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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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setzte ohne Weiteres voraus, daß im Pathetischen überhaupt das leidende
Subject der Gegenstand der Untersuchung sey. Der eine Fehler da-
bei war der schon gerügte, daß man dabei nur an die negative Form
dachte, die uns jetzt vorliegt; der andere der, daß man übersah, wie an
dieser Stelle, sobald man die Ursache des Leidens in ihren letzten
Grund verfolgt, eigentlich sogleich das Tragische beginnt. Dadurch ließ man
sich nicht verlegen machen, weil man in Wahrheit ein Tragisches eigentlich
gar nicht hatte, sondern es eben im Schauspiele der Seelenstärke im Leiden
suchte. Wir aber haben uns zu verantworten, warum wir auf dem Punkte
stillestehen, der hier unmittelbar zum Tragischen hinweist. Was nämlich
immer die nächste Ursache des Leidens sey, wenn auch nur eine äußere
Nothwendigkeit, in deren Eingreifen sehr unrichtig von früheren Aesthetikern
der Hebel des Tragischen gesucht wurde: der sittliche Wille, der sich im
Leiden bewährt, sieht darin als letzte Ursache ein höheres Gesetz, das über
allem Subjecte liegt, und hiemit ist die Erhabenheit des absoluten Geistes
eingetreten. Soll also die Sphäre der subjectiven Erhabenheit eingehalten
werden, so muß man diese Seite fallen lassen. Dies ist aber keine willkür-
liche Abstraction. Denn das leidende Subject verdoppelt sich in sich selbst
und wir haben zwei in Einem. Es nimmt den Feind in sich herüber durch
die Anerkennung eines absoluten sittlich waltenden Gesetzes, und dies führt,
im objectiven Sinne verfolgt, zum Tragischen, allein subjectiv entsteht da-
durch ein neues Verhältniß: das Subject hat noch einen Feind in sich,
der dies Anerkennen zu verhindern und im Erliegen den Geist zu verfinstern
droht: seine eigene Sinnlichkeit. Der innere Kampf des Subjectes mit
sich, abgesehen von dem Gehalte jener Anerkennung, wird nun Gegenstand,
ein Prozeß, der sich in Einem, sich zu sich selbst negativ verhaltenden,
Subjecte vollzieht, und dies ist das negativ Pathetische.

§. 113.

Der Wille setzt dem eigenen Leiden die Unendlichkeit seiner Freiheit1
entgegen und wandelt die niederschlagende Bewegung in eine muthige um. Diese
Bewährung der Freiheit erscheint um so tiefer, je mehr das Leiden nicht blos
die sinnliche, sondern selbst die an sich allerdings, nur im vorliegenden Falle
nicht, geistig berechtigte Empfindung trifft. Dieser Act des negativen Pathos
theilt sich also in zwei Momente. Das erste ist das Leiden, welches, wenn
das andere Moment seine Macht bewähren soll, bis zum äußersten Sturme
fortgehen muß, wodurch das Häßliche der Zerstörung (§. 100), doch in mehr

ſetzte ohne Weiteres voraus, daß im Pathetiſchen überhaupt das leidende
Subject der Gegenſtand der Unterſuchung ſey. Der eine Fehler da-
bei war der ſchon gerügte, daß man dabei nur an die negative Form
dachte, die uns jetzt vorliegt; der andere der, daß man überſah, wie an
dieſer Stelle, ſobald man die Urſache des Leidens in ihren letzten
Grund verfolgt, eigentlich ſogleich das Tragiſche beginnt. Dadurch ließ man
ſich nicht verlegen machen, weil man in Wahrheit ein Tragiſches eigentlich
gar nicht hatte, ſondern es eben im Schauſpiele der Seelenſtärke im Leiden
ſuchte. Wir aber haben uns zu verantworten, warum wir auf dem Punkte
ſtilleſtehen, der hier unmittelbar zum Tragiſchen hinweist. Was nämlich
immer die nächſte Urſache des Leidens ſey, wenn auch nur eine äußere
Nothwendigkeit, in deren Eingreifen ſehr unrichtig von früheren Aeſthetikern
der Hebel des Tragiſchen geſucht wurde: der ſittliche Wille, der ſich im
Leiden bewährt, ſieht darin als letzte Urſache ein höheres Geſetz, das über
allem Subjecte liegt, und hiemit iſt die Erhabenheit des abſoluten Geiſtes
eingetreten. Soll alſo die Sphäre der ſubjectiven Erhabenheit eingehalten
werden, ſo muß man dieſe Seite fallen laſſen. Dies iſt aber keine willkür-
liche Abſtraction. Denn das leidende Subject verdoppelt ſich in ſich ſelbſt
und wir haben zwei in Einem. Es nimmt den Feind in ſich herüber durch
die Anerkennung eines abſoluten ſittlich waltenden Geſetzes, und dies führt,
im objectiven Sinne verfolgt, zum Tragiſchen, allein ſubjectiv entſteht da-
durch ein neues Verhältniß: das Subject hat noch einen Feind in ſich,
der dies Anerkennen zu verhindern und im Erliegen den Geiſt zu verfinſtern
droht: ſeine eigene Sinnlichkeit. Der innere Kampf des Subjectes mit
ſich, abgeſehen von dem Gehalte jener Anerkennung, wird nun Gegenſtand,
ein Prozeß, der ſich in Einem, ſich zu ſich ſelbſt negativ verhaltenden,
Subjecte vollzieht, und dies iſt das negativ Pathetiſche.

