Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

Bild:
<< vorherige Seite

folgen, aber erst, nachdem er ihn approbirt hat, d. h. nachdem er erkannt,
daß dieser Trieb entweder derjenige ist, den er mit gutem Grunde zum
Mittelpunkte seines Lebens gemacht hat, oder ein solcher, der mit ihm in
wesentlichem Zusammenhang steht, und nachdem er dadurch die Berechtigung
desselben anerkannt hat. Zwischen die Anregung des Triebs und zwischen
das Thun, das ihm Folge gibt, tritt Denken und denkendes Wollen.
Othello's Selbstmord ist nicht Act der ersten Verzweiflung, sondern ist
eine That aus der Einsicht, ohne Ehre nicht leben zu können und zugleich
würdig zu sein, die Strafe an sich selbst zu vollziehen. Eine That kann
auch mehrere Motive haben, aber sie müssen sich organisch zu einem
Grundmotive vereinigen. Man nennt allerdings auch Bestimmungsgründe
zu einer Leidenschaft, z. B. zum Haß Motive, wie Jago's Zurücksetzung.
Aber der Haß handelt und so wird das Motiv der Leidenschaft Motiv
der That. Der Böse gibt nun zwar dem unberechtigten Trieb diese Folge,
aber er macht sich doch vorher seine Metaphysik, sein System, daher ist
er ein Charakter, freilich, wenn man tiefer blickt und das Verkehrte dieses
Systems, das dem Bösen selbst nicht verborgen sein kann, betrachtet, nur
ein Schein-Charakter (vergl. §. 333 Anm.).

§. 337.

1

Das Schicksal, das sich der Charakter durch sein Wirken und seine
That bereitet (§. 117 ff.), kann in der Wirklichkeit des Lebens unendliche
Formen annehmen. Für den Charakter selbst aber kann seine That einen
Wendepunkt bilden. Vermag er die Folgen seiner That nicht zu ertragen,
bricht er zusammen, so war sie keine That und er kein wahrer Charakter.
2Eine Form des Zusammenbrechens ist der Wahnsinn; diese habituelle Ver-
irrung des Traums in das Wachen so wie das ganze Traumleben des Geistes
kann in dem lichten Tage, in welchem der Charakter wandelt, nur als mit-
anklingende dunkle Tiefe oder als Wirkung des Vorgangs auf schwächere mit-
betheiligte Individuen von ästhetischer Bedeutung sein.

1. Der Kampf, welchen die That hervorruft, und Alles, was unter
Schicksal begriffen wird, ist in seinen Grundzügen in der Lehre vom
Tragischen gegeben. Hier, in der Verschlingung des Realen, nimmt nun
dieß unendliche Formen an; die Wissenschaft kann nur sagen, daß sie
unendlich sind, nicht sich in die unendliche Breite selbst einlassen. Alle
bedeutenderen Sphären der menschlichen Schönheit können, und zwar in
unendlichen Weisen, collidiren und tragisches (unter Umständen komisches)
Schicksal bereiten. Im jetzigen Zusammenhange, wo wir den Charakter

folgen, aber erſt, nachdem er ihn approbirt hat, d. h. nachdem er erkannt,
daß dieſer Trieb entweder derjenige iſt, den er mit gutem Grunde zum
Mittelpunkte ſeines Lebens gemacht hat, oder ein ſolcher, der mit ihm in
weſentlichem Zuſammenhang ſteht, und nachdem er dadurch die Berechtigung
desſelben anerkannt hat. Zwiſchen die Anregung des Triebs und zwiſchen
das Thun, das ihm Folge gibt, tritt Denken und denkendes Wollen.
Othello’s Selbſtmord iſt nicht Act der erſten Verzweiflung, ſondern iſt
eine That aus der Einſicht, ohne Ehre nicht leben zu können und zugleich
würdig zu ſein, die Strafe an ſich ſelbſt zu vollziehen. Eine That kann
auch mehrere Motive haben, aber ſie müſſen ſich organiſch zu einem
Grundmotive vereinigen. Man nennt allerdings auch Beſtimmungsgründe
zu einer Leidenſchaft, z. B. zum Haß Motive, wie Jago’s Zurückſetzung.
Aber der Haß handelt und ſo wird das Motiv der Leidenſchaft Motiv
der That. Der Böſe gibt nun zwar dem unberechtigten Trieb dieſe Folge,
aber er macht ſich doch vorher ſeine Metaphyſik, ſein Syſtem, daher iſt
er ein Charakter, freilich, wenn man tiefer blickt und das Verkehrte dieſes
Syſtems, das dem Böſen ſelbſt nicht verborgen ſein kann, betrachtet, nur
ein Schein-Charakter (vergl. §. 333 Anm.).

§. 337.

