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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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mögliches behauptet wird, das Individuum sey oder die bestimmte Idee.
Genug, Danzel erklärt, daß der Ruhepunkt für ein solches Einzelnes,
in dessen Ring die Ewigkeit gefaßt wäre, sich in Hegels Philosophie
gar nicht finde. Seine Bedeutung in der Geschichte der Philosophie
nämlich sey diese, das Absolute für wesentliche Vermittlung in sich er-
klärt zu haben. "Wie soll nun in unmittelbarer Weise erscheinen, was
die Vermittlung selbst ist? Das Absolute oder die Idee überhaupt ist
bei Hegel gar nicht etwas, das einem Andern simultan seyn könnte.
Der Sinn der Vermittlung desselben in sich ist kein anderer, als der
einer Vermittlung des Einzelnen unter sich. Daher ist nach Hegels
Lehre durchaus keine andere Ergreifung des Besondern als Besonderung
der Idee möglich, als in vollkommen streng wissenschaftlichem Fortgange
der absoluten Dialektik. Er kann das Allgemeine niemals, selbst in der
innigsten Durchdringung nicht, zugleich mit dem Einzelnen ergreifen, weil
es für ihn gerade nur in dem Nacheinander dieses letzteren besteht.
Das Absolute kann nicht etwa nur darum in keiner andern Form er-
griffen werden, weil Form und Inhalt unzertrennlich sind, sondern weil
es gar nichts Anderes ist, als diese bestimmte Form. Daher ist hier
eine jede Unmittelbarkeit unmöglich. Die einzige Weise, wie das Ab-
solute unmittelbar wird, ist, insofern es vom zeitlichen Menschen gedacht
wird. Diesen kann, wenn er Seyn und Nichts gesagt hat, der Schlag
rühren, ehe er Werden sagt; ohnehin bricht er jeden Abend das Denken
ab, um sich schlafen zu legen" u. s. w.

Gut, und so hätte auch den Verf. dieser Kritik der Schlag rühren
können, ehe er bei der zweiten Zeile der Behauptung ankam, daß die
absolute Wahrheit ein fertiges Ding sey, das man mit Einem Schlage
haben könne, so könnte er Jeden in dem Augenblicke treffen, ehe er
das auf Einen Schlag fertige Absolute in seinen Besitz bekommt. Hier
sind wir wirklich an der Grenze der Philosophie und aller Vernunft.
Wenn die Philosophie das Absolute erkennt als die Bewegung der Ver-
mittlung mit sich selbst, wenn sie ebendaher als die höchste, allein wahr-
haft entsprechende Form, es zu fassen, ebenfalls die sich als solche wollende
und setzende Vermittlung, das reine Denken begreift, so ist weder ob-
jectiv noch subjectiv dadurch das Unmittelbare ausgeschlossen. Objectiv
nicht, denn eben weil das Ganze Vermittlung ist, so ist jeder Knoten,
den diese Vermittlung schürzt, wieder unmittelbar. Jeder wesentliche
Punkt in der Reihe dieser Vermittlungen enthält alle vorhergehenden
und alle folgenden in sich, aber so, daß jene in ihm zur Ruhe gekommen

mögliches behauptet wird, das Individuum ſey oder die beſtimmte Idee.
Genug, Danzel erklärt, daß der Ruhepunkt für ein ſolches Einzelnes,
in deſſen Ring die Ewigkeit gefaßt wäre, ſich in Hegels Philoſophie
gar nicht finde. Seine Bedeutung in der Geſchichte der Philoſophie
nämlich ſey dieſe, das Abſolute für weſentliche Vermittlung in ſich er-
klärt zu haben. „Wie ſoll nun in unmittelbarer Weiſe erſcheinen, was
die Vermittlung ſelbſt iſt? Das Abſolute oder die Idee überhaupt iſt
bei Hegel gar nicht etwas, das einem Andern ſimultan ſeyn könnte.
Der Sinn der Vermittlung deſſelben in ſich iſt kein anderer, als der
einer Vermittlung des Einzelnen unter ſich. Daher iſt nach Hegels
Lehre durchaus keine andere Ergreifung des Beſondern als Beſonderung
der Idee möglich, als in vollkommen ſtreng wiſſenſchaftlichem Fortgange
der abſoluten Dialektik. Er kann das Allgemeine niemals, ſelbſt in der
innigſten Durchdringung nicht, zugleich mit dem Einzelnen ergreifen, weil
es für ihn gerade nur in dem Nacheinander dieſes letzteren beſteht.
Das Abſolute kann nicht etwa nur darum in keiner andern Form er-
griffen werden, weil Form und Inhalt unzertrennlich ſind, ſondern weil
es gar nichts Anderes iſt, als dieſe beſtimmte Form. Daher iſt hier
eine jede Unmittelbarkeit unmöglich. Die einzige Weiſe, wie das Ab-
ſolute unmittelbar wird, iſt, inſofern es vom zeitlichen Menſchen gedacht
wird. Dieſen kann, wenn er Seyn und Nichts geſagt hat, der Schlag
rühren, ehe er Werden ſagt; ohnehin bricht er jeden Abend das Denken
ab, um ſich ſchlafen zu legen“ u. ſ. w.

