinen Organisationen, wenn ihnen nur der Zufall unverkümmerter Entwicklung gegönnt ist, der Anschauung darbiete. Die Natur scheint jetzt die Werkmeisterinn des Schönen, sie ist uns jetzt Subject und unsere Aufgabe die, ihre Werke der Reihe nach anzuschauen. Im zweiten Abschnitte wird es anders lauten, jetzt ist die Natur in ihrem Rechte und soll sich daher in ihrer Breite entfalten.
§. 235.
Es ergibt ſich nun für die Lehre von dem Naturſchönen die Aufgabe, zunächſt die Reiche der gewöhnlich ſogenannten Natur oder der Idee, wie ſie erſt als bewußtloſe Lebenskraft wirklich iſt (vergl. §. 17), zu durchgehen und unter der Vorausſetzung des glücklichen Zufalls (§. 234) das Eigenthümliche der Schönheit jeder Hauptſtufe in ihren Gattungen und Arten zu betrachten. Die Aeſthetik geht auf dieſem Wege Hand in Hand mit der Naturwiſſenſchaft und wird zu einer Phyſiognomik der Natur.
Der Schritt von der Metaphyſik des Schönen zu der Phyſik des Schönen iſt, wie ſchon bemerkt, keineswegs mit dem Uebergang von der Metaphyſik überhaupt in die Naturphiloſophie zu verwechſeln. Der weſentliche Unterſchied der äſthetiſchen und der allgemein philoſophiſchen Naturlehre wird im folgenden §. aufgezeigt und dargethan werden, daß das Naturſchöne auch das ganze ſittliche Leben in der Unmittelbarkeit ſeiner äſthetiſchen Erſcheinung befaßt. Man könnte nun einwenden: wenn die Lehre vom Naturſchönen etwas ganz Anderes iſt, als die Natur- philoſophie, wenn daher die letztere als gegeben in der Aeſthetik voraus- geſetzt iſt, warum ſoll erſt jetzt, im zweiten Theile, das Naturgebiet (wie nachher das ſittlich geſchichtliche) vom Standpunkte der Aeſthetik durch- wandert werden? Warum geſchah dieß nicht ſchon im erſten Theile in der Lehre von der Idee, §. 15 bis 29? Warum dort nur eine Skizze der Hauptſtufen der wirklichen Idee, der Reiche des Lebens, und jetzt erſt ein genaueres Eingehen? Der Grund iſt einfach der: die Metaphyſik des Schönen hatte die Grundbegriffe zu entwickeln, das weitere Syſtem im idealen Grundriſſe vorzubilden; hier wurde die Frage noch nicht auf- geworfen, ob die wirkliche Welt unmittelbar, wie ſie erſcheint, oder nur durch das umbildende Zuthun des Subjects ſchön ſei. Nun aber iſt dieſe Frage aufgeworfen und zunächſt mit Abſicht der Schein hingeſtellt, als ſei das Erſtere zu bejahen. Jetzt erſt gilt es alſo, ſtatt der ganz gedrängten Skizze der wirklichen Idee, welche im erſten Theile §. 15—29 gegeben iſt, die Reiche des Lebens, zuerſt die der bewußtloſen Natur in der Nähe darauf anzuſchauen, wie viel oder wenig Schönheit das Leben ſelbſt in ſeinen Organiſationen, wenn ihnen nur der Zufall unverkümmerter Entwicklung gegönnt iſt, der Anſchauung darbiete. Die Natur ſcheint jetzt die Werkmeiſterinn des Schönen, ſie iſt uns jetzt Subject und unſere Aufgabe die, ihre Werke der Reihe nach anzuſchauen. Im zweiten Abſchnitte wird es anders lauten, jetzt iſt die Natur in ihrem Rechte und ſoll ſich daher in ihrer Breite entfalten.
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§. 235.
Es ergibt ſich nun für die Lehre von dem Naturſchönen die Aufgabe,
zunächſt die Reiche der gewöhnlich ſogenannten Natur oder der Idee, wie ſie
erſt als bewußtloſe Lebenskraft wirklich iſt (vergl. §. 17), zu durchgehen und
unter der Vorausſetzung des glücklichen Zufalls (§. 234) das Eigenthümliche
der Schönheit jeder Hauptſtufe in ihren Gattungen und Arten zu betrachten.
Die Aeſthetik geht auf dieſem Wege Hand in Hand mit der Naturwiſſenſchaft
und wird zu einer Phyſiognomik der Natur.
Der Schritt von der Metaphyſik des Schönen zu der Phyſik des
Schönen iſt, wie ſchon bemerkt, keineswegs mit dem Uebergang von der
Metaphyſik überhaupt in die Naturphiloſophie zu verwechſeln. Der
weſentliche Unterſchied der äſthetiſchen und der allgemein philoſophiſchen
Naturlehre wird im folgenden §. aufgezeigt und dargethan werden, daß
das Naturſchöne auch das ganze ſittliche Leben in der Unmittelbarkeit
ſeiner äſthetiſchen Erſcheinung befaßt. Man könnte nun einwenden: wenn
die Lehre vom Naturſchönen etwas ganz Anderes iſt, als die Natur-
philoſophie, wenn daher die letztere als gegeben in der Aeſthetik voraus-
geſetzt iſt, warum ſoll erſt jetzt, im zweiten Theile, das Naturgebiet (wie
nachher das ſittlich geſchichtliche) vom Standpunkte der Aeſthetik durch-
wandert werden? Warum geſchah dieß nicht ſchon im erſten Theile in
der Lehre von der Idee, §. 15 bis 29? Warum dort nur eine Skizze
der Hauptſtufen der wirklichen Idee, der Reiche des Lebens, und jetzt
erſt ein genaueres Eingehen? Der Grund iſt einfach der: die Metaphyſik
des Schönen hatte die Grundbegriffe zu entwickeln, das weitere Syſtem
im idealen Grundriſſe vorzubilden; hier wurde die Frage noch nicht auf-
geworfen, ob die wirkliche Welt unmittelbar, wie ſie erſcheint, oder nur
durch das umbildende Zuthun des Subjects ſchön ſei. Nun aber iſt dieſe
Frage aufgeworfen und zunächſt mit Abſicht der Schein hingeſtellt, als ſei
das Erſtere zu bejahen. Jetzt erſt gilt es alſo, ſtatt der ganz gedrängten
Skizze der wirklichen Idee, welche im erſten Theile §. 15—29 gegeben iſt,
die Reiche des Lebens, zuerſt die der bewußtloſen Natur in der Nähe
darauf anzuſchauen, wie viel oder wenig Schönheit das Leben ſelbſt in
ſeinen Organiſationen, wenn ihnen nur der Zufall unverkümmerter
Entwicklung gegönnt iſt, der Anſchauung darbiete. Die Natur ſcheint
jetzt die Werkmeiſterinn des Schönen, ſie iſt uns jetzt Subject und unſere
Aufgabe die, ihre Werke der Reihe nach anzuſchauen. Im zweiten
Abſchnitte wird es anders lauten, jetzt iſt die Natur in ihrem Rechte und
ſoll ſich daher in ihrer Breite entfalten.
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/24>, abgerufen am 22.02.2025.
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