1

Das Schickſal, das ſich der Charakter durch ſein Wirken und ſeine
That bereitet (§. 117 ff.), kann in der Wirklichkeit des Lebens unendliche
Formen annehmen. Für den Charakter ſelbſt aber kann ſeine That einen
Wendepunkt bilden. Vermag er die Folgen ſeiner That nicht zu ertragen,
bricht er zuſammen, ſo war ſie keine That und er kein wahrer Charakter.
2Eine Form des Zuſammenbrechens iſt der Wahnſinn; dieſe habituelle Ver-
irrung des Traums in das Wachen ſo wie das ganze Traumleben des Geiſtes
kann in dem lichten Tage, in welchem der Charakter wandelt, nur als mit-
anklingende dunkle Tiefe oder als Wirkung des Vorgangs auf ſchwächere mit-
betheiligte Individuen von äſthetiſcher Bedeutung ſein.

1. Der Kampf, welchen die That hervorruft, und Alles, was unter
Schickſal begriffen wird, iſt in ſeinen Grundzügen in der Lehre vom
Tragiſchen gegeben. Hier, in der Verſchlingung des Realen, nimmt nun
dieß unendliche Formen an; die Wiſſenſchaft kann nur ſagen, daß ſie
unendlich ſind, nicht ſich in die unendliche Breite ſelbſt einlaſſen. Alle
bedeutenderen Sphären der menſchlichen Schönheit können, und zwar in
unendlichen Weiſen, collidiren und tragiſches (unter Umſtänden komiſches)
Schickſal bereiten. Im jetzigen Zuſammenhange, wo wir den Charakter

