Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

Sinne, wo er wirklich bloser Stoß von außen ist, sey es im ungenaueren,
wo er z. B. in zufälligen Anwandlungen des Körpers besteht, worin
der Humor so cynisch ist als die Posse. Der Unterschied liegt auch hier
nicht im Stoffe, sondern in der Form, und diese besteht darin, daß der
Humor eigentlich erst es ist, der aus dem Ernst macht, was in §. 178
gesagt ist, aber so, daß er die Gegenglieder nicht etwa nur in irgend
ein Subject zusammenfaßt, sondern in das Subject überhaupt.

3. J. Paul drückt den in §. 210, Anm. angeführten Satz näher
so aus, daß der Humor die Endlichkeit als subjectiven Contrast der
Idee (Unendlichkeit) als objectiven unterschiebe und leihe, d. h. (vergl.
§. 209, 1) sich vorstelle, als sey die Idee selbst als Ganzes ein Sub-
ject, das im Endlichen mit Bewußtseyn um diese Verstrickung sich ver-
stricke, wie das eigene, einzelne Subject des Unterschiebenden. Die Idee
ist aber wirkich dieses Subject, indem sie ihre erste Verwirklichung als
Natur unendlich in unendlichen Subjecten zusammenfaßt. Was daher der
Humorist in sich selbst findet, diesen Widerspruch, erweitert er mit Fug
und Recht zum Weltwiderspruche. Die blos fingirende Zuthat ist nur diese,
daß er diese Zusammenfassung, die sich im Weltganzen ewig vollzieht,
schon da als eine vollzogene setzt, wo sie im besonderen Falle nur eine
mögliche ist.

§. 212.

Ebendiese Zusammenfassung des Weltganzen in Ein Subject ist aber,
wie sie den Schmerz nur um so schneidender macht, ebenso auch der Schritt zur
Versöhnung, die sich nun aus diesem allgemeinen Widerspruche ebenso erzeugt,
wie nach §. 209 aus dem einzelnen des humoristischen Subjectes selbst. Ist
die Einheit der widersprechenden Glieder auch hier Subject, so ist dies All-
Subject dieselbe freie Bewegung, die ihre Erhabenheit zwar dem unendlich
Kleinen Preis gibt, aber nur, weil dieses auch im Weltganzen als Hei-
math, Reiz und heilsame Grenze derselben sie wahrhaft in sich aufnimmt. Ist
das Kleinste im Größten, so ist das Größte auch im Kleinsten. Der Humor
ist daher gegen die Thorheit, die er auflöst, nicht nur darum liebevoll, weil
er in jeder einzelnen die allgemeine sieht, daher sich miteinschließt und die
nunmehr begründete Weltverlachung nothwendig stets zur Selbstverlachung zu-
rückkehrt, sondern weil in jener wie in dieser das Bewußtseyn des unendlichen
Werthes des unendlich Kleinen mitenthalten ist.


Sinne, wo er wirklich bloſer Stoß von außen iſt, ſey es im ungenaueren,
wo er z. B. in zufälligen Anwandlungen des Körpers beſteht, worin
der Humor ſo cyniſch iſt als die Poſſe. Der Unterſchied liegt auch hier
nicht im Stoffe, ſondern in der Form, und dieſe beſteht darin, daß der
Humor eigentlich erſt es iſt, der aus dem Ernſt macht, was in §. 178
geſagt iſt, aber ſo, daß er die Gegenglieder nicht etwa nur in irgend
ein Subject zuſammenfaßt, ſondern in das Subject überhaupt.

3. J. Paul drückt den in §. 210, Anm. angeführten Satz näher
ſo aus, daß der Humor die Endlichkeit als ſubjectiven Contraſt der
Idee (Unendlichkeit) als objectiven unterſchiebe und leihe, d. h. (vergl.
§. 209, 1) ſich vorſtelle, als ſey die Idee ſelbſt als Ganzes ein Sub-
ject, das im Endlichen mit Bewußtſeyn um dieſe Verſtrickung ſich ver-
ſtricke, wie das eigene, einzelne Subject des Unterſchiebenden. Die Idee
iſt aber wirkich dieſes Subject, indem ſie ihre erſte Verwirklichung als
Natur unendlich in unendlichen Subjecten zuſammenfaßt. Was daher der
Humoriſt in ſich ſelbſt findet, dieſen Widerſpruch, erweitert er mit Fug
und Recht zum Weltwiderſpruche. Die blos fingirende Zuthat iſt nur dieſe,
daß er dieſe Zuſammenfaſſung, die ſich im Weltganzen ewig vollzieht,
ſchon da als eine vollzogene ſetzt, wo ſie im beſonderen Falle nur eine
mögliche iſt.

§. 212.

