Irre ich nicht, so wird den meisten Widerspruch die ganze Anlage erfahren, die ich dem Systeme der Aesthetik gegeben: daß ich nämlich nicht das Ganze auf die Phantasie begründe, sondern im ersten Theile das Schöne durchaus als ein Abstractes entwickle, von dem sich erst zeigen soll, wo und wie es wirklich sey. Wem nun die Bemerkungen nicht genügen, wodurch ich schon im vorliegen- den Bande den Angriffen auf diesen Punkt vorzubeugen suche, den muß ich bitten, die Erscheinung des zweiten abzuwarten. Hier wird sich zeigen, was Alles dem System verloren ginge, wenn das Räthsel schon im ersten Theile gelöst, wenn nicht vielmehr der zweite die Naturschönheit zuerst in ihrem vollen Scheine und ihrer Breite dar- stellen und dann erst in die Phantasie aufheben würde. Keinen Raum würde ich mir vorbehalten, den Werth des Objects, des Gegebenen anzuerkennen; ich würde zuerst einen Künstler setzen, um dann eine Welt für ihn oder keine zu suchen, statt daß ich ihm nun zuerst eine Welt, darin er sich umsehe, geben kann; den Naturton seines Elements müßte ich zerstören und ihn, wie die neueren Aesthe- tiker als ächte Kinder der Romantik Miene machen, auf Nichts stellen.
Ich hatte schon in diesem Bande mehrere Fragen zu unter- suchen, deren gefährliche Natur in gegenwärtiger Zeit Jedem, der klüger als wahr ist, es nahe legt, hinter dem Berge zu halten. Ich durfte und wollte kein Jota meiner Ueberzeugung verschweigen; geböte mir dies nicht die Ehre der Wissenschaft, so geböte es mir meine eigene, denn ich muß der Welt zeigen, daß ich keinerlei Ver-
Vorrede.
Irre ich nicht, ſo wird den meiſten Widerſpruch die ganze Anlage erfahren, die ich dem Syſteme der Aeſthetik gegeben: daß ich nämlich nicht das Ganze auf die Phantaſie begründe, ſondern im erſten Theile das Schöne durchaus als ein Abſtractes entwickle, von dem ſich erſt zeigen ſoll, wo und wie es wirklich ſey. Wem nun die Bemerkungen nicht genügen, wodurch ich ſchon im vorliegen- den Bande den Angriffen auf dieſen Punkt vorzubeugen ſuche, den muß ich bitten, die Erſcheinung des zweiten abzuwarten. Hier wird ſich zeigen, was Alles dem Syſtem verloren ginge, wenn das Räthſel ſchon im erſten Theile gelöst, wenn nicht vielmehr der zweite die Naturſchönheit zuerſt in ihrem vollen Scheine und ihrer Breite dar- ſtellen und dann erſt in die Phantaſie aufheben würde. Keinen Raum würde ich mir vorbehalten, den Werth des Objects, des Gegebenen anzuerkennen; ich würde zuerſt einen Künſtler ſetzen, um dann eine Welt für ihn oder keine zu ſuchen, ſtatt daß ich ihm nun zuerſt eine Welt, darin er ſich umſehe, geben kann; den Naturton ſeines Elements müßte ich zerſtören und ihn, wie die neueren Aeſthe- tiker als ächte Kinder der Romantik Miene machen, auf Nichts ſtellen.
