Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

flicts liegt in allen bedeutenderen Werken der komischen Kunst vor, in
Aristophanes, in der neueren Komödie der Alten, in vielen Shakes-
peares
chen Stücken und modernen, besonders französischen Lustspielen.
Die Aufgabe ist vorzüglich, zur Darstellung zu bringen, wie nicht nur
Narren verschiedener Art zusammenhandeln, sondern Narren, die in
demselben Punkte, aber auf verschiedene Weise Narren sind, so daß
die eine Form an der andern ihre Ironie findet. Jeder leidet durch
den Andern eine Verkehrung seiner Zwecke, kommt aber dabei ganz leidlich
mit einer Beschämung, Entbehrung, Verlegenheit oder, wo es derber her-
geht, einer Tracht Prügel u. dergl. davon, das besondere eingebildete Glück
wird ihm nicht zu Theil, aber die gewöhnlichen Genugthuungen des
Lebens, welche schließlich übrig bleiben, erscheinen gerade als das Be-
haglichere und Lustigere.

Das Gegenglied.
§. 168.

1

Das Erhabene bricht sich an seinem Gegentheil. Da jenes ein unendlich
Großes ist, so muß dieses ein unendlich Kleines seyn. Dies ist die räumlich
2und zeitlich begrenzte Einzelheit des Gebildes sammt allen mit ihr gegebenen
Formen der Zufälligkeit; diese seine Bestimmtheit ist nicht blos äußere, sondern
auch innere Grenze und erstreckt sich daher in das Selbstbewußtseyn als Unbe-
wußtes (§. 159. 160), in die Freiheit als Unfreies (§. 161). Grund des
3unendlich Großen ist die Idee; Grund des unendlich Kleinen muß also Idee-
losigkeit seyn. Nun ist in Wahrheit diese ganze Sphäre nicht außer der Idee
(§. 152. 154) und gerade im Komischen soll sie als eine der Idee selbst mäch-
tige sich auf Kosten dieser, soferne sie als eine fremde Macht andringt, gel-
tend machen. Zuerst aber muß der Widerstreit in's Licht treten, der Gegensatz
als unendlich und daher das, worein die Idee untergeht, als ein von der Idee
Verlassenes erscheinen.

1. Als ein unendlich Kleines hat ganz richtig J. Paul das Gegen-
glied bestimmt a. a. O. §. 26, wo er es auch eine ideale Kleinheit
nennt, und §. 28. Er gibt dem Humor zur Losung: vive la bagatelle!
aber nicht nur diesem, sondern allem Komischen gilt sie und das Gesetz
des Individualisirens in's Kleinste (a. a. O. §. 35): "wenn der Ernst
überall das Allgemeine vorhebt und er uns z. B. das Herz so vergeistert,

flicts liegt in allen bedeutenderen Werken der komiſchen Kunſt vor, in
Ariſtophanes, in der neueren Komödie der Alten, in vielen Shakes-
peareſ
chen Stücken und modernen, beſonders franzöſiſchen Luſtſpielen.
Die Aufgabe iſt vorzüglich, zur Darſtellung zu bringen, wie nicht nur
Narren verſchiedener Art zuſammenhandeln, ſondern Narren, die in
demſelben Punkte, aber auf verſchiedene Weiſe Narren ſind, ſo daß
die eine Form an der andern ihre Ironie findet. Jeder leidet durch
den Andern eine Verkehrung ſeiner Zwecke, kommt aber dabei ganz leidlich
mit einer Beſchämung, Entbehrung, Verlegenheit oder, wo es derber her-
geht, einer Tracht Prügel u. dergl. davon, das beſondere eingebildete Glück
wird ihm nicht zu Theil, aber die gewöhnlichen Genugthuungen des
Lebens, welche ſchließlich übrig bleiben, erſcheinen gerade als das Be-
haglichere und Luſtigere.

Das Gegenglied.
§. 168.

