Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

dem rohen Pistol und der Wirthin Hurtig steht der witzigere Bardolf,
über diesen und über sich selbst Falstaff, Poins auch über diesen, Prinz
Heinrich über Allen, aber der Zuschauer lacht über diesen selbst, da er
sich zwischen solchen Lachstoffen herumtreibt. Der Zuschauer kann aber
über sich selbst und muß sogar noch einen freieren Geist als möglich
sich vorstellen, der als Zuschauer über ihm steht. Es ist aber auch hier
gleichgültig, ob das leihende und lachende Subject als Zuschauer gegen-
übersteht oder mitspielt: im Stücke selbst sind schon solche, die Andern zu-
schauen, und die ganze Welt ist dies Schauspiel, wo jeder zugleich zuschaut
und Andern, wissend oder nicht, aufspielt. Ein solche Skala ist auch in Loves
labours lost.
Man vergleiche besonders Act 4, Sc. 1. (in Tieks Einth.).

§. 183.

In Wahrheit geht aber diese aufsteigende Linie in sich selbst zurück, wo
irgend ein Subject andere und sich selbst zum Gegenstande seiner Komik macht;
denn es kehrt immer nur derselbe Prozeß wieder und das Subject, welches
Object und Subject der Komik zugleich ist, faßt als Mitte die Pole des
Komischen so in sich zusammen, daß es die unendliche Linie zum Kreise um-
biegt. Es ist nur die Eine, allgemeine, sich in sich zum Gegensatze des Ob-
jects und Subjects verdoppelnde Subjectivität, die durch die ganze Kette geht.
Diese Subjectivität ist aber nicht in dem negativen Sinne, wie im Tragischen,
absolutes Subject, daß ihre Thätigkeit eine Tilgung aller Zufälligkeit und sinn-
lichen Bestimmtheit wäre, sondern ebendiese und daher mit ihr zugleich das
einzelne, endliche Subject ist in ihr als geltend und berechtigt gesetzt und es
kommt in ihr das stete Spiel der Selbstaufhebung des im ausschließenden Sinne
absoluten Subjects im zufälligen und endlichen, einzelnen Subjecte, also die
Negation der Negation oder die unendliche Negativität der Idee als Position
des rein gegenwärtigen Subjects zur Anschauung (vergl. §. 154, 2).

J. Paul spricht (a. a. O. §. 30) den Gedanken der unendlichen
Stufenleiter des Komischen aus und setzt hinzu: "und noch über einen
Engel ist zu lachen, wenn man der Erzengel ist." Dies ist sehr ein-
ladend, über den zu lachen, der so spricht; denn ist über jede Art von
Engeln noch eine höhere vorzustellen, so gibt es keine Engel und gerade
der komische Standpunkt bemächtigt sich der Vorstellung einer außer-
weltlichen subjectiven Existenz, welche über die Schranken der Subjectivi-
tät zugleich hinaus seyn soll. Soll sich die Kette in einem theistisch

dem rohen Piſtol und der Wirthin Hurtig ſteht der witzigere Bardolf,
über dieſen und über ſich ſelbſt Falſtaff, Poins auch über dieſen, Prinz
Heinrich über Allen, aber der Zuſchauer lacht über dieſen ſelbſt, da er
ſich zwiſchen ſolchen Lachſtoffen herumtreibt. Der Zuſchauer kann aber
über ſich ſelbſt und muß ſogar noch einen freieren Geiſt als möglich
ſich vorſtellen, der als Zuſchauer über ihm ſteht. Es iſt aber auch hier
gleichgültig, ob das leihende und lachende Subject als Zuſchauer gegen-
überſteht oder mitſpielt: im Stücke ſelbſt ſind ſchon ſolche, die Andern zu-
ſchauen, und die ganze Welt iſt dies Schauſpiel, wo jeder zugleich zuſchaut
und Andern, wiſſend oder nicht, aufſpielt. Ein ſolche Skala iſt auch in Loves
labours lost.
Man vergleiche beſonders Act 4, Sc. 1. (in Tieks Einth.).

§. 183.

In Wahrheit geht aber dieſe aufſteigende Linie in ſich ſelbſt zurück, wo
irgend ein Subject andere und ſich ſelbſt zum Gegenſtande ſeiner Komik macht;
denn es kehrt immer nur derſelbe Prozeß wieder und das Subject, welches
Object und Subject der Komik zugleich iſt, faßt als Mitte die Pole des
Komiſchen ſo in ſich zuſammen, daß es die unendliche Linie zum Kreiſe um-
biegt. Es iſt nur die Eine, allgemeine, ſich in ſich zum Gegenſatze des Ob-
jects und Subjects verdoppelnde Subjectivität, die durch die ganze Kette geht.
Dieſe Subjectivität iſt aber nicht in dem negativen Sinne, wie im Tragiſchen,
abſolutes Subject, daß ihre Thätigkeit eine Tilgung aller Zufälligkeit und ſinn-
lichen Beſtimmtheit wäre, ſondern ebendieſe und daher mit ihr zugleich das
einzelne, endliche Subject iſt in ihr als geltend und berechtigt geſetzt und es
kommt in ihr das ſtete Spiel der Selbſtaufhebung des im ausſchließenden Sinne
abſoluten Subjects im zufälligen und endlichen, einzelnen Subjecte, alſo die
Negation der Negation oder die unendliche Negativität der Idee als Poſition
des rein gegenwärtigen Subjects zur Anſchauung (vergl. §. 154, 2).

