nicht gemüthlich. Gemüthlichkeit, was man so nennt, ist es nicht, wovon wir reden; dieses Element einer halbsinnlichen wohligen Behaglichkeit bezeichnet keineswegs jene im Kampf errungene Umbildung, jene geistige Liebe, um die es sich hier handelt, vielmehr steckt dahinter gewöhnlich nur das ungebildete Herz, das gutmüthig ist, so lange es nicht boshaft, aufgeräumt, so lange es nicht launisch ist. Das Gemüth ist tief, fest und treu, denn es gründet im Willen. Diese ächte Innigkeit ist es, durch die wir im Anblick des Charakters den Eindruck haben, zu Hause zu sein; denn er ist seine eigene Welt und hat in diese seine Welt die Welt aufgenommen und an's Herz geschlossen, ist also eine Angel der Welt und der Zuschauer ruht an ihm aus, weil er die Unendlichkeit findet. Gemüthlichkeit geräth bei der nächsten Gelegenheit außer sich, Gemüth bleibt in sich, ist seiner und der Welt Bürge, seine Milde ist stark, seine Stärke mild; da ist Sicherheit, da ist man aufgehoben. Sein Grundton gibt den wechselnden Stimmungen ihren Halt und Takt. Diese dürfen unter der Einheit nicht verkümmern. Wie wesentlich der so bewegte Mensch für die Kunst ist, mag ein kurzes Wort von Göthe bezeichnen. Er preist Shakespeare mit den Worten: da sieht man, wie dem Menschen zu Muthe ist.
§. 335.
Die Bildungsgeschichte des Charakters bietet das durch Collisionen jeder1. Art bewegte Schauspiel des Ineinanderwirkens der umgebenden Welt und des Individuums dar, worin dieses theils seine besondere Bestimmung zu verwirk- lichen, theils sich zum allgemein Menschlichen zu erweitern strebt. In diesem2. jugendlichen Werden und Wachsen tritt neben der Leidenschaft der Liebe als Hauptmoment der Bildung des Charakters durch und zur Innigkeit des Gemüths- lebens der Bund der Freundschaft auf, ein schöner, aber nicht zum Mittel- punkte eines ästhelischen Ganzen geeigneter Stoff.
1. Man erkennt leicht, wie hier namentlich derjenige Stoff vorliegt, den der Roman verwendet. Zwei Seiten des Charakters: die besondere Bestimmung und die Ausrundung zu einem ganzen Menschen sind zu unterscheiden. In §. 333 wurde die Vielseitigkeit, welche dem Charakter über der Energie der Einseitigkeit nicht verloren gehen darf, nicht besonders hervorgehoben, ihre Nothwendigkeit liegt aber von selbst im Begriffe eines Mikrokosmus. Das als Kunst wirkliche Schöne wird seine ver- schiedenen Zweige haben, deren einer mehr die energische, obwohl nicht geistlos beschränkte, Bestimmtheit, der andere die mildere Erweiterung des Individuums zur reinen Humanität mehr zum Stoffe haben wird,
nicht gemüthlich. Gemüthlichkeit, was man ſo nennt, iſt es nicht, wovon wir reden; dieſes Element einer halbſinnlichen wohligen Behaglichkeit bezeichnet keineswegs jene im Kampf errungene Umbildung, jene geiſtige Liebe, um die es ſich hier handelt, vielmehr ſteckt dahinter gewöhnlich nur das ungebildete Herz, das gutmüthig iſt, ſo lange es nicht boshaft, aufgeräumt, ſo lange es nicht launiſch iſt. Das Gemüth iſt tief, feſt und treu, denn es gründet im Willen. Dieſe ächte Innigkeit iſt es, durch die wir im Anblick des Charakters den Eindruck haben, zu Hauſe zu ſein; denn er iſt ſeine eigene Welt und hat in dieſe ſeine Welt die Welt aufgenommen und an’s Herz geſchloſſen, iſt alſo eine Angel der Welt und der Zuſchauer ruht an ihm aus, weil er die Unendlichkeit findet. Gemüthlichkeit geräth bei der nächſten Gelegenheit außer ſich, Gemüth bleibt in ſich, iſt ſeiner und der Welt Bürge, ſeine Milde iſt ſtark, ſeine Stärke mild; da iſt Sicherheit, da iſt man aufgehoben. Sein Grundton gibt den wechſelnden Stimmungen ihren Halt und Takt. Dieſe dürfen unter der Einheit nicht verkümmern. Wie weſentlich der ſo bewegte Menſch für die Kunſt iſt, mag ein kurzes Wort von Göthe bezeichnen. Er preist Shakespeare mit den Worten: da ſieht man, wie dem Menſchen zu Muthe iſt.
§. 335.