1

Das Erhabene bricht ſich an ſeinem Gegentheil. Da jenes ein unendlich
Großes iſt, ſo muß dieſes ein unendlich Kleines ſeyn. Dies iſt die räumlich
2und zeitlich begrenzte Einzelheit des Gebildes ſammt allen mit ihr gegebenen
Formen der Zufälligkeit; dieſe ſeine Beſtimmtheit iſt nicht blos äußere, ſondern
auch innere Grenze und erſtreckt ſich daher in das Selbſtbewußtſeyn als Unbe-
wußtes (§. 159. 160), in die Freiheit als Unfreies (§. 161). Grund des
3unendlich Großen iſt die Idee; Grund des unendlich Kleinen muß alſo Idee-
loſigkeit ſeyn. Nun iſt in Wahrheit dieſe ganze Sphäre nicht außer der Idee
(§. 152. 154) und gerade im Komiſchen ſoll ſie als eine der Idee ſelbſt mäch-
tige ſich auf Koſten dieſer, ſoferne ſie als eine fremde Macht andringt, gel-
tend machen. Zuerſt aber muß der Widerſtreit in’s Licht treten, der Gegenſatz
als unendlich und daher das, worein die Idee untergeht, als ein von der Idee
Verlaſſenes erſcheinen.

1. Als ein unendlich Kleines hat ganz richtig J. Paul das Gegen-
glied beſtimmt a. a. O. §. 26, wo er es auch eine ideale Kleinheit
nennt, und §. 28. Er gibt dem Humor zur Loſung: vive la bagatelle!
aber nicht nur dieſem, ſondern allem Komiſchen gilt ſie und das Geſetz
des Individualiſirens in’s Kleinſte (a. a. O. §. 35): „wenn der Ernſt
überall das Allgemeine vorhebt und er uns z. B. das Herz ſo vergeiſtert,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0388" n="374"/>
flicts liegt in allen bedeutenderen Werken der komi&#x017F;chen Kun&#x017F;t vor, in<lb/><hi rendition="#g">Ari&#x017F;tophanes</hi>, in der neueren Komödie der Alten, in vielen <hi rendition="#g">Shakes-<lb/>
peare&#x017F;</hi>chen Stücken und modernen, be&#x017F;onders franzö&#x017F;i&#x017F;chen Lu&#x017F;t&#x017F;pielen.<lb/>
Die Aufgabe i&#x017F;t vorzüglich, zur Dar&#x017F;tellung zu bringen, wie nicht nur<lb/>
Narren ver&#x017F;chiedener Art zu&#x017F;ammenhandeln, &#x017F;ondern Narren, die in<lb/>
dem&#x017F;elben Punkte, aber auf ver&#x017F;chiedene Wei&#x017F;e Narren &#x017F;ind, &#x017F;o daß<lb/>
die eine Form an der andern ihre Ironie findet. Jeder leidet durch<lb/>
den Andern eine Verkehrung &#x017F;einer Zwecke, kommt aber dabei ganz leidlich<lb/>
mit einer Be&#x017F;chämung, Entbehrung, Verlegenheit oder, wo es derber her-<lb/>
geht, einer Tracht Prügel u. dergl. davon, das be&#x017F;ondere eingebildete Glück<lb/>
wird ihm nicht zu Theil, aber die gewöhnlichen Genugthuungen des<lb/>
Lebens, welche &#x017F;chließlich übrig bleiben, er&#x017F;cheinen gerade als das Be-<lb/>
haglichere und Lu&#x017F;tigere.</hi> </p>
              </div>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head><hi rendition="#g">Das Gegenglied</hi>.</head><lb/>
              <div n="5">
                <head>§. 168.</head><lb/>
                <note place="left"> <hi rendition="#fr">1</hi> </note>
                <p> <hi rendition="#fr">Das Erhabene bricht &#x017F;ich an &#x017F;einem Gegentheil. Da jenes ein unendlich<lb/>
Großes i&#x017F;t, &#x017F;o muß die&#x017F;es ein unendlich Kleines &#x017F;eyn. Dies i&#x017F;t die räumlich<lb/><note place="left">2</note>und zeitlich begrenzte Einzelheit des Gebildes &#x017F;ammt allen mit ihr gegebenen<lb/>
Formen der Zufälligkeit; die&#x017F;e &#x017F;eine Be&#x017F;timmtheit i&#x017F;t nicht blos äußere, &#x017F;ondern<lb/>
auch innere Grenze und er&#x017F;treckt &#x017F;ich daher in das Selb&#x017F;tbewußt&#x017F;eyn als Unbe-<lb/>
wußtes (§. 159. 160), in die Freiheit als Unfreies (§. 161). Grund des<lb/><note place="left">3</note>unendlich Großen i&#x017F;t die Idee; Grund des unendlich Kleinen muß al&#x017F;o Idee-<lb/>
lo&#x017F;igkeit &#x017F;eyn. Nun i&#x017F;t in Wahrheit die&#x017F;e ganze Sphäre nicht außer der Idee<lb/>
(§. 152. 154) und gerade im Komi&#x017F;chen &#x017F;oll &#x017F;ie als eine der Idee &#x017F;elb&#x017F;t mäch-<lb/>
tige &#x017F;ich auf Ko&#x017F;ten die&#x017F;er, &#x017F;oferne &#x017F;ie als eine fremde Macht andringt, gel-<lb/>
tend machen. Zuer&#x017F;t aber muß der Wider&#x017F;treit in&#x2019;s Licht treten, der Gegen&#x017F;atz<lb/>
als unendlich und daher das, worein die Idee untergeht, als ein von der Idee<lb/>
Verla&#x017F;&#x017F;enes er&#x017F;cheinen.</hi> </p><lb/>
                <p> <hi rendition="#et">1. Als ein unendlich Kleines hat ganz richtig J. <hi rendition="#g">Paul</hi> das Gegen-<lb/>
glied be&#x017F;timmt a. a. O. §. 26, wo er es auch eine ideale Kleinheit<lb/>
nennt, und §. 28. Er gibt dem Humor zur Lo&#x017F;ung: <hi rendition="#aq">vive la bagatelle!</hi><lb/>
aber nicht nur die&#x017F;em, &#x017F;ondern allem Komi&#x017F;chen gilt &#x017F;ie und das Ge&#x017F;etz<lb/>
des Individuali&#x017F;irens in&#x2019;s Klein&#x017F;te (a. a. O. §. 35): &#x201E;wenn der Ern&#x017F;t<lb/>
überall das Allgemeine vorhebt und er uns z. B. das Herz &#x017F;o vergei&#x017F;tert,<lb/></hi> </p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[374/0388] flicts liegt in allen bedeutenderen Werken der komiſchen Kunſt vor, in Ariſtophanes, in der neueren Komödie der Alten, in vielen Shakes- peareſchen Stücken und modernen, beſonders franzöſiſchen Luſtſpielen. Die Aufgabe iſt vorzüglich, zur Darſtellung zu bringen, wie nicht nur Narren verſchiedener Art zuſammenhandeln, ſondern Narren, die in demſelben Punkte, aber auf verſchiedene Weiſe Narren ſind, ſo daß die eine Form an der andern ihre Ironie findet. Jeder leidet durch den Andern eine Verkehrung ſeiner Zwecke, kommt aber dabei ganz leidlich mit einer Beſchämung, Entbehrung, Verlegenheit oder, wo es derber her- geht, einer Tracht Prügel u. dergl. davon, das beſondere eingebildete Glück wird ihm nicht zu Theil, aber die gewöhnlichen Genugthuungen des Lebens, welche ſchließlich übrig bleiben, erſcheinen gerade als das Be- haglichere und Luſtigere. Das Gegenglied. §. 168. Das Erhabene bricht ſich an ſeinem Gegentheil. Da jenes ein unendlich Großes iſt, ſo muß dieſes ein unendlich Kleines ſeyn. Dies iſt die räumlich und zeitlich begrenzte Einzelheit des Gebildes ſammt allen mit ihr gegebenen Formen der Zufälligkeit; dieſe ſeine Beſtimmtheit iſt nicht blos äußere, ſondern auch innere Grenze und erſtreckt ſich daher in das Selbſtbewußtſeyn als Unbe- wußtes (§. 159. 160), in die Freiheit als Unfreies (§. 161). Grund des unendlich Großen iſt die Idee; Grund des unendlich Kleinen muß alſo Idee- loſigkeit ſeyn. Nun iſt in Wahrheit dieſe ganze Sphäre nicht außer der Idee (§. 152. 154) und gerade im Komiſchen ſoll ſie als eine der Idee ſelbſt mäch- tige ſich auf Koſten dieſer, ſoferne ſie als eine fremde Macht andringt, gel- tend machen. Zuerſt aber muß der Widerſtreit in’s Licht treten, der Gegenſatz als unendlich und daher das, worein die Idee untergeht, als ein von der Idee Verlaſſenes erſcheinen. 1. Als ein unendlich Kleines hat ganz richtig J. Paul das Gegen- glied beſtimmt a. a. O. §. 26, wo er es auch eine ideale Kleinheit nennt, und §. 28. Er gibt dem Humor zur Loſung: vive la bagatelle! aber nicht nur dieſem, ſondern allem Komiſchen gilt ſie und das Geſetz des Individualiſirens in’s Kleinſte (a. a. O. §. 35): „wenn der Ernſt überall das Allgemeine vorhebt und er uns z. B. das Herz ſo vergeiſtert,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/388
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 374. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/388>, abgerufen am 30.12.2024.