J. Paul ſpricht (a. a. O. §. 30) den Gedanken der unendlichen
Stufenleiter des Komiſchen aus und ſetzt hinzu: „und noch über einen
Engel iſt zu lachen, wenn man der Erzengel iſt.“ Dies iſt ſehr ein-
ladend, über den zu lachen, der ſo ſpricht; denn iſt über jede Art von
Engeln noch eine höhere vorzuſtellen, ſo gibt es keine Engel und gerade
der komiſche Standpunkt bemächtigt ſich der Vorſtellung einer außer-
weltlichen ſubjectiven Exiſtenz, welche über die Schranken der Subjectivi-
tät zugleich hinaus ſeyn ſoll. Soll ſich die Kette in einem theiſtiſch

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0413" n="399"/>
dem rohen Pi&#x017F;tol und der Wirthin Hurtig &#x017F;teht der witzigere Bardolf,<lb/>
über die&#x017F;en und über &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t Fal&#x017F;taff, Poins auch über die&#x017F;en, Prinz<lb/>
Heinrich über Allen, aber der Zu&#x017F;chauer lacht über die&#x017F;en &#x017F;elb&#x017F;t, da er<lb/>
&#x017F;ich zwi&#x017F;chen &#x017F;olchen Lach&#x017F;toffen herumtreibt. Der Zu&#x017F;chauer kann aber<lb/>
über &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t und muß &#x017F;ogar noch einen freieren Gei&#x017F;t als möglich<lb/>
&#x017F;ich vor&#x017F;tellen, der als Zu&#x017F;chauer über ihm &#x017F;teht. Es i&#x017F;t aber auch hier<lb/>
gleichgültig, ob das leihende und lachende Subject als Zu&#x017F;chauer gegen-<lb/>
über&#x017F;teht oder mit&#x017F;pielt: im Stücke &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;ind &#x017F;chon &#x017F;olche, die Andern zu-<lb/>
&#x017F;chauen, und die ganze Welt i&#x017F;t dies Schau&#x017F;piel, wo jeder zugleich zu&#x017F;chaut<lb/>
und Andern, wi&#x017F;&#x017F;end oder nicht, auf&#x017F;pielt. Ein &#x017F;olche Skala i&#x017F;t auch in <hi rendition="#aq">Loves<lb/>
labours lost.</hi> Man vergleiche be&#x017F;onders Act 4, Sc. 1. (in <hi rendition="#g">Tieks</hi> Einth.).</hi> </p>
              </div><lb/>
              <div n="5">
                <head>§. 183.</head><lb/>
                <p> <hi rendition="#fr">In Wahrheit geht aber die&#x017F;e auf&#x017F;teigende Linie in &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t zurück, wo<lb/>
irgend ein Subject andere und &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t zum Gegen&#x017F;tande &#x017F;einer Komik macht;<lb/>
denn es kehrt immer nur der&#x017F;elbe Prozeß wieder und das Subject, welches<lb/>
Object und Subject der Komik zugleich i&#x017F;t, faßt als Mitte die Pole des<lb/>
Komi&#x017F;chen &#x017F;o in &#x017F;ich zu&#x017F;ammen, daß es die unendliche Linie zum Krei&#x017F;e um-<lb/>
biegt. Es i&#x017F;t nur die Eine, allgemeine, &#x017F;ich in &#x017F;ich zum Gegen&#x017F;atze des Ob-<lb/>
jects und Subjects verdoppelnde Subjectivität, die durch die ganze Kette geht.<lb/>
Die&#x017F;e Subjectivität i&#x017F;t aber nicht in dem negativen Sinne, wie im Tragi&#x017F;chen,<lb/>
ab&#x017F;olutes Subject, daß ihre Thätigkeit eine Tilgung aller Zufälligkeit und &#x017F;inn-<lb/>
lichen Be&#x017F;timmtheit wäre, &#x017F;ondern ebendie&#x017F;e und daher mit ihr zugleich das<lb/>
einzelne, endliche Subject i&#x017F;t in ihr als geltend und berechtigt ge&#x017F;etzt und es<lb/>
kommt in ihr das &#x017F;tete Spiel der Selb&#x017F;taufhebung des im aus&#x017F;chließenden Sinne<lb/>
ab&#x017F;oluten Subjects im zufälligen und endlichen, einzelnen Subjecte, al&#x017F;o die<lb/>
Negation der Negation oder die unendliche Negativität der Idee als Po&#x017F;ition<lb/>
des rein gegenwärtigen Subjects zur An&#x017F;chauung (vergl. §. 154, <hi rendition="#sub">2</hi>).</hi> </p><lb/>