Die Bildungsgeſchichte des Charakters bietet das durch Colliſionen jeder1. Art bewegte Schauſpiel des Ineinanderwirkens der umgebenden Welt und des Individuums dar, worin dieſes theils ſeine beſondere Beſtimmung zu verwirk- lichen, theils ſich zum allgemein Menſchlichen zu erweitern ſtrebt. In dieſem2. jugendlichen Werden und Wachſen tritt neben der Leidenſchaft der Liebe als Hauptmoment der Bildung des Charakters durch und zur Innigkeit des Gemüths- lebens der Bund der Freundſchaft auf, ein ſchöner, aber nicht zum Mittel- punkte eines äſtheliſchen Ganzen geeigneter Stoff.
1. Man erkennt leicht, wie hier namentlich derjenige Stoff vorliegt, den der Roman verwendet. Zwei Seiten des Charakters: die beſondere Beſtimmung und die Ausrundung zu einem ganzen Menſchen ſind zu unterſcheiden. In §. 333 wurde die Vielſeitigkeit, welche dem Charakter über der Energie der Einſeitigkeit nicht verloren gehen darf, nicht beſonders hervorgehoben, ihre Nothwendigkeit liegt aber von ſelbſt im Begriffe eines Mikrokoſmus. Das als Kunſt wirkliche Schöne wird ſeine ver- ſchiedenen Zweige haben, deren einer mehr die energiſche, obwohl nicht geiſtlos beſchränkte, Beſtimmtheit, der andere die mildere Erweiterung des Individuums zur reinen Humanität mehr zum Stoffe haben wird,
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bezeichnet keineswegs jene im Kampf errungene Umbildung, jene geiſtige
Liebe, um die es ſich hier handelt, vielmehr ſteckt dahinter gewöhnlich nur
das ungebildete Herz, das gutmüthig iſt, ſo lange es nicht boshaft,
aufgeräumt, ſo lange es nicht launiſch iſt. Das Gemüth iſt tief, feſt
und treu, denn es gründet im Willen. Dieſe ächte Innigkeit iſt es,
durch die wir im Anblick des Charakters den Eindruck haben, zu Hauſe
zu ſein; denn er iſt ſeine eigene Welt und hat in dieſe ſeine Welt die
Welt aufgenommen und an’s Herz geſchloſſen, iſt alſo eine Angel der
Welt und der Zuſchauer ruht an ihm aus, weil er die Unendlichkeit
findet. Gemüthlichkeit geräth bei der nächſten Gelegenheit außer ſich,
Gemüth bleibt in ſich, iſt ſeiner und der Welt Bürge, ſeine Milde iſt
ſtark, ſeine Stärke mild; da iſt Sicherheit, da iſt man aufgehoben. Sein
Grundton gibt den wechſelnden Stimmungen ihren Halt und Takt. Dieſe
dürfen unter der Einheit nicht verkümmern. Wie weſentlich der ſo bewegte
Menſch für die Kunſt iſt, mag ein kurzes Wort von Göthe bezeichnen.
Er preist Shakespeare mit den Worten: da ſieht man, wie dem Menſchen
zu Muthe iſt.
§. 335.
Die Bildungsgeſchichte des Charakters bietet das durch Colliſionen jeder
Art bewegte Schauſpiel des Ineinanderwirkens der umgebenden Welt und des
Individuums dar, worin dieſes theils ſeine beſondere Beſtimmung zu verwirk-
lichen, theils ſich zum allgemein Menſchlichen zu erweitern ſtrebt. In dieſem
jugendlichen Werden und Wachſen tritt neben der Leidenſchaft der Liebe als
Hauptmoment der Bildung des Charakters durch und zur Innigkeit des Gemüths-
lebens der Bund der Freundſchaft auf, ein ſchöner, aber nicht zum Mittel-
punkte eines äſtheliſchen Ganzen geeigneter Stoff.
1. Man erkennt leicht, wie hier namentlich derjenige Stoff vorliegt,
den der Roman verwendet. Zwei Seiten des Charakters: die beſondere
Beſtimmung und die Ausrundung zu einem ganzen Menſchen ſind zu
unterſcheiden. In §. 333 wurde die Vielſeitigkeit, welche dem Charakter
über der Energie der Einſeitigkeit nicht verloren gehen darf, nicht beſonders
hervorgehoben, ihre Nothwendigkeit liegt aber von ſelbſt im Begriffe
eines Mikrokoſmus. Das als Kunſt wirkliche Schöne wird ſeine ver-
ſchiedenen Zweige haben, deren einer mehr die energiſche, obwohl nicht
geiſtlos beſchränkte, Beſtimmtheit, der andere die mildere Erweiterung
des Individuums zur reinen Humanität mehr zum Stoffe haben wird,
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/211>, abgerufen am 22.02.2025.
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