Ebendieſe Zuſammenfaſſung des Weltganzen in Ein Subject iſt aber,
wie ſie den Schmerz nur um ſo ſchneidender macht, ebenſo auch der Schritt zur
Verſöhnung, die ſich nun aus dieſem allgemeinen Widerſpruche ebenſo erzeugt,
wie nach §. 209 aus dem einzelnen des humoriſtiſchen Subjectes ſelbſt. Iſt
die Einheit der widerſprechenden Glieder auch hier Subject, ſo iſt dies All-
Subject dieſelbe freie Bewegung, die ihre Erhabenheit zwar dem unendlich
Kleinen Preis gibt, aber nur, weil dieſes auch im Weltganzen als Hei-
math, Reiz und heilſame Grenze derſelben ſie wahrhaft in ſich aufnimmt. Iſt
das Kleinſte im Größten, ſo iſt das Größte auch im Kleinſten. Der Humor
iſt daher gegen die Thorheit, die er auflöst, nicht nur darum liebevoll, weil
er in jeder einzelnen die allgemeine ſieht, daher ſich miteinſchließt und die
nunmehr begründete Weltverlachung nothwendig ſtets zur Selbſtverlachung zu-
rückkehrt, ſondern weil in jener wie in dieſer das Bewußtſeyn des unendlichen
Werthes des unendlich Kleinen mitenthalten iſt.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0467" n="453"/>
Sinne, wo er wirklich blo&#x017F;er Stoß von außen i&#x017F;t, &#x017F;ey es im ungenaueren,<lb/>
wo er z. B. in zufälligen Anwandlungen des Körpers be&#x017F;teht, worin<lb/>
der Humor &#x017F;o cyni&#x017F;ch i&#x017F;t als die Po&#x017F;&#x017F;e. Der Unter&#x017F;chied liegt auch hier<lb/>
nicht im Stoffe, &#x017F;ondern in der Form, und die&#x017F;e be&#x017F;teht darin, daß der<lb/>
Humor eigentlich er&#x017F;t es i&#x017F;t, der aus dem Ern&#x017F;t macht, was in §. 178<lb/>
ge&#x017F;agt i&#x017F;t, aber &#x017F;o, daß er die Gegenglieder nicht etwa nur in irgend<lb/>
ein Subject zu&#x017F;ammenfaßt, &#x017F;ondern in das Subject überhaupt.</hi> </p><lb/>
                <p> <hi rendition="#et">3. J. <hi rendition="#g">Paul</hi> drückt den in §. 210, Anm. angeführten Satz näher<lb/>
&#x017F;o aus, daß der Humor die Endlichkeit als &#x017F;ubjectiven Contra&#x017F;t der<lb/>
Idee (Unendlichkeit) als objectiven unter&#x017F;chiebe und leihe, d. h. (vergl.<lb/>
§. 209, <hi rendition="#sub">1</hi>) &#x017F;ich vor&#x017F;telle, als &#x017F;ey die Idee &#x017F;elb&#x017F;t als Ganzes ein Sub-<lb/>
ject, das im Endlichen mit Bewußt&#x017F;eyn um die&#x017F;e Ver&#x017F;trickung &#x017F;ich ver-<lb/>
&#x017F;tricke, wie das eigene, einzelne Subject des Unter&#x017F;chiebenden. Die Idee<lb/>
i&#x017F;t aber wirkich die&#x017F;es Subject, indem &#x017F;ie ihre er&#x017F;te Verwirklichung als<lb/>
Natur unendlich in unendlichen Subjecten zu&#x017F;ammenfaßt. Was daher der<lb/>
Humori&#x017F;t in &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t findet, die&#x017F;en Wider&#x017F;pruch, erweitert er mit Fug<lb/>
und Recht zum Weltwider&#x017F;pruche. Die blos fingirende Zuthat i&#x017F;t nur die&#x017F;e,<lb/>
daß er die&#x017F;e Zu&#x017F;ammenfa&#x017F;&#x017F;ung, die &#x017F;ich im Weltganzen ewig vollzieht,<lb/>
&#x017F;chon da als eine vollzogene &#x017F;etzt, wo &#x017F;ie im be&#x017F;onderen Falle nur eine<lb/>
mögliche i&#x017F;t.</hi> </p>
              </div><lb/>
              <div n="5">
                <head>§. 212.</head><lb/>
                <p> <hi rendition="#fr">Ebendie&#x017F;e Zu&#x017F;ammenfa&#x017F;&#x017F;ung des Weltganzen in Ein Subject i&#x017F;t aber,<lb/>
wie &#x017F;ie den Schmerz nur um &#x017F;o &#x017F;chneidender macht, eben&#x017F;o auch der Schritt zur<lb/>
Ver&#x017F;öhnung, die &#x017F;ich nun aus die&#x017F;em allgemeinen Wider&#x017F;pruche eben&#x017F;o erzeugt,<lb/>
wie nach §. 209 aus dem einzelnen des humori&#x017F;ti&#x017F;chen Subjectes &#x017F;elb&#x017F;t. I&#x017F;t<lb/>
