so ist also die Schuld nur unvermeidliche Verwirklichung der Urschuld und daher zugleich Unschuld. "Die tragischen Heroen sind ebenso schul- dig als unschuldig, -- sie handeln aus diesem Charakter, diesem Pathos, weil sie gerade dieser Charakter, dieses Pathos sind" (Hegel a. a. O. S. 552). Es wird auch darum dem Tragischen alle universale Be- deutung, aller Geist genommen, wenn man mit Schiller (Ueber die trag. Kunst) behauptet, unser Antheil werde geschwächt, wenn der Un- glückliche aus eigener Schuld sich in's Verderben stürze; unserer Theil- nahme an dem unglücklichen Lear schade es nicht wenig, daß dieser kindische Alte seine Krone so leichtsinnig hingegeben habe u. s. w. Das Unglück müsse durch den Zwang der äußern Umstände herbeigeführt werden, dann sey das Mitleid reiner und werde durch keine Vorstel- lung moralischer Zweckwidrigkeit geschwächt. Gegen diese ganze, von W. Schlegel adoptirte Ansicht sagt Solger einfach und treffend, daß nach der tragischen Ansicht vielmehr gerade in unserer Stärke unsere Schwäche bestehe. (Kritik von W. Schlegels Vorles. über Gesch. d. dramat. Kunst und Lit. Nachgel. Werke B. 2, S. 517).
2. Ebenhiemit ist bereits das Ironische in der tragischen Bewe- gung ausgesprochen. Der Sinn, in welchem Solger den Begriff der Ironie auf das Tragische anwendet, wird aufgenommen werden, wenn erst das Ganze dieser Bewegung entwickelt seyn wird, wovon jetzt erst ein Moment hervorgetreten ist. Aber auch dies Moment kann allerdings bereits ironisch genannt werden. Ich rede ironisch, wenn ich scheinbar lobe, um vielmehr zu tadeln. Indem ich Zug für Zug von rühmlichen Eigenschaften an einem Gegenstande hervorhebe, die dieser vielmehr nicht hat, so wird mit jedem Schritte das Gegentheil klarer. Die sich selbst widersprechende Bewegung, die in dieser Redeform subjectiv vorgenom- men wird, liegt objectiv in der Entfaltung des tragischen Subjects, das weiter und weiter sich auszubreiten scheint, aber in demselben Grade sich verengert, in der Vereinzelung seiner Handlung schuldig wird und so gegen das absolute Ganze verschwindet.
§. 124.
1
Die Verletzung gibt sich dem Subjecte selbst zu erfahren, indem sie den Hintergrund aufregt, daß er sich als absolutes Ganzes in Bewegung setzt, wo- durch die vereinzelnde, einen Bruchtheil des Ganzen heraussetzende Handlung in eine unabsehliche Folgenkette hineingezogen wird, so daß das Subject nicht
ſo iſt alſo die Schuld nur unvermeidliche Verwirklichung der Urſchuld und daher zugleich Unſchuld. „Die tragiſchen Heroen ſind ebenſo ſchul- dig als unſchuldig, — ſie handeln aus dieſem Charakter, dieſem Pathos, weil ſie gerade dieſer Charakter, dieſes Pathos ſind“ (Hegel a. a. O. S. 552). Es wird auch darum dem Tragiſchen alle univerſale Be- deutung, aller Geiſt genommen, wenn man mit Schiller (Ueber die trag. Kunſt) behauptet, unſer Antheil werde geſchwächt, wenn der Un- glückliche aus eigener Schuld ſich in’s Verderben ſtürze; unſerer Theil- nahme an dem unglücklichen Lear ſchade es nicht wenig, daß dieſer kindiſche Alte ſeine Krone ſo leichtſinnig hingegeben habe u. ſ. w. Das Unglück müſſe durch den Zwang der äußern Umſtände herbeigeführt werden, dann ſey das Mitleid reiner und werde durch keine Vorſtel- lung moraliſcher Zweckwidrigkeit geſchwächt. Gegen dieſe ganze, von W. Schlegel adoptirte Anſicht ſagt Solger einfach und treffend, daß nach der tragiſchen Anſicht vielmehr gerade in unſerer Stärke unſere Schwäche beſtehe. (Kritik von W. Schlegels Vorleſ. über Geſch. d. dramat. Kunſt und Lit. Nachgel. Werke B. 2, S. 517).
2. Ebenhiemit iſt bereits das Ironiſche in der tragiſchen Bewe- gung ausgeſprochen. Der Sinn, in welchem Solger den Begriff der Ironie auf das Tragiſche anwendet, wird aufgenommen werden, wenn erſt das Ganze dieſer Bewegung entwickelt ſeyn wird, wovon jetzt erſt ein Moment hervorgetreten iſt. Aber auch dies Moment kann allerdings bereits ironiſch genannt werden. Ich rede ironiſch, wenn ich ſcheinbar lobe, um vielmehr zu tadeln. Indem ich Zug für Zug von rühmlichen Eigenſchaften an einem Gegenſtande hervorhebe, die dieſer vielmehr nicht hat, ſo wird mit jedem Schritte das Gegentheil klarer. Die ſich ſelbſt widerſprechende Bewegung, die in dieſer Redeform ſubjectiv vorgenom- men wird, liegt objectiv in der Entfaltung des tragiſchen Subjects, das weiter und weiter ſich auszubreiten ſcheint, aber in demſelben Grade ſich verengert, in der Vereinzelung ſeiner Handlung ſchuldig wird und ſo gegen das abſolute Ganze verſchwindet.
§. 124.
1
Die Verletzung gibt ſich dem Subjecte ſelbſt zu erfahren, indem ſie den Hintergrund aufregt, daß er ſich als abſolutes Ganzes in Bewegung ſetzt, wo- durch die vereinzelnde, einen Bruchtheil des Ganzen herausſetzende Handlung in eine unabſehliche Folgenkette hineingezogen wird, ſo daß das Subject nicht
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><p><hirendition="#et"><pbfacs="#f0302"n="288"/>ſo iſt alſo die Schuld nur unvermeidliche Verwirklichung der Urſchuld<lb/>
und daher zugleich Unſchuld. „Die tragiſchen Heroen ſind ebenſo ſchul-<lb/>
dig als unſchuldig, —ſie handeln aus dieſem Charakter, dieſem Pathos,<lb/>
weil ſie gerade dieſer Charakter, dieſes Pathos ſind“ (<hirendition="#g">Hegel</hi> a. a. O.<lb/>
S. 552). Es wird auch darum dem Tragiſchen alle univerſale Be-<lb/>
deutung, aller Geiſt genommen, wenn man mit <hirendition="#g">Schiller</hi> (Ueber die<lb/>
trag. Kunſt) behauptet, unſer Antheil werde geſchwächt, wenn der Un-<lb/>
glückliche aus eigener Schuld ſich in’s Verderben ſtürze; unſerer Theil-<lb/>
nahme an dem unglücklichen Lear ſchade es nicht wenig, daß dieſer<lb/>
kindiſche Alte ſeine Krone ſo leichtſinnig hingegeben habe u. ſ. w. Das<lb/>
Unglück müſſe durch den Zwang der äußern Umſtände herbeigeführt<lb/>
werden, dann ſey das Mitleid reiner und werde durch keine Vorſtel-<lb/>
lung moraliſcher Zweckwidrigkeit geſchwächt. Gegen dieſe ganze, von<lb/>
W. <hirendition="#g">Schlegel</hi> adoptirte Anſicht ſagt <hirendition="#g">Solger</hi> einfach und treffend, daß<lb/>
nach der tragiſchen Anſicht vielmehr gerade in unſerer Stärke unſere<lb/>
Schwäche beſtehe. (Kritik von W. <hirendition="#g">Schlegels</hi> Vorleſ. über Geſch. d.<lb/>
dramat. Kunſt und Lit. Nachgel. Werke B. 2, S. 517).</hi></p><lb/><p><hirendition="#et">2. Ebenhiemit iſt bereits das <hirendition="#g">Ironiſche</hi> in der tragiſchen Bewe-<lb/>
gung ausgeſprochen. Der Sinn, in welchem <hirendition="#g">Solger</hi> den Begriff der<lb/>
Ironie auf das Tragiſche anwendet, wird aufgenommen werden, wenn<lb/>
erſt das Ganze dieſer Bewegung entwickelt ſeyn wird, wovon jetzt erſt<lb/>
ein Moment hervorgetreten iſt. Aber auch dies Moment kann allerdings<lb/>
bereits ironiſch genannt werden. Ich rede ironiſch, wenn ich ſcheinbar<lb/>
lobe, um vielmehr zu tadeln. Indem ich Zug für Zug von rühmlichen<lb/>
Eigenſchaften an einem Gegenſtande hervorhebe, die dieſer vielmehr nicht<lb/>
hat, ſo wird mit jedem Schritte das Gegentheil klarer. Die ſich ſelbſt<lb/>
