Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.
nicht gemüthlich. Gemüthlichkeit, was man so nennt, ist es nicht, wovon §. 335. Die Bildungsgeschichte des Charakters bietet das durch Collisionen jeder1. 1. Man erkennt leicht, wie hier namentlich derjenige Stoff vorliegt,
nicht gemüthlich. Gemüthlichkeit, was man ſo nennt, iſt es nicht, wovon §. 335. Die Bildungsgeſchichte des Charakters bietet das durch Colliſionen jeder1. 1. Man erkennt leicht, wie hier namentlich derjenige Stoff vorliegt, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0211" n="199"/> nicht gemüthlich. Gemüthlichkeit, was man ſo nennt, iſt es nicht, wovon<lb/> wir reden; dieſes Element einer halbſinnlichen wohligen Behaglichkeit<lb/> bezeichnet keineswegs jene im Kampf errungene Umbildung, jene geiſtige<lb/> Liebe, um die es ſich hier handelt, vielmehr ſteckt dahinter gewöhnlich nur<lb/> das ungebildete Herz, das gutmüthig iſt, ſo lange es nicht boshaft,<lb/> aufgeräumt, ſo lange es nicht launiſch iſt. Das Gemüth iſt tief, feſt<lb/> und treu, denn es gründet im Willen. Dieſe ächte Innigkeit iſt es,<lb/> durch die wir im Anblick des Charakters den Eindruck haben, zu Hauſe<lb/> zu ſein; denn er iſt ſeine eigene Welt und hat in dieſe ſeine Welt die<lb/> Welt aufgenommen und an’s Herz geſchloſſen, iſt alſo eine Angel der<lb/> Welt und der Zuſchauer ruht an ihm aus, weil er die Unendlichkeit<lb/> findet. Gemüthlichkeit geräth bei der nächſten Gelegenheit außer ſich,<lb/> Gemüth bleibt in ſich, iſt ſeiner und der Welt Bürge, ſeine Milde iſt<lb/> ſtark, ſeine Stärke mild; da iſt Sicherheit, da iſt man aufgehoben. Sein<lb/> Grundton gibt den wechſelnden Stimmungen ihren Halt und Takt. Dieſe<lb/> dürfen unter der Einheit nicht verkümmern. Wie weſentlich der ſo bewegte<lb/> Menſch für die Kunſt iſt, mag ein kurzes Wort von <hi rendition="#g">Göthe</hi> bezeichnen.<lb/> Er preist Shakespeare mit den Worten: da ſieht man, wie dem Menſchen<lb/> zu Muthe iſt.</hi> </p> </div><lb/> <div n="6"> <head>§. 335.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Die Bildungsgeſchichte des Charakters bietet das durch Colliſionen jeder<note place="right">1.</note><lb/> Art bewegte Schauſpiel des Ineinanderwirkens der umgebenden Welt und des<lb/> Individuums dar, worin dieſes theils ſeine beſondere Beſtimmung zu verwirk-<lb/> lichen, theils ſich zum allgemein Menſchlichen zu erweitern ſtrebt. In dieſem<note place="right">2.</note><lb/> jugendlichen Werden und Wachſen tritt neben der Leidenſchaft der Liebe als<lb/> Hauptmoment der Bildung des Charakters durch und zur Innigkeit des Gemüths-<lb/> lebens der Bund der <hi rendition="#g">Freundſchaft</hi> auf, ein ſchöner, aber nicht zum Mittel-<lb/> punkte eines äſtheliſchen Ganzen geeigneter Stoff.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">1. Man erkennt leicht, wie hier namentlich derjenige Stoff vorliegt,<lb/> den der Roman verwendet. Zwei Seiten des Charakters: die beſondere<lb/> Beſtimmung und die Ausrundung zu einem ganzen Menſchen ſind zu<lb/> unterſcheiden. In §. 