Ich hatte ſchon in dieſem Bande mehrere Fragen zu unter- ſuchen, deren gefährliche Natur in gegenwärtiger Zeit Jedem, der klüger als wahr iſt, es nahe legt, hinter dem Berge zu halten. Ich durfte und wollte kein Jota meiner Ueberzeugung verſchweigen; geböte mir dies nicht die Ehre der Wiſſenſchaft, ſo geböte es mir meine eigene, denn ich muß der Welt zeigen, daß ich keinerlei Ver-
<TEI><text><front><pbfacs="#f0009"n="[III]"/><divn="1"><head><hirendition="#b"><hirendition="#g">Vorrede</hi>.</hi></head><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><p>Irre ich nicht, ſo wird den meiſten Widerſpruch die ganze<lb/>
Anlage erfahren, die ich dem Syſteme der Aeſthetik gegeben: daß ich<lb/>
nämlich nicht das Ganze auf die Phantaſie begründe, ſondern im<lb/>
erſten Theile das Schöne durchaus als ein Abſtractes entwickle,<lb/>
von dem ſich erſt zeigen ſoll, wo und wie es wirklich ſey. Wem<lb/>
nun die Bemerkungen nicht genügen, wodurch ich ſchon im vorliegen-<lb/>
den Bande den Angriffen auf dieſen Punkt vorzubeugen ſuche, den<lb/>
muß ich bitten, die Erſcheinung des zweiten abzuwarten. Hier wird<lb/>ſich zeigen, was Alles dem Syſtem verloren ginge, wenn das Räthſel<lb/>ſchon im erſten Theile gelöst, wenn nicht vielmehr der zweite die<lb/>
Naturſchönheit zuerſt in ihrem vollen Scheine und ihrer Breite dar-<lb/>ſtellen und dann erſt in die Phantaſie aufheben würde. Keinen<lb/>
Raum würde ich mir vorbehalten, den Werth des Objects, des<lb/>
Gegebenen anzuerkennen; ich würde zuerſt einen Künſtler ſetzen, um<lb/>
dann eine Welt für ihn oder keine zu ſuchen, ſtatt daß ich ihm<lb/>
nun zuerſt eine Welt, darin er ſich umſehe, geben kann; den Naturton<lb/>ſeines Elements müßte ich zerſtören und ihn, wie die neueren Aeſthe-<lb/>
tiker als ächte Kinder der Romantik Miene machen, auf Nichts ſtellen.</p><lb/><p>Ich hatte ſchon in dieſem Bande mehrere Fragen zu unter-<lb/>ſuchen, deren gefährliche Natur in gegenwärtiger Zeit Jedem, der<lb/>
klüger als wahr iſt, es nahe legt, hinter dem Berge zu halten. Ich<lb/>
durfte und wollte kein Jota meiner Ueberzeugung verſchweigen;<lb/>
geböte mir dies nicht die Ehre der Wiſſenſchaft, ſo geböte es mir<lb/>
meine eigene, denn ich muß der Welt zeigen, daß ich keinerlei Ver-<lb/></p></div></front></text></TEI>
[[III]/0009]
Vorrede.
Irre ich nicht, ſo wird den meiſten Widerſpruch die ganze
Anlage erfahren, die ich dem Syſteme der Aeſthetik gegeben: daß ich
nämlich nicht das Ganze auf die Phantaſie begründe, ſondern im
erſten Theile das Schöne durchaus als ein Abſtractes entwickle,
von dem ſich erſt zeigen ſoll, wo und wie es wirklich ſey. Wem
nun die Bemerkungen nicht genügen, wodurch ich ſchon im vorliegen-
den Bande den Angriffen auf dieſen Punkt vorzubeugen ſuche, den
muß ich bitten, die Erſcheinung des zweiten abzuwarten. Hier wird
ſich zeigen, was Alles dem Syſtem verloren ginge, wenn das Räthſel
ſchon im erſten Theile gelöst, wenn nicht vielmehr der zweite die
Naturſchönheit zuerſt in ihrem vollen Scheine und ihrer Breite dar-
ſtellen und dann erſt in die Phantaſie aufheben würde. Keinen
Raum würde ich mir vorbehalten, den Werth des Objects, des
Gegebenen anzuerkennen; ich würde zuerſt einen Künſtler ſetzen, um
dann eine Welt für ihn oder keine zu ſuchen, ſtatt daß ich ihm
nun zuerſt eine Welt, darin er ſich umſehe, geben kann; den Naturton
ſeines Elements müßte ich zerſtören und ihn, wie die neueren Aeſthe-
tiker als ächte Kinder der Romantik Miene machen, auf Nichts ſtellen.
Ich hatte ſchon in dieſem Bande mehrere Fragen zu unter-
ſuchen, deren gefährliche Natur in gegenwärtiger Zeit Jedem, der
klüger als wahr iſt, es nahe legt, hinter dem Berge zu halten. Ich
durfte und wollte kein Jota meiner Ueberzeugung verſchweigen;
geböte mir dies nicht die Ehre der Wiſſenſchaft, ſo geböte es mir
meine eigene, denn ich muß der Welt zeigen, daß ich keinerlei Ver-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. [III]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/9>, abgerufen am 03.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.