                <p> <hi rendition="#et">J. <hi rendition="#g">Paul</hi> &#x017F;pricht (a. a. O. §. 30) den Gedanken der unendlichen<lb/>
Stufenleiter des Komi&#x017F;chen aus und &#x017F;etzt hinzu: &#x201E;und noch über einen<lb/>
Engel i&#x017F;t zu lachen, wenn man der Erzengel i&#x017F;t.&#x201C; Dies i&#x017F;t &#x017F;ehr ein-<lb/>
ladend, über den zu lachen, der &#x017F;o &#x017F;pricht; denn i&#x017F;t über jede Art von<lb/>
Engeln noch eine höhere vorzu&#x017F;tellen, &#x017F;o gibt es keine Engel und gerade<lb/>
der komi&#x017F;che Standpunkt bemächtigt &#x017F;ich der Vor&#x017F;tellung einer außer-<lb/>
weltlichen &#x017F;ubjectiven Exi&#x017F;tenz, welche über die Schranken der Subjectivi-<lb/>
tät zugleich hinaus &#x017F;eyn &#x017F;oll. Soll &#x017F;ich die Kette in einem thei&#x017F;ti&#x017F;ch<lb/></hi> </p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[399/0413] dem rohen Piſtol und der Wirthin Hurtig ſteht der witzigere Bardolf, über dieſen und über ſich ſelbſt Falſtaff, Poins auch über dieſen, Prinz Heinrich über Allen, aber der Zuſchauer lacht über dieſen ſelbſt, da er ſich zwiſchen ſolchen Lachſtoffen herumtreibt. Der Zuſchauer kann aber über ſich ſelbſt und muß ſogar noch einen freieren Geiſt als möglich ſich vorſtellen, der als Zuſchauer über ihm ſteht. Es iſt aber auch hier gleichgültig, ob das leihende und lachende Subject als Zuſchauer gegen- überſteht oder mitſpielt: im Stücke ſelbſt ſind ſchon ſolche, die Andern zu- ſchauen, und die ganze Welt iſt dies Schauſpiel, wo jeder zugleich zuſchaut und Andern, wiſſend oder nicht, aufſpielt. Ein ſolche Skala iſt auch in Loves labours lost. Man vergleiche beſonders Act 4, Sc. 1. (in Tieks Einth.). §. 183. In Wahrheit geht aber dieſe aufſteigende Linie in ſich ſelbſt zurück, wo irgend ein Subject andere und ſich ſelbſt zum Gegenſtande ſeiner Komik macht; denn es kehrt immer nur derſelbe Prozeß wieder und das Subject, welches Object und Subject der Komik zugleich iſt, faßt als Mitte die Pole des Komiſchen ſo in ſich zuſammen, daß es die unendliche Linie zum Kreiſe um- biegt. Es iſt nur die Eine, allgemeine, ſich in ſich zum Gegenſatze des Ob- jects und Subjects verdoppelnde Subjectivität, die durch die ganze Kette geht. Dieſe Subjectivität iſt aber nicht in dem negativen Sinne, wie im Tragiſchen, abſolutes Subject, daß ihre Thätigkeit eine Tilgung aller Zufälligkeit und ſinn- lichen Beſtimmtheit wäre, ſondern ebendieſe und daher mit ihr zugleich das einzelne, endliche Subject iſt in ihr als geltend und berechtigt geſetzt und es kommt in ihr das ſtete Spiel der Selbſtaufhebung des im ausſchließenden Sinne abſoluten Subjects im zufälligen und endlichen, einzelnen Subjecte, alſo die Negation der Negation oder die unendliche Negativität der Idee als Poſition des rein gegenwärtigen Subjects zur Anſchauung (vergl. §. 154, 2). J. Paul ſpricht (a. a. O. §. 30) den Gedanken der unendlichen Stufenleiter des Komiſchen aus und ſetzt hinzu: „und noch über einen Engel iſt zu lachen, wenn man der Erzengel iſt.“ Dies iſt ſehr ein- ladend, über den zu lachen, der ſo ſpricht; denn iſt über jede Art von Engeln noch eine höhere vorzuſtellen, ſo gibt es keine Engel und gerade der komiſche Standpunkt bemächtigt ſich der Vorſtellung einer außer- weltlichen ſubjectiven Exiſtenz, welche über die Schranken der Subjectivi- tät zugleich hinaus ſeyn ſoll. Soll ſich die Kette in einem theiſtiſch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/413
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 399. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/413>, abgerufen am 21.12.2024.