Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.Natur zieht ihn zur Wahl einer Lebensrichtung, seine Eltern wünschen, §. 333. Durch die reine Selbstbestimmung tritt nun aber das Individuum aus Es kehrt hier derselbe Inhalt zurück, der schon in der Lehre vom Natur zieht ihn zur Wahl einer Lebensrichtung, ſeine Eltern wünſchen, §. 333. Durch die reine Selbſtbeſtimmung tritt nun aber das Individuum aus Es kehrt hier derſelbe Inhalt zurück, der ſchon in der Lehre vom <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <pb facs="#f0208" n="196"/> <hi rendition="#et">Natur zieht ihn zur Wahl einer Lebensrichtung, ſeine Eltern wünſchen,<lb/> daß er ihren Stand wähle, der einer andern Lebensrichtung, als der in<lb/> erſter Linie angebornen zugehört, und eben dahin lockt ihn auch wieder<lb/> eine durch die genannte Impfung ihm ſelbſt in zweiter Linie eigene<lb/> Diſpoſition. Ueberdieß aber zieht vielleicht der ſittlich politiſche Zuſtand<lb/> der Nation, die Zeitſtimmung, wieder zu einer andern Richtung, und<lb/> er hat auch dieß mit der Muttermilch eingeſogen. Dieß nur ein Wink<lb/> über den verſchlungenen Boden, auf dem das Individuum ſteht.</hi> </p> </div><lb/> <div n="6"> <head>§. 333.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Durch die reine Selbſtbeſtimmung tritt nun aber das Individuum aus<lb/> den Bedingtheiten beider Reihen heraus und ſteht frei zwiſchen ihnen. Dieſe<lb/> Freiheit iſt jedoch keine abſtracte Losreißung vom Naturgrunde und ſittlichen<lb/> Grunde, ſondern das Individuum erkennt, was ihm möglich iſt, ergreift aus<lb/> den Kreiſen des ſittlichen Lebens denjenigen, den es mit ſeiner erkannten<lb/> Naturbeſtimmtheit in Einklang weiß, und arbeitet in einem organiſchen Prozeſſe<lb/> beide ſo ineinander, daß das Angeborene zum Gewollten, das geiſtig Allge-<lb/> meine zum Eigenen, zum freien Mittelpunkte ſeines Lebens wird. Dieß iſt<lb/> die bewegte und doch ſtetige Einheit des <hi rendition="#g">Charakters</hi>, ein Werk der Freiheit,<lb/> das ſelbſt wieder zu einer zweiten Natur wird, ein Mikrokoſmus.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">Es kehrt hier derſelbe Inhalt zurück, der ſchon in der Lehre vom<lb/> Erhabenen des Subjects §. 110 ff. dargeſtellt wurde; allein der Stand-<lb/> punkt iſt ein anderer. Charakter nennen wir das Erhabene des guten<lb/> Willens erſt, ſofern es eine Concretion der bisher dargeſtellten realen<lb/> Bedingungen iſt (vergl. Anm. 1 zu §. 110). Die Metaphyſik des<lb/> Schönen gab überhaupt im idealen Grundriſſe die ganze Welt des Schönen;<lb/> die Lehre vom Naturſchönen entfaltet dieſen als vorgefundene Wirklichkeit,<lb/> die Lehre von der Kunſt wieder in anderem Sinne. Der Charakter fällt<lb/> aber auch unter das Komiſche und damit hängt eine Frage zuſammen.<lb/> Hat Charakter blos derjenige, der ein ſittliches Pathos zum Mittelpunkte<lb/> ſeines Lebens erhoben hat? Nennen wir nicht Charakter auch die ſtetige<lb/> Gleichheit der Unſtetigkeit? Die Verrennung in Affect, Leidenſchaftlichkeit,<lb/> Laſter? Die conſequente Bosheit? Die Eigenſchaft, eine Maxime, wäre<lb/> ſie auch nicht gut, ſtetig zu wollen, einer Partei treu zu ſein? Dann<lb/> wären Formen des Charakters auch was unter <hi rendition="#i">α</hi> und <hi rendition="#i">β</hi> in der Lehre<lb/> vom Erhabenen des Subjects aufgeführt wurde, und dieſe fallen dann<lb/> ebenſo wie auch der wahre, ſittliche Charakter unter den in §. 