§. 113.

Der Wille ſetzt dem eigenen Leiden die Unendlichkeit ſeiner Freiheit1
entgegen und wandelt die niederſchlagende Bewegung in eine muthige um. Dieſe
Bewährung der Freiheit erſcheint um ſo tiefer, je mehr das Leiden nicht blos
die ſinnliche, ſondern ſelbſt die an ſich allerdings, nur im vorliegenden Falle
nicht, geiſtig berechtigte Empfindung trifft. Dieſer Act des negativen Pathos
theilt ſich alſo in zwei Momente. Das erſte iſt das Leiden, welches, wenn
das andere Moment ſeine Macht bewähren ſoll, bis zum äußerſten Sturme
fortgehen muß, wodurch das Häßliche der Zerſtörung (§. 100), doch in mehr

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[269/0283] ſetzte ohne Weiteres voraus, daß im Pathetiſchen überhaupt das leidende Subject der Gegenſtand der Unterſuchung ſey. Der eine Fehler da- bei war der ſchon gerügte, daß man dabei nur an die negative Form dachte, die uns jetzt vorliegt; der andere der, daß man überſah, wie an dieſer Stelle, ſobald man die Urſache des Leidens in ihren letzten Grund verfolgt, eigentlich ſogleich das Tragiſche beginnt. Dadurch ließ man ſich nicht verlegen machen, weil man in Wahrheit ein Tragiſches eigentlich gar nicht hatte, ſondern es eben im Schauſpiele der Seelenſtärke im Leiden ſuchte. Wir aber haben uns zu verantworten, warum wir auf dem Punkte ſtilleſtehen, der hier unmittelbar zum Tragiſchen hinweist. Was nämlich immer die nächſte Urſache des Leidens ſey, wenn auch nur eine äußere Nothwendigkeit, in deren Eingreifen ſehr unrichtig von früheren Aeſthetikern der Hebel des Tragiſchen geſucht wurde: der ſittliche Wille, der ſich im Leiden bewährt, ſieht darin als letzte Urſache ein höheres Geſetz, das über allem Subjecte liegt, und hiemit iſt die Erhabenheit des abſoluten Geiſtes eingetreten. Soll alſo die Sphäre der ſubjectiven Erhabenheit eingehalten werden, ſo muß man dieſe Seite fallen laſſen. Dies iſt aber keine willkür- liche Abſtraction. Denn das leidende Subject verdoppelt ſich in ſich ſelbſt und wir haben zwei in Einem. Es nimmt den Feind in ſich herüber durch die Anerkennung eines abſoluten ſittlich waltenden Geſetzes, und dies führt, im objectiven Sinne verfolgt, zum Tragiſchen, allein ſubjectiv entſteht da- durch ein neues Verhältniß: das Subject hat noch einen Feind in ſich, der dies Anerkennen zu verhindern und im Erliegen den Geiſt zu verfinſtern droht: ſeine eigene Sinnlichkeit. Der innere Kampf des Subjectes mit ſich, abgeſehen von dem Gehalte jener Anerkennung, wird nun Gegenſtand, ein Prozeß, der ſich in Einem, ſich zu ſich ſelbſt negativ verhaltenden, Subjecte vollzieht, und dies iſt das negativ Pathetiſche. §. 113. Der Wille ſetzt dem eigenen Leiden die Unendlichkeit ſeiner Freiheit entgegen und wandelt die niederſchlagende Bewegung in eine muthige um. Dieſe Bewährung der Freiheit erſcheint um ſo tiefer, je mehr das Leiden nicht blos die ſinnliche, ſondern ſelbſt die an ſich allerdings, nur im vorliegenden Falle nicht, geiſtig berechtigte Empfindung trifft. Dieſer Act des negativen Pathos theilt ſich alſo in zwei Momente. Das erſte iſt das Leiden, welches, wenn das andere Moment ſeine Macht bewähren ſoll, bis zum äußerſten Sturme fortgehen muß, wodurch das Häßliche der Zerſtörung (§. 100), doch in mehr

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 269. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/283>, abgerufen am 30.12.2024.