Gut, und ſo hätte auch den Verf. dieſer Kritik der Schlag rühren
können, ehe er bei der zweiten Zeile der Behauptung ankam, daß die
abſolute Wahrheit ein fertiges Ding ſey, das man mit Einem Schlage
haben könne, ſo könnte er Jeden in dem Augenblicke treffen, ehe er
das auf Einen Schlag fertige Abſolute in ſeinen Beſitz bekommt. Hier
ſind wir wirklich an der Grenze der Philoſophie und aller Vernunft.
Wenn die Philoſophie das Abſolute erkennt als die Bewegung der Ver-
mittlung mit ſich ſelbſt, wenn ſie ebendaher als die höchſte, allein wahr-
haft entſprechende Form, es zu faſſen, ebenfalls die ſich als ſolche wollende
und ſetzende Vermittlung, das reine Denken begreift, ſo iſt weder ob-
jectiv noch ſubjectiv dadurch das Unmittelbare ausgeſchloſſen. Objectiv
nicht, denn eben weil das Ganze Vermittlung iſt, ſo iſt jeder Knoten,
den dieſe Vermittlung ſchürzt, wieder unmittelbar. Jeder weſentliche
Punkt in der Reihe dieſer Vermittlungen enthält alle vorhergehenden
und alle folgenden in ſich, aber ſo, daß jene in ihm zur Ruhe gekommen

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[63/0077] mögliches behauptet wird, das Individuum ſey oder die beſtimmte Idee. Genug, Danzel erklärt, daß der Ruhepunkt für ein ſolches Einzelnes, in deſſen Ring die Ewigkeit gefaßt wäre, ſich in Hegels Philoſophie gar nicht finde. Seine Bedeutung in der Geſchichte der Philoſophie nämlich ſey dieſe, das Abſolute für weſentliche Vermittlung in ſich er- klärt zu haben. „Wie ſoll nun in unmittelbarer Weiſe erſcheinen, was die Vermittlung ſelbſt iſt? Das Abſolute oder die Idee überhaupt iſt bei Hegel gar nicht etwas, das einem Andern ſimultan ſeyn könnte. Der Sinn der Vermittlung deſſelben in ſich iſt kein anderer, als der einer Vermittlung des Einzelnen unter ſich. Daher iſt nach Hegels Lehre durchaus keine andere Ergreifung des Beſondern als Beſonderung der Idee möglich, als in vollkommen ſtreng wiſſenſchaftlichem Fortgange der abſoluten Dialektik. Er kann das Allgemeine niemals, ſelbſt in der innigſten Durchdringung nicht, zugleich mit dem Einzelnen ergreifen, weil es für ihn gerade nur in dem Nacheinander dieſes letzteren beſteht. Das Abſolute kann nicht etwa nur darum in keiner andern Form er- griffen werden, weil Form und Inhalt unzertrennlich ſind, ſondern weil es gar nichts Anderes iſt, als dieſe beſtimmte Form. Daher iſt hier eine jede Unmittelbarkeit unmöglich. Die einzige Weiſe, wie das Ab- ſolute unmittelbar wird, iſt, inſofern es vom zeitlichen Menſchen gedacht wird. Dieſen kann, wenn er Seyn und Nichts geſagt hat, der Schlag rühren, ehe er Werden ſagt; ohnehin bricht er jeden Abend das Denken ab, um ſich ſchlafen zu legen“ u. ſ. w. Gut, und ſo hätte auch den Verf. dieſer Kritik der Schlag rühren können, ehe er bei der zweiten Zeile der Behauptung ankam, daß die abſolute Wahrheit ein fertiges Ding ſey, das man mit Einem Schlage haben könne, ſo könnte er Jeden in dem Augenblicke treffen, ehe er das auf Einen Schlag fertige Abſolute in ſeinen Beſitz bekommt. Hier ſind wir wirklich an der Grenze der Philoſophie und aller Vernunft. Wenn die Philoſophie das Abſolute erkennt als die Bewegung der Ver- mittlung mit ſich ſelbſt, wenn ſie ebendaher als die höchſte, allein wahr- haft entſprechende Form, es zu faſſen, ebenfalls die ſich als ſolche wollende und ſetzende Vermittlung, das reine Denken begreift, ſo iſt weder ob- jectiv noch ſubjectiv dadurch das Unmittelbare ausgeſchloſſen. Objectiv nicht, denn eben weil das Ganze Vermittlung iſt, ſo iſt jeder Knoten, den dieſe Vermittlung ſchürzt, wieder unmittelbar. Jeder weſentliche Punkt in der Reihe dieſer Vermittlungen enthält alle vorhergehenden und alle folgenden in ſich, aber ſo, daß jene in ihm zur Ruhe gekommen

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/77>, abgerufen am 27.04.2024.