die Einheit der wider&#x017F;prechenden Glieder auch hier Subject, &#x017F;o i&#x017F;t dies All-<lb/>
Subject die&#x017F;elbe freie Bewegung, die ihre Erhabenheit zwar dem unendlich<lb/>
Kleinen Preis gibt, aber nur, weil die&#x017F;es auch im Weltganzen als Hei-<lb/>
math, Reiz und heil&#x017F;ame Grenze der&#x017F;elben &#x017F;ie wahrhaft in &#x017F;ich aufnimmt. I&#x017F;t<lb/>
das Klein&#x017F;te im Größten, &#x017F;o i&#x017F;t das Größte auch im Klein&#x017F;ten. Der Humor<lb/>
i&#x017F;t daher gegen die Thorheit, die er auflöst, nicht nur darum liebevoll, weil<lb/>
er in jeder einzelnen die allgemeine &#x017F;ieht, daher &#x017F;ich mitein&#x017F;chließt und die<lb/>
nunmehr begründete Weltverlachung nothwendig &#x017F;tets zur Selb&#x017F;tverlachung zu-<lb/>
rückkehrt, &#x017F;ondern weil in jener wie in die&#x017F;er das Bewußt&#x017F;eyn des unendlichen<lb/>
Werthes des unendlich Kleinen mitenthalten i&#x017F;t.</hi> </p><lb/>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[453/0467] Sinne, wo er wirklich bloſer Stoß von außen iſt, ſey es im ungenaueren, wo er z. B. in zufälligen Anwandlungen des Körpers beſteht, worin der Humor ſo cyniſch iſt als die Poſſe. Der Unterſchied liegt auch hier nicht im Stoffe, ſondern in der Form, und dieſe beſteht darin, daß der Humor eigentlich erſt es iſt, der aus dem Ernſt macht, was in §. 178 geſagt iſt, aber ſo, daß er die Gegenglieder nicht etwa nur in irgend ein Subject zuſammenfaßt, ſondern in das Subject überhaupt. 3. J. Paul drückt den in §. 210, Anm. angeführten Satz näher ſo aus, daß der Humor die Endlichkeit als ſubjectiven Contraſt der Idee (Unendlichkeit) als objectiven unterſchiebe und leihe, d. h. (vergl. §. 209, 1) ſich vorſtelle, als ſey die Idee ſelbſt als Ganzes ein Sub- ject, das im Endlichen mit Bewußtſeyn um dieſe Verſtrickung ſich ver- ſtricke, wie das eigene, einzelne Subject des Unterſchiebenden. Die Idee iſt aber wirkich dieſes Subject, indem ſie ihre erſte Verwirklichung als Natur unendlich in unendlichen Subjecten zuſammenfaßt. Was daher der Humoriſt in ſich ſelbſt findet, dieſen Widerſpruch, erweitert er mit Fug und Recht zum Weltwiderſpruche. Die blos fingirende Zuthat iſt nur dieſe, daß er dieſe Zuſammenfaſſung, die ſich im Weltganzen ewig vollzieht, ſchon da als eine vollzogene ſetzt, wo ſie im beſonderen Falle nur eine mögliche iſt. §. 212. Ebendieſe Zuſammenfaſſung des Weltganzen in Ein Subject iſt aber, wie ſie den Schmerz nur um ſo ſchneidender macht, ebenſo auch der Schritt zur Verſöhnung, die ſich nun aus dieſem allgemeinen Widerſpruche ebenſo erzeugt, wie nach §. 209 aus dem einzelnen des humoriſtiſchen Subjectes ſelbſt. Iſt die Einheit der widerſprechenden Glieder auch hier Subject, ſo iſt dies All- Subject dieſelbe freie Bewegung, die ihre Erhabenheit zwar dem unendlich Kleinen Preis gibt, aber nur, weil dieſes auch im Weltganzen als Hei- math, Reiz und heilſame Grenze derſelben ſie wahrhaft in ſich aufnimmt. Iſt das Kleinſte im Größten, ſo iſt das Größte auch im Kleinſten. Der Humor iſt daher gegen die Thorheit, die er auflöst, nicht nur darum liebevoll, weil er in jeder einzelnen die allgemeine ſieht, daher ſich miteinſchließt und die nunmehr begründete Weltverlachung nothwendig ſtets zur Selbſtverlachung zu- rückkehrt, ſondern weil in jener wie in dieſer das Bewußtſeyn des unendlichen Werthes des unendlich Kleinen mitenthalten iſt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/467
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 453. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/467>, abgerufen am 30.12.2024.