schwankende Willkür. Solche Charaktere können wirksam eintreten neben andern. Die Leidenschaft kann übrigens jetzt, da sie nicht mehr der ganze Gehalt ist, auch in der weicheren Form der Neigung, der Eitelkeit u. s. w. hervortreten: Werther, Weislinger, Eduard in den Wahl- verwandtschaften und verwandte Gestalten. Sie sind unter anderen ebenfalls zu verwenden. Göthe bei Eckermann über Eduard: "ich kann ihn auch nicht leiden, aber ich brauchte ihn so".
b. Das Erhabene des bösen Willens.
§. 107.
Falsche Vereinigung dieser Gegensätze entsteht dadurch, daß die Leiden- schaft als unmittelbarer Wille des Subjects unvergeistigt in die Form der ab- stracten Freiheit erhoben und so der als Prinzip aufgestellte Eigenwille sich als allgemeiner und vernünftiger Wille behauptet. Diese Umkehrung der ge- forderten wahren Einheit ist das Böse. Das Böse ist erhaben, wenn in dieser Umkehrung so bedeutende Kräfte thätig sind, daß der Widerstand der umgebenden Subjecte, sey nun ihr Wille der sinnlich leidenschaftliche (§. 105) oder der schwankende (§. 106, 2) oder der gute, aber nicht durch persönliche Stärke ausgezeichnete, dagegen in nichts verschwindet und so das negative Wesen sich in eine schauderhafte, einsame Unendlichkeit positiver Wirkungskraft zu erweitern scheint. Zu jenen Kräften wird ebensosehr ungewöhnliche Gewalt der Leiden- schaft, als Feinheit der das verkehrte Prinzip beschönigenden und die Anschläge ausführenden Intelligenz und Fähigkeit der Abstraction von der einzelnen Be- friedigung für die umfassenderen Zwecke der Leidenschaft erfordert.
Der wahre Begriff des Bösen, nicht als bloser Abwesenheit, sondern als einer Verkehrung des Guten, ist hier kurz ausgesprochen und findet seine Erläuterung in der Ethik. Man vergegenwärtige sich hier, im ästhetischen Zusammenhang, