Anderer, die es gesehen zu haben behaupten, kann ich nicht vertrauen; bis dahin aber berufe ich mich auf die allgemeinen Gesetze aller Erfahrung. Ebenso nun sagt billig der moderne Künstler: was den bekannten Ge- setzen aller Erfahrung widerstreitet, stelle ich auch nicht dar; das wahr- haft Ideale aber widerstreitet ihnen nicht.
c. Das Erhabene des Subject-Objects oder das Tragische.
§. 117.
In die höhere Form des Erhabenen ist die Aufhebung der niedrigeren in1 dem doppelten Sinne, daß diese als selbständige Form verneint, was aber Wahres in ihr liegt, in die höhere Form als ein zum Mittel ihrer Thätig- keit herabgesetztes Moment aufgenommen ist. Darum hört aber die aufgehobene Form nicht auf, auch neben der höheren fortzubestehen, vielmehr dient sie dieser außer dem durch ihre eigene Sphäre ihr gegebenen Stoff als Sollicitation und Gegenstand. Ueber dieses Verhältniß herrscht das Gesetz des stets eindringenden2 und der Aufhebung bestimmten Zufalls, das für das ganze Schöne gilt (vergl. §. 31 ff). Zudem ist das Erhabene überhaupt zwar eine Gährung im Schönen,3 aber auch dieses verschwindet nicht durch den Uebergang in jenes, sondern be- steht neben ihm und vermehrt die Verkettung in's Unendliche. So entsteht ein unberechenbarer Complex unendlichen Wechselwirkens und Uebergehens.
1. Es ist nun vor Allem nöthig, die sämmtlichen bis jetzt da ge- wesenen Formen zusammenzufassen, um die ganze Masse vor uns zu bringen, in welcher als seinem Stoffe das tragische Schicksal herrscht. Zunächst mußte daher ausdrücklich ausgesprochen werden, was zwar als dialektisches Gesetz bis hieher sich in der That geltend machte: daß die niedrigere Form, was Wahres an ihr ist, in die höhere hinüberrettet, aber zum Mittel herabgesetzt. So wird das Erhabene der Kraft zur Waffe der Leidenschaft, so die Leidenschaft zur Waffe des sittlichen Willens. Aber außerdem besteht die niedrigere Form, wiewohl es an den Tag gekommen ist, daß sie nicht die wahre ist, fort und reizt die höhere zur Thätigkeit, der sie als Stoff dient. So kämpft die Leidenschaft nicht
Anderer, die es geſehen zu haben behaupten, kann ich nicht vertrauen; bis dahin aber berufe ich mich auf die allgemeinen Geſetze aller Erfahrung. Ebenſo nun ſagt billig der moderne Künſtler: was den bekannten Ge- ſetzen aller Erfahrung widerſtreitet, ſtelle ich auch nicht dar; das wahr- haft Ideale aber widerſtreitet ihnen nicht.
c. Das Erhabene des Subject-Objects oder das Tragiſche.
§. 117.
In die höhere Form des Erhabenen iſt die Aufhebung der niedrigeren in1 dem doppelten Sinne, daß dieſe als ſelbſtändige Form verneint, was aber Wahres in ihr liegt, in die höhere Form als ein zum Mittel ihrer Thätig- keit herabgeſetztes Moment aufgenommen iſt. Darum hört aber die aufgehobene Form nicht auf, auch neben der höheren fortzubeſtehen, vielmehr dient ſie dieſer außer dem durch ihre eigene Sphäre ihr gegebenen Stoff als Sollicitation und Gegenſtand. Ueber dieſes Verhältniß herrſcht das Geſetz des ſtets eindringenden2 und der Aufhebung beſtimmten Zufalls, das für das ganze Schöne gilt (vergl. §. 31 ff). Zudem iſt das Erhabene überhaupt zwar eine Gährung im Schönen,3 aber auch dieſes verſchwindet nicht durch den Uebergang in jenes, ſondern be- ſteht neben ihm und vermehrt die Verkettung in’s Unendliche. So entſteht ein unberechenbarer Complex unendlichen Wechſelwirkens und Uebergehens.