333 wurde die Vielſeitigkeit, welche dem Charakter<lb/> über der Energie der Einſeitigkeit nicht verloren gehen darf, nicht beſonders<lb/> hervorgehoben, ihre Nothwendigkeit liegt aber von ſelbſt im Begriffe<lb/> eines Mikrokoſmus. Das als Kunſt wirkliche Schöne wird ſeine ver-<lb/> ſchiedenen Zweige haben, deren einer mehr die energiſche, obwohl nicht<lb/> geiſtlos beſchränkte, Beſtimmtheit, der andere die mildere Erweiterung<lb/> des Individuums zur reinen Humanität mehr zum Stoffe haben wird,<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [199/0211]
nicht gemüthlich. Gemüthlichkeit, was man ſo nennt, iſt es nicht, wovon
wir reden; dieſes Element einer halbſinnlichen wohligen Behaglichkeit
bezeichnet keineswegs jene im Kampf errungene Umbildung, jene geiſtige
Liebe, um die es ſich hier handelt, vielmehr ſteckt dahinter gewöhnlich nur
das ungebildete Herz, das gutmüthig iſt, ſo lange es nicht boshaft,
aufgeräumt, ſo lange es nicht launiſch iſt. Das Gemüth iſt tief, feſt
und treu, denn es gründet im Willen. Dieſe ächte Innigkeit iſt es,
durch die wir im Anblick des Charakters den Eindruck haben, zu Hauſe
zu ſein; denn er iſt ſeine eigene Welt und hat in dieſe ſeine Welt die
Welt aufgenommen und an’s Herz geſchloſſen, iſt alſo eine Angel der
Welt und der Zuſchauer ruht an ihm aus, weil er die Unendlichkeit
findet. Gemüthlichkeit geräth bei der nächſten Gelegenheit außer ſich,
Gemüth bleibt in ſich, iſt ſeiner und der Welt Bürge, ſeine Milde iſt
ſtark, ſeine Stärke mild; da iſt Sicherheit, da iſt man aufgehoben. Sein
Grundton gibt den wechſelnden Stimmungen ihren Halt und Takt. Dieſe
dürfen unter der Einheit nicht verkümmern. Wie weſentlich der ſo bewegte
Menſch für die Kunſt iſt, mag ein kurzes Wort von Göthe bezeichnen.
Er preist Shakespeare mit den Worten: da ſieht man, wie dem Menſchen
zu Muthe iſt.
§. 335.
Die Bildungsgeſchichte des Charakters bietet das durch Colliſionen jeder
Art bewegte Schauſpiel des Ineinanderwirkens der umgebenden Welt und des
Individuums dar, worin dieſes theils ſeine beſondere Beſtimmung zu verwirk-
lichen, theils ſich zum allgemein Menſchlichen zu erweitern ſtrebt. In dieſem
jugendlichen Werden und Wachſen tritt neben der Leidenſchaft der Liebe als
Hauptmoment der Bildung des Charakters durch und zur Innigkeit des Gemüths-
lebens der Bund der Freundſchaft auf, ein ſchöner, aber nicht zum Mittel-
punkte eines äſtheliſchen Ganzen geeigneter Stoff.
1. Man erkennt leicht, wie hier namentlich derjenige Stoff vorliegt,
den der Roman verwendet. Zwei Seiten des Charakters: die beſondere
Beſtimmung und die Ausrundung zu einem ganzen Menſchen ſind zu
unterſcheiden. In §. 333 wurde die Vielſeitigkeit, welche dem Charakter
über der Energie der Einſeitigkeit nicht verloren gehen darf, nicht beſonders
hervorgehoben, ihre Nothwendigkeit liegt aber von ſelbſt im Begriffe
eines Mikrokoſmus. Das als Kunſt wirkliche Schöne wird ſeine ver-
ſchiedenen Zweige haben, deren einer mehr die energiſche, obwohl nicht
geiſtlos beſchränkte, Beſtimmtheit, der andere die mildere Erweiterung
des Individuums zur reinen Humanität mehr zum Stoffe haben wird,
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