widerſprechende Bewegung, die in dieſer Redeform ſubjectiv vorgenom-<lb/>
men wird, liegt objectiv in der Entfaltung des tragiſchen Subjects, das<lb/>
weiter und weiter ſich auszubreiten ſcheint, aber in demſelben Grade<lb/>ſich verengert, in der Vereinzelung ſeiner Handlung ſchuldig wird und<lb/>ſo gegen das abſolute Ganze verſchwindet.</hi></p></div><lb/><divn="5"><head>§. 124.</head><lb/><noteplace="left"><hirendition="#fr">1</hi></note><p><hirendition="#fr">Die Verletzung gibt ſich dem Subjecte ſelbſt zu erfahren, indem ſie den<lb/>
Hintergrund aufregt, daß er ſich als abſolutes Ganzes in Bewegung ſetzt, wo-<lb/>
durch die vereinzelnde, einen Bruchtheil des Ganzen herausſetzende Handlung<lb/>
in eine unabſehliche Folgenkette hineingezogen wird, ſo daß das Subject nicht<lb/></hi></p></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[288/0302]
ſo iſt alſo die Schuld nur unvermeidliche Verwirklichung der Urſchuld
und daher zugleich Unſchuld. „Die tragiſchen Heroen ſind ebenſo ſchul-
dig als unſchuldig, — ſie handeln aus dieſem Charakter, dieſem Pathos,
weil ſie gerade dieſer Charakter, dieſes Pathos ſind“ (Hegel a. a. O.
S. 552). Es wird auch darum dem Tragiſchen alle univerſale Be-
deutung, aller Geiſt genommen, wenn man mit Schiller (Ueber die
trag. Kunſt) behauptet, unſer Antheil werde geſchwächt, wenn der Un-
glückliche aus eigener Schuld ſich in’s Verderben ſtürze; unſerer Theil-
nahme an dem unglücklichen Lear ſchade es nicht wenig, daß dieſer
kindiſche Alte ſeine Krone ſo leichtſinnig hingegeben habe u. ſ. w. Das
Unglück müſſe durch den Zwang der äußern Umſtände herbeigeführt
werden, dann ſey das Mitleid reiner und werde durch keine Vorſtel-
lung moraliſcher Zweckwidrigkeit geſchwächt. Gegen dieſe ganze, von
W. Schlegel adoptirte Anſicht ſagt Solger einfach und treffend, daß
nach der tragiſchen Anſicht vielmehr gerade in unſerer Stärke unſere
Schwäche beſtehe. (Kritik von W. Schlegels Vorleſ. über Geſch. d.
dramat. Kunſt und Lit. Nachgel. Werke B. 2, S. 517).
2. Ebenhiemit iſt bereits das Ironiſche in der tragiſchen Bewe-
gung ausgeſprochen. Der Sinn, in welchem Solger den Begriff der
Ironie auf das Tragiſche anwendet, wird aufgenommen werden, wenn
erſt das Ganze dieſer Bewegung entwickelt ſeyn wird, wovon jetzt erſt
ein Moment hervorgetreten iſt. Aber auch dies Moment kann allerdings
bereits ironiſch genannt werden. Ich rede ironiſch, wenn ich ſcheinbar
lobe, um vielmehr zu tadeln. Indem ich Zug für Zug von rühmlichen
Eigenſchaften an einem Gegenſtande hervorhebe, die dieſer vielmehr nicht
hat, ſo wird mit jedem Schritte das Gegentheil klarer. Die ſich ſelbſt
widerſprechende Bewegung, die in dieſer Redeform ſubjectiv vorgenom-
men wird, liegt objectiv in der Entfaltung des tragiſchen Subjects, das
weiter und weiter ſich auszubreiten ſcheint, aber in demſelben Grade
ſich verengert, in der Vereinzelung ſeiner Handlung ſchuldig wird und
ſo gegen das abſolute Ganze verſchwindet.
§. 124.
Die Verletzung gibt ſich dem Subjecte ſelbſt zu erfahren, indem ſie den
Hintergrund aufregt, daß er ſich als abſolutes Ganzes in Bewegung ſetzt, wo-
durch die vereinzelnde, einen Bruchtheil des Ganzen herausſetzende Handlung
in eine unabſehliche Folgenkette hineingezogen wird, ſo daß das Subject nicht
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 288. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/302>, abgerufen am 21.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.