1. Es iſt nun vor Allem nöthig, die ſämmtlichen bis jetzt da ge- weſenen Formen zuſammenzufaſſen, um die ganze Maſſe vor uns zu bringen, in welcher als ſeinem Stoffe das tragiſche Schickſal herrſcht. Zunächſt mußte daher ausdrücklich ausgeſprochen werden, was zwar als dialektiſches Geſetz bis hieher ſich in der That geltend machte: daß die niedrigere Form, was Wahres an ihr iſt, in die höhere hinüberrettet, aber zum Mittel herabgeſetzt. So wird das Erhabene der Kraft zur Waffe der Leidenſchaft, ſo die Leidenſchaft zur Waffe des ſittlichen Willens. Aber außerdem beſteht die niedrigere Form, wiewohl es an den Tag gekommen iſt, daß ſie nicht die wahre iſt, fort und reizt die höhere zur Thätigkeit, der ſie als Stoff dient. So kämpft die Leidenſchaft nicht
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Anderer, die es geſehen zu haben behaupten, kann ich nicht vertrauen; bis
dahin aber berufe ich mich auf die allgemeinen Geſetze aller Erfahrung.
Ebenſo nun ſagt billig der moderne Künſtler: was den bekannten Ge-
ſetzen aller Erfahrung widerſtreitet, ſtelle ich auch nicht dar; das wahr-
haft Ideale aber widerſtreitet ihnen nicht.
c.
Das Erhabene des Subject-Objects oder das Tragiſche.
§. 117.
In die höhere Form des Erhabenen iſt die Aufhebung der niedrigeren in
dem doppelten Sinne, daß dieſe als ſelbſtändige Form verneint, was aber
Wahres in ihr liegt, in die höhere Form als ein zum Mittel ihrer Thätig-
keit herabgeſetztes Moment aufgenommen iſt. Darum hört aber die aufgehobene
Form nicht auf, auch neben der höheren fortzubeſtehen, vielmehr dient ſie dieſer
außer dem durch ihre eigene Sphäre ihr gegebenen Stoff als Sollicitation und
Gegenſtand. Ueber dieſes Verhältniß herrſcht das Geſetz des ſtets eindringenden
und der Aufhebung beſtimmten Zufalls, das für das ganze Schöne gilt (vergl.
§. 31 ff). Zudem iſt das Erhabene überhaupt zwar eine Gährung im Schönen,
aber auch dieſes verſchwindet nicht durch den Uebergang in jenes, ſondern be-
ſteht neben ihm und vermehrt die Verkettung in’s Unendliche. So entſteht ein
unberechenbarer Complex unendlichen Wechſelwirkens und Uebergehens.
1. Es iſt nun vor Allem nöthig, die ſämmtlichen bis jetzt da ge-
weſenen Formen zuſammenzufaſſen, um die ganze Maſſe vor uns zu
bringen, in welcher als ſeinem Stoffe das tragiſche Schickſal herrſcht.
Zunächſt mußte daher ausdrücklich ausgeſprochen werden, was zwar als
dialektiſches Geſetz bis hieher ſich in der That geltend machte: daß die
niedrigere Form, was Wahres an ihr iſt, in die höhere hinüberrettet,
aber zum Mittel herabgeſetzt. So wird das Erhabene der Kraft zur
Waffe der Leidenſchaft, ſo die Leidenſchaft zur Waffe des ſittlichen Willens.
Aber außerdem beſteht die niedrigere Form, wiewohl es an den Tag
gekommen iſt, daß ſie nicht die wahre iſt, fort und reizt die höhere zur
Thätigkeit, der ſie als Stoff dient. So kämpft die Leidenſchaft nicht
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/291>, abgerufen am 21.12.2024.
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