Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

möglichst vollendete Bosheit verfällt dem Komischen, wenn von der Reihe der2
Zerstörungen, die ihr allerdings gelingen, abgesehen und die sittliche Welt-
ordnung in's Auge gefaßt wird, welche, selbst unzerstörbar, die Absicht der all-
gemeinen Zerstörung gegen den Verbrecher umkehrt, in welchem selbst sie zum
voraus als unverlierbares Bewußtseyn gegenwärtig ist.

1. Falstaff wird aus einem Trinker, Hurer, Prahler gelegentlich
zum Straßenräuber. Dies ist böse genug, aber man vergißt den sittlichen
Unwillen völlig, weil weitere Momente eintreten, welche, indem sie den
Versuch des Bösen dem Komischen überliefern, zugleich den ganzen Stand-
punkt verändern. Auch systematische Ränkesucht kann komisch werden,
wenn sie auf eine gewisse Weise an der höheren scheitert. Man denke
an den Reineke Voß, der doch immer ein Bild des menschlichen Lebens
ist. Hier sind die übrigen Thiere nichtsnutzig, gefräßig, lüstern, diebisch
u. s. w. wie Reineke, aber ihre Tücke scheitern komisch an seinem ganzen
und vollendeten Egoismus.

2. Das Böse ist "die Kraft, die stets das Böse will und stets das
Gute schafft." Mephistopheles hat selbst ein humoristisches Bewußt-
seyn davon. Der Teufel galt immer als dummer Teufel. Die Komik
des Bösen ist eine doppelte: ohne daß dadurch der schauderhaft erhabene
Eindruck des Ganzen aufgehoben würde, ist der Böse persönlich humoristisch
und zwar aus dem vorhin unter 1 genannten Grunde. Aber das Ganze
des Schauspiels wird komisch durch den im §. genannten Blick auf die
Ironie der sittlichen Weltordnung. Aus der Bemerkung 1 und 2, sowie
aus den Bem. zu §. 162 ergibt sich von selbst, wie das ou' mentoi kata
pasan kakian des Aristoteles (§. 152 Anm.) zu erklären ist. Die
Auseinandersetzung des dritten Moments, der Zusammenfassung der beiden
Glieder im Komischen, hat aber dies Alles erst noch zu ergänzen.

§. 164.

Der Wille des Guten ist vom Komischen keineswegs, wie Hegel meint,
auszunehmen, denn gerade je reiner er ist, desto fühlbarer seine Brechung durch
das Zufällige und Unfreie, was sich in sein inneres Leben und in seine Thätig-
keit einschleicht. Ja gerade, je wahrhafter erhaben der Gegenstand, desto ächter,
je mehr nur scheinbar erhaben, desto geringer die Komik. Leichter aber tritt
das Komische ein in dem positiv als in dem negativ Pathetischen, da von
dem Letzteren Mitleid und Furcht zu schwer fernzuhalten sind.


möglichſt vollendete Bosheit verfällt dem Komiſchen, wenn von der Reihe der2
Zerſtörungen, die ihr allerdings gelingen, abgeſehen und die ſittliche Welt-
ordnung in’s Auge gefaßt wird, welche, ſelbſt unzerſtörbar, die Abſicht der all-
gemeinen Zerſtörung gegen den Verbrecher umkehrt, in welchem ſelbſt ſie zum
voraus als unverlierbares Bewußtſeyn gegenwärtig iſt.

1. Falſtaff wird aus einem Trinker, Hurer, Prahler gelegentlich
zum Straßenräuber. Dies iſt böſe genug, aber man vergißt den ſittlichen
Unwillen völlig, weil weitere Momente eintreten, welche, indem ſie den
Verſuch des Böſen dem Komiſchen überliefern, zugleich den ganzen Stand-
punkt verändern. Auch ſyſtematiſche Ränkeſucht kann komiſch werden,
wenn ſie auf eine gewiſſe Weiſe an der höheren ſcheitert. Man denke
an den Reineke Voß, der doch immer ein Bild des menſchlichen Lebens
iſt. Hier ſind die übrigen Thiere nichtsnutzig, gefräßig, lüſtern, diebiſch
u. ſ. w. wie Reineke, aber ihre Tücke ſcheitern komiſch an ſeinem ganzen
und vollendeten Egoismus.

2. Das Böſe iſt „die Kraft, die ſtets das Böſe will und ſtets das
Gute ſchafft.“ Mephiſtopheles hat ſelbſt ein humoriſtiſches Bewußt-
ſeyn davon. Der Teufel galt immer als dummer Teufel. Die Komik
des Böſen iſt eine doppelte: ohne daß dadurch der ſchauderhaft erhabene
Eindruck des Ganzen aufgehoben würde, iſt der Böſe perſönlich humoriſtiſch
und zwar aus dem vorhin unter 1 genannten Grunde. Aber das Ganze
des Schauſpiels wird komiſch durch den im §. genannten Blick auf die
Ironie der ſittlichen Weltordnung. Aus der Bemerkung 1 und 2, ſowie
aus den Bem. zu §. 162 ergibt ſich von ſelbſt, wie das ȣ᾽ μέντοι κατὰ
πᾶσαν κακίαν des Ariſtoteles (§. 152 Anm.) zu erklären iſt. Die
Auseinanderſetzung des dritten Moments, der Zuſammenfaſſung der beiden
Glieder im Komiſchen, hat aber dies Alles erſt noch zu ergänzen.