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0216" n="204"/>
folgen, aber er&#x017F;t, nachdem er ihn approbirt hat, d. h. nachdem er erkannt,<lb/>
daß die&#x017F;er Trieb entweder derjenige i&#x017F;t, den er mit gutem Grunde zum<lb/>
Mittelpunkte &#x017F;eines Lebens gemacht hat, oder ein &#x017F;olcher, der mit ihm in<lb/>
we&#x017F;entlichem Zu&#x017F;ammenhang &#x017F;teht, und nachdem er dadurch die Berechtigung<lb/>
des&#x017F;elben anerkannt hat. Zwi&#x017F;chen die Anregung des Triebs und zwi&#x017F;chen<lb/>
das Thun, das ihm Folge gibt, tritt Denken und denkendes Wollen.<lb/>
Othello&#x2019;s Selb&#x017F;tmord i&#x017F;t nicht Act der er&#x017F;ten Verzweiflung, &#x017F;ondern i&#x017F;t<lb/>
eine That aus der Ein&#x017F;icht, ohne Ehre nicht leben zu können und zugleich<lb/>
würdig zu &#x017F;ein, die Strafe an &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t zu vollziehen. Eine That kann<lb/>
auch mehrere Motive haben, aber &#x017F;ie mü&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich organi&#x017F;ch zu einem<lb/>
Grundmotive vereinigen. Man nennt allerdings auch Be&#x017F;timmungsgründe<lb/>
zu einer Leiden&#x017F;chaft, z. B. zum Haß Motive, wie Jago&#x2019;s Zurück&#x017F;etzung.<lb/>
Aber der Haß handelt und &#x017F;o wird das Motiv der Leiden&#x017F;chaft Motiv<lb/>
der That. Der Bö&#x017F;e gibt nun zwar dem unberechtigten Trieb die&#x017F;e Folge,<lb/>
aber er macht &#x017F;ich doch vorher &#x017F;eine Metaphy&#x017F;ik, &#x017F;ein Sy&#x017F;tem, daher i&#x017F;t<lb/>
er ein Charakter, freilich, wenn man tiefer blickt und das Verkehrte die&#x017F;es<lb/>
Sy&#x017F;tems, das dem Bö&#x017F;en &#x017F;elb&#x017F;t nicht verborgen &#x017F;ein kann, betrachtet, nur<lb/>
ein Schein-Charakter (vergl. §. 333 Anm.).</hi> </p>
                </div><lb/>
                <div n="6">
                  <head>§. 337.</head><lb/>
                  <note place="left"> <hi rendition="#fr">1</hi> </note>
                  <p> <hi rendition="#fr">Das <hi rendition="#g">Schick&#x017F;al</hi>, das &#x017F;ich der Charakter durch &#x017F;ein Wirken und &#x017F;eine<lb/>
That bereitet (§. 117 ff.), kann in der Wirklichkeit des Lebens unendliche<lb/>
Formen annehmen. Für den Charakter &#x017F;elb&#x017F;t aber kann &#x017F;eine That einen<lb/><hi rendition="#g">Wendepunkt</hi> bilden. Vermag er die Folgen &#x017F;einer That nicht zu ertragen,<lb/>
bricht er zu&#x017F;ammen, &#x017F;o war &#x017F;ie keine That und er kein wahrer Charakter.<lb/><note place="left">2</note>Eine Form des Zu&#x017F;ammenbrechens i&#x017F;t der <hi rendition="#g">Wahn&#x017F;inn</hi>; die&#x017F;e habituelle Ver-<lb/>
irrung des Traums in das Wachen &#x017F;o wie das ganze <hi rendition="#g">Traumleben</hi> des Gei&#x017F;tes<lb/>
kann in dem lichten Tage, in welchem der Charakter wandelt, nur als mit-<lb/>
anklingende dunkle Tiefe oder als Wirkung des Vorgangs auf &#x017F;chwächere mit-<lb/>
betheiligte Individuen von ä&#x017F;theti&#x017F;cher Bedeutung &#x017F;ein.</hi> </p><lb/>
                  <p> <hi rendition="#et">1. Der Kampf, welchen die That hervorruft, und Alles, was unter<lb/>
Schick&#x017F;al begriffen wird, i&#x017F;t in &#x017F;einen Grundzügen in der Lehre vom<lb/>
Tragi&#x017F;chen gegeben. Hier, in der Ver&#x017F;chlingung des Realen, nimmt nun<lb/>
dieß unendliche Formen an; die Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft kann nur &#x017F;agen, daß &#x017F;ie<lb/>
unendlich &#x017F;ind, nicht &#x017F;ich in die unendliche Breite &#x017F;elb&#x017F;t einla&#x017F;&#x017F;en. Alle<lb/>
bedeutenderen Sphären der men&#x017F;chlichen Schönheit können, und zwar in<lb/>
unendlichen Wei&#x017F;en, collidiren und tragi&#x017F;ches (unter Um&#x017F;tänden komi&#x017F;ches)<lb/>
Schick&#x017F;al bereiten. Im jetzigen Zu&#x017F;ammenhange, wo wir den Charakter<lb/></hi> </p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[204/0216] folgen, aber erſt, nachdem er ihn approbirt hat, d. h. nachdem er erkannt, daß dieſer Trieb entweder derjenige iſt, den er mit gutem Grunde zum Mittelpunkte ſeines Lebens gemacht hat, oder ein ſolcher, der mit ihm in weſentlichem Zuſammenhang ſteht, und nachdem er dadurch die Berechtigung desſelben anerkannt hat. Zwiſchen die Anregung des Triebs und zwiſchen das Thun, das ihm Folge gibt, tritt Denken und denkendes Wollen. Othello’s Selbſtmord iſt nicht Act der erſten Verzweiflung, ſondern iſt eine That aus der Einſicht, ohne Ehre nicht leben zu können und zugleich würdig zu ſein, die Strafe an ſich ſelbſt zu vollziehen. Eine That kann auch mehrere Motive haben, aber ſie müſſen ſich organiſch zu einem Grundmotive vereinigen. Man nennt allerdings auch Beſtimmungsgründe zu einer Leidenſchaft, z. B. zum Haß Motive, wie Jago’s Zurückſetzung. Aber der Haß handelt und ſo wird das Motiv der Leidenſchaft Motiv der That. Der Böſe gibt nun zwar dem unberechtigten Trieb dieſe Folge, aber er macht ſich doch vorher ſeine Metaphyſik, ſein Syſtem, daher iſt er ein Charakter, freilich, wenn man tiefer blickt und das Verkehrte dieſes Syſtems, das dem Böſen ſelbſt nicht verborgen ſein kann, betrachtet, nur ein Schein-Charakter (vergl. §. 333 Anm.). §. 337. Das Schickſal, das ſich der Charakter durch ſein Wirken und ſeine That bereitet (§. 117 ff.), kann in der Wirklichkeit des Lebens unendliche Formen annehmen. Für den Charakter ſelbſt aber kann ſeine That einen Wendepunkt bilden. Vermag er die Folgen ſeiner That nicht zu ertragen, bricht er zuſammen, ſo war ſie keine That und er kein wahrer Charakter. Eine Form des Zuſammenbrechens iſt der Wahnſinn; dieſe habituelle Ver- irrung des Traums in das Wachen ſo wie das ganze Traumleben des Geiſtes kann in dem lichten Tage, in welchem der Charakter wandelt, nur als mit- anklingende dunkle Tiefe oder als Wirkung des Vorgangs auf ſchwächere mit- betheiligte Individuen von äſthetiſcher Bedeutung ſein. 1. Der Kampf, welchen die That hervorruft, und Alles, was unter Schickſal begriffen wird, iſt in ſeinen Grundzügen in der Lehre vom Tragiſchen gegeben. Hier, in der Verſchlingung des Realen, nimmt nun dieß unendliche Formen an; die Wiſſenſchaft kann nur ſagen, daß ſie unendlich ſind, nicht ſich in die unendliche Breite ſelbſt einlaſſen. Alle bedeutenderen Sphären der menſchlichen Schönheit können, und zwar in unendlichen Weiſen, collidiren und tragiſches (unter Umſtänden komiſches) Schickſal bereiten. Im jetzigen Zuſammenhange, wo wir den Charakter

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/216
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/216>, abgerufen am 30.12.2024.