159 ff.<lb/> aufgezeigten Bedingungen in’s Komiſche. Der Sprachgebrauch iſt dafür:<lb/> wir ſprechen vom Charakter des Jähzornigen, Polterers, des Unſteten,<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [196/0208]
Natur zieht ihn zur Wahl einer Lebensrichtung, ſeine Eltern wünſchen,
daß er ihren Stand wähle, der einer andern Lebensrichtung, als der in
erſter Linie angebornen zugehört, und eben dahin lockt ihn auch wieder
eine durch die genannte Impfung ihm ſelbſt in zweiter Linie eigene
Diſpoſition. Ueberdieß aber zieht vielleicht der ſittlich politiſche Zuſtand
der Nation, die Zeitſtimmung, wieder zu einer andern Richtung, und
er hat auch dieß mit der Muttermilch eingeſogen. Dieß nur ein Wink
über den verſchlungenen Boden, auf dem das Individuum ſteht.
§. 333.
Durch die reine Selbſtbeſtimmung tritt nun aber das Individuum aus
den Bedingtheiten beider Reihen heraus und ſteht frei zwiſchen ihnen. Dieſe
Freiheit iſt jedoch keine abſtracte Losreißung vom Naturgrunde und ſittlichen
Grunde, ſondern das Individuum erkennt, was ihm möglich iſt, ergreift aus
den Kreiſen des ſittlichen Lebens denjenigen, den es mit ſeiner erkannten
Naturbeſtimmtheit in Einklang weiß, und arbeitet in einem organiſchen Prozeſſe
beide ſo ineinander, daß das Angeborene zum Gewollten, das geiſtig Allge-
meine zum Eigenen, zum freien Mittelpunkte ſeines Lebens wird. Dieß iſt
die bewegte und doch ſtetige Einheit des Charakters, ein Werk der Freiheit,
das ſelbſt wieder zu einer zweiten Natur wird, ein Mikrokoſmus.
Es kehrt hier derſelbe Inhalt zurück, der ſchon in der Lehre vom
Erhabenen des Subjects §. 110 ff. dargeſtellt wurde; allein der Stand-
punkt iſt ein anderer. Charakter nennen wir das Erhabene des guten
Willens erſt, ſofern es eine Concretion der bisher dargeſtellten realen
Bedingungen iſt (vergl. Anm. 1 zu §. 110). Die Metaphyſik des
Schönen gab überhaupt im idealen Grundriſſe die ganze Welt des Schönen;
die Lehre vom Naturſchönen entfaltet dieſen als vorgefundene Wirklichkeit,
die Lehre von der Kunſt wieder in anderem Sinne. Der Charakter fällt
aber auch unter das Komiſche und damit hängt eine Frage zuſammen.
Hat Charakter blos derjenige, der ein ſittliches Pathos zum Mittelpunkte
ſeines Lebens erhoben hat? Nennen wir nicht Charakter auch die ſtetige
Gleichheit der Unſtetigkeit? Die Verrennung in Affect, Leidenſchaftlichkeit,
Laſter? Die conſequente Bosheit? Die Eigenſchaft, eine Maxime, wäre
ſie auch nicht gut, ſtetig zu wollen, einer Partei treu zu ſein? Dann
wären Formen des Charakters auch was unter α und β in der Lehre
vom Erhabenen des Subjects aufgeführt wurde, und dieſe fallen dann
ebenſo wie auch der wahre, ſittliche Charakter unter den in §. 159 ff.
aufgezeigten Bedingungen in’s Komiſche. Der Sprachgebrauch iſt dafür:
wir ſprechen vom Charakter des Jähzornigen, Polterers, des Unſteten,
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