§. 164.

Der Wille des Guten iſt vom Komiſchen keineswegs, wie Hegel meint,
auszunehmen, denn gerade je reiner er iſt, deſto fühlbarer ſeine Brechung durch
das Zufällige und Unfreie, was ſich in ſein inneres Leben und in ſeine Thätig-
keit einſchleicht. Ja gerade, je wahrhafter erhaben der Gegenſtand, deſto ächter,
je mehr nur ſcheinbar erhaben, deſto geringer die Komik. Leichter aber tritt
das Komiſche ein in dem poſitiv als in dem negativ Pathetiſchen, da von
dem Letzteren Mitleid und Furcht zu ſchwer fernzuhalten ſind.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p> <hi rendition="#fr"><pb facs="#f0381" n="367"/>
möglich&#x017F;t vollendete Bosheit verfällt dem Komi&#x017F;chen, wenn von der Reihe der<note place="right">2</note><lb/>
Zer&#x017F;törungen, die ihr allerdings gelingen, abge&#x017F;ehen und die &#x017F;ittliche Welt-<lb/>
ordnung in&#x2019;s Auge gefaßt wird, welche, &#x017F;elb&#x017F;t unzer&#x017F;törbar, die Ab&#x017F;icht der all-<lb/>
gemeinen Zer&#x017F;törung gegen den Verbrecher umkehrt, in welchem &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;ie zum<lb/>
voraus als unverlierbares Bewußt&#x017F;eyn gegenwärtig i&#x017F;t.</hi> </p><lb/>
                <p> <hi rendition="#et">1. <hi rendition="#g">Fal&#x017F;taff</hi> wird aus einem Trinker, Hurer, Prahler gelegentlich<lb/>
zum Straßenräuber. Dies i&#x017F;t bö&#x017F;e genug, aber man vergißt den &#x017F;ittlichen<lb/>
Unwillen völlig, weil weitere Momente eintreten, welche, indem &#x017F;ie den<lb/>
Ver&#x017F;uch des Bö&#x017F;en dem Komi&#x017F;chen überliefern, zugleich den ganzen Stand-<lb/>
punkt verändern. Auch &#x017F;y&#x017F;temati&#x017F;che Ränke&#x017F;ucht kann komi&#x017F;ch werden,<lb/>
wenn &#x017F;ie auf eine gewi&#x017F;&#x017F;e Wei&#x017F;e an der höheren &#x017F;cheitert. Man denke<lb/>
an den Reineke Voß, der doch immer ein Bild des men&#x017F;chlichen Lebens<lb/>
i&#x017F;t. Hier &#x017F;ind die übrigen Thiere nichtsnutzig, gefräßig, lü&#x017F;tern, diebi&#x017F;ch<lb/>
u. &#x017F;. w. wie Reineke, aber ihre Tücke &#x017F;cheitern komi&#x017F;ch an &#x017F;einem ganzen<lb/>
und vollendeten Egoismus.</hi> </p><lb/>
                <p> <hi rendition="#et">2. Das Bö&#x017F;e i&#x017F;t &#x201E;die Kraft, die &#x017F;tets das Bö&#x017F;e will und &#x017F;tets das<lb/>
Gute &#x017F;chafft.&#x201C; <hi rendition="#g">Mephi&#x017F;topheles</hi> hat &#x017F;elb&#x017F;t ein humori&#x017F;ti&#x017F;ches Bewußt-<lb/>
&#x017F;eyn davon. Der Teufel galt immer als dummer Teufel. Die Komik<lb/>
des Bö&#x017F;en i&#x017F;t eine doppelte: ohne daß dadurch der &#x017F;chauderhaft erhabene<lb/>
Eindruck des Ganzen aufgehoben würde, i&#x017F;t der Bö&#x017F;e per&#x017F;önlich humori&#x017F;ti&#x017F;ch<lb/>
und zwar aus dem vorhin unter <hi rendition="#sub">1</hi> genannten Grunde. Aber das Ganze<lb/>
des Schau&#x017F;piels wird komi&#x017F;ch durch den im §. genannten Blick auf die<lb/>
Ironie der &#x017F;ittlichen Weltordnung. Aus der Bemerkung <hi rendition="#sub">1</hi> und <hi rendition="#sub">2</hi>, &#x017F;owie<lb/>
aus den Bem. zu §. 162 ergibt &#x017F;ich von &#x017F;elb&#x017F;t, wie das &#x0223;&#x1FBD; &#x03BC;&#x03AD;&#x03BD;&#x03C4;&#x03BF;&#x03B9; &#x03BA;&#x03B1;&#x03C4;&#x1F70;<lb/>
&#x03C0;&#x1FB6;&#x03C3;&#x03B1;&#x03BD; &#x03BA;&#x03B1;&#x03BA;&#x03AF;&#x03B1;&#x03BD; des <hi rendition="#g">Ari&#x017F;toteles</hi> (§. 152 Anm.) zu erklären i&#x017F;t. Die<lb/>
Auseinander&#x017F;etzung des dritten Moments, der Zu&#x017F;ammenfa&#x017F;&#x017F;ung der beiden<lb/>
Glieder im Komi&#x017F;chen, hat aber dies Alles er&#x017F;t noch zu ergänzen.</hi> </p>
              </div><lb/>
              <div n="5">
                <head>§. 164.</head><lb/>
                <p> <hi rendition="#fr">Der Wille des <hi rendition="#g">Guten</hi> i&#x017F;t vom Komi&#x017F;chen keineswegs, wie <hi rendition="#g">Hegel</hi> meint,<lb/>
auszunehmen, denn gerade je reiner er i&#x017F;t, de&#x017F;to fühlbarer &#x017F;eine Brechung durch<lb/>
das Zufällige und Unfreie, was &#x017F;ich in &#x017F;ein inneres Leben und in &#x017F;eine Thätig-<lb/>
keit ein&#x017F;chleicht. Ja gerade, je wahrhafter erhaben der Gegen&#x017F;tand, de&#x017F;to ächter,<lb/>
je mehr nur &#x017F;cheinbar erhaben, de&#x017F;to geringer die Komik. Leichter aber tritt<lb/>
das Komi&#x017F;che ein in dem po&#x017F;itiv als in dem negativ Patheti&#x017F;chen, da von<lb/>
dem Letzteren Mitleid und Furcht zu &#x017F;chwer fernzuhalten &#x017F;ind.</hi> </p><lb/>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[367/0381] möglichſt vollendete Bosheit verfällt dem Komiſchen, wenn von der Reihe der Zerſtörungen, die ihr allerdings gelingen, abgeſehen und die ſittliche Welt- ordnung in’s Auge gefaßt wird, welche, ſelbſt unzerſtörbar, die Abſicht der all- gemeinen Zerſtörung gegen den Verbrecher umkehrt, in welchem ſelbſt ſie zum voraus als unverlierbares Bewußtſeyn gegenwärtig iſt. 1. Falſtaff wird aus einem Trinker, Hurer, Prahler gelegentlich zum Straßenräuber. Dies iſt böſe genug, aber man vergißt den ſittlichen Unwillen völlig, weil weitere Momente eintreten, welche, indem ſie den Verſuch des Böſen dem Komiſchen überliefern, zugleich den ganzen Stand- punkt verändern. Auch ſyſtematiſche Ränkeſucht kann komiſch werden, wenn ſie auf eine gewiſſe Weiſe an der höheren ſcheitert. Man denke an den Reineke Voß, der doch immer ein Bild des menſchlichen Lebens iſt. Hier ſind die übrigen Thiere nichtsnutzig, gefräßig, lüſtern, diebiſch u. ſ. w. wie Reineke, aber ihre Tücke ſcheitern komiſch an ſeinem ganzen und vollendeten Egoismus. 2. Das Böſe iſt „die Kraft, die ſtets das Böſe will und ſtets das Gute ſchafft.“ Mephiſtopheles hat ſelbſt ein humoriſtiſches Bewußt- ſeyn davon. Der Teufel galt immer als dummer Teufel. Die Komik des Böſen iſt eine doppelte: ohne daß dadurch der ſchauderhaft erhabene Eindruck des Ganzen aufgehoben würde, iſt der Böſe perſönlich humoriſtiſch und zwar aus dem vorhin unter 1 genannten Grunde. Aber das Ganze des Schauſpiels wird komiſch durch den im §. genannten Blick auf die Ironie der ſittlichen Weltordnung. Aus der Bemerkung 1 und 2, ſowie aus den Bem. zu §. 162 ergibt ſich von ſelbſt, wie das ȣ᾽ μέντοι κατὰ πᾶσαν κακίαν des Ariſtoteles (§. 152 Anm.) zu erklären iſt. Die Auseinanderſetzung des dritten Moments, der Zuſammenfaſſung der beiden Glieder im Komiſchen, hat aber dies Alles erſt noch zu ergänzen. §. 164. Der Wille des Guten iſt vom Komiſchen keineswegs, wie Hegel meint, auszunehmen, denn gerade je reiner er iſt, deſto fühlbarer ſeine Brechung durch das Zufällige und Unfreie, was ſich in ſein inneres Leben und in ſeine Thätig- keit einſchleicht. Ja gerade, je wahrhafter erhaben der Gegenſtand, deſto ächter, je mehr nur ſcheinbar erhaben, deſto geringer die Komik. Leichter aber tritt das Komiſche ein in dem poſitiv als in dem negativ Pathetiſchen, da von dem Letzteren Mitleid und Furcht zu ſchwer fernzuhalten ſind.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/381
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 367. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/381>, abgerufen am 21.11.2024.