Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.§. 291. Der allgemeine ästhetische Eindruck des Thierlebens bestimmt sich ver- 1. "Die Thiere sind gebrochene und durch katoptrische Spiegel aus- 2. Nachdem der Akt des Komischen im ersten Theile entwickelt ist, §. 291. Der allgemeine äſthetiſche Eindruck des Thierlebens beſtimmt ſich ver- 1. „Die Thiere ſind gebrochene und durch katoptriſche Spiegel aus- 2. Nachdem der Akt des Komiſchen im erſten Theile entwickelt iſt, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0128" n="116"/> <div n="5"> <head>§. 291.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Der allgemeine äſthetiſche Eindruck des Thierlebens beſtimmt ſich ver-<lb/> ſchieden, je nachdem in der Menſchenähnlichkeit die Unähnlichkeit oder jene in<lb/><note place="left">1</note>dieſer ſich aufdrängt. Im erſteren Falle erſcheint das Thierreich wie ein aus-<lb/> einandergezogenes Zerrbild des Menſchen, eine häßliche, grauenhafte Larven-<lb/><note place="left">2</note>welt. Legen wir dieſer Entſtellung einen wirklichen Menſchen unter, ſo löst<lb/><note place="left">3</note>ſich die Häßlichkeit in das Komiſche auf (vergl. §. 158 Anm. 4). Die Leihung<lb/> hat aber berechtigten Anhalt, die wirkliche Menſchenähnlichkeit tritt, vornämlich<lb/> dem Hausthiere gegenüber durch Gewohnheit des Umgangs, in den Vorder-<lb/> grund und das Thier wird als mittleres Weſen zwiſchen Freiheit und Noth-<lb/> wendigkeit wie ein freundlicher und unſchuldiger Grenznachbar geliebt. Erſteigt<lb/> jedoch die Menſchenähnlichkeit den höchſten möglichen Grad, ſo wird die<lb/> Heimlichkeit wieder zur Unheimlichkeit.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">1. „Die Thiere ſind gebrochene und durch katoptriſche Spiegel aus-<lb/> einandergeworfene Strahlen des menſchlichen Bildes, <hi rendition="#aq">disjecti membra<lb/> poetae</hi>“ <hi rendition="#g">Herder</hi> (a. a. O. B. 2, <hi rendition="#aq">IV</hi>). <hi rendition="#g">Oken</hi> hat auf dieſe Idee, daß<lb/> der Menſch der Typus oder das Schema des geſammten Thierreichs,<lb/> dieſes der auseinandergelegte Menſch ſei, ſeine ganze Zoologie gegründet,<lb/> und dieß iſt gewiß auch die einzig richtige Begründung. Es liegt darin<lb/> nun allerdings ein, jedoch nothwendiger, wiſſenſchaftlicher Vorgriff. Eigentlich<lb/> iſt nicht das Thierreich der auseinandergelegte Menſch, ſondern der Menſch<lb/> das zuſammengefaßte Thierreich. Das Ringen der Natur, den Menſchen<lb/> zu erzeugen und in ihm Geiſt zu werden, arbeitet die Stufen des Thier-<lb/> reichs heraus. Der Menſch iſt darum allerdings <hi rendition="#aq">implicite</hi> im Thierreich<lb/> da, bevor er noch <hi rendition="#aq">explicite</hi> als er ſelbſt da iſt. Die Wiſſenſchaft hat<lb/> das Recht, die Hauptmomente ſeines Typus von der explizirten Geſtalt<lb/> aufzunehmen und ſie der implizirten, dem Thierreiche, als Modell zu<lb/> Grunde zu legen. Daſſelbe thut in anderer Weiſe der äſthetiſche Zuſchauer<lb/> und zunächſt muß ihm ſo die Thierwelt, da dieſe andere Weiſe der<lb/> Betrachtung auf die Oberfläche geht, als eine Entſtellung des Menſchen,<lb/> eine unheimliche Larve erſcheinen. Beſonders iſt dieß natürlich der Fall<lb/> bei Thieren, die noch dazu dem Menſchen gefährlich ſind, und doppelt,<lb/> wenn ſie überdieß, ſelbſt nur mit benachbarten Thierſtufen verglichen, ſehr<lb/> häßlich ſind, wie das Krokodil. Wie die Formen der Thiere als eine<lb/> Verzerrung des Menſchenbildes, ſo erſcheint ihr Ausdruck, ihr Thun wie<lb/> der geiſtige Abgrund eines Wahnſinnigen, der jeden Augenblick Ungeheures,<lb/> Entſetzliches hervorbringen kann.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">2. Nachdem der Akt des Komiſchen im erſten Theile entwickelt iſt,<lb/> braucht es keiner Ausführung der Bedingungen mehr, unter welchen dieſe<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [116/0128]
§. 291.
Der allgemeine äſthetiſche Eindruck des Thierlebens beſtimmt ſich ver-
ſchieden, je nachdem in der Menſchenähnlichkeit die Unähnlichkeit oder jene in
dieſer ſich aufdrängt. Im erſteren Falle erſcheint das Thierreich wie ein aus-
einandergezogenes Zerrbild des Menſchen, eine häßliche, grauenhafte Larven-
welt. Legen wir dieſer Entſtellung einen wirklichen Menſchen unter, ſo löst
ſich die Häßlichkeit in das Komiſche auf (vergl. §. 158 Anm. 4). Die Leihung
hat aber berechtigten Anhalt, die wirkliche Menſchenähnlichkeit tritt, vornämlich
dem Hausthiere gegenüber durch Gewohnheit des Umgangs, in den Vorder-
grund und das Thier wird als mittleres Weſen zwiſchen Freiheit und Noth-
wendigkeit wie ein freundlicher und unſchuldiger Grenznachbar geliebt. Erſteigt
jedoch die Menſchenähnlichkeit den höchſten möglichen Grad, ſo wird die
Heimlichkeit wieder zur Unheimlichkeit.
1. „Die Thiere ſind gebrochene und durch katoptriſche Spiegel aus-
einandergeworfene Strahlen des menſchlichen Bildes, disjecti membra
poetae“ Herder (a. a. O. B. 2, IV). Oken hat auf dieſe Idee, daß
der Menſch der Typus oder das Schema des geſammten Thierreichs,
dieſes der auseinandergelegte Menſch ſei, ſeine ganze Zoologie gegründet,
und dieß iſt gewiß auch die einzig richtige Begründung. Es liegt darin
nun allerdings ein, jedoch nothwendiger, wiſſenſchaftlicher Vorgriff. Eigentlich
iſt nicht das Thierreich der auseinandergelegte Menſch, ſondern der Menſch
das zuſammengefaßte Thierreich. Das Ringen der Natur, den Menſchen
zu erzeugen und in ihm Geiſt zu werden, arbeitet die Stufen des Thier-
reichs heraus. Der Menſch iſt darum allerdings implicite im Thierreich
da, bevor er noch explicite als er ſelbſt da iſt. Die Wiſſenſchaft hat
das Recht, die Hauptmomente ſeines Typus von der explizirten Geſtalt
aufzunehmen und ſie der implizirten, dem Thierreiche, als Modell zu
Grunde zu legen. Daſſelbe thut in anderer Weiſe der äſthetiſche Zuſchauer
und zunächſt muß ihm ſo die Thierwelt, da dieſe andere Weiſe der
Betrachtung auf die Oberfläche geht, als eine Entſtellung des Menſchen,
eine unheimliche Larve erſcheinen. Beſonders iſt dieß natürlich der Fall
bei Thieren, die noch dazu dem Menſchen gefährlich ſind, und doppelt,
wenn ſie überdieß, ſelbſt nur mit benachbarten Thierſtufen verglichen, ſehr
häßlich ſind, wie das Krokodil. Wie die Formen der Thiere als eine
Verzerrung des Menſchenbildes, ſo erſcheint ihr Ausdruck, ihr Thun wie
der geiſtige Abgrund eines Wahnſinnigen, der jeden Augenblick Ungeheures,
Entſetzliches hervorbringen kann.
2. Nachdem der Akt des Komiſchen im erſten Theile entwickelt iſt,
braucht es keiner Ausführung der Bedingungen mehr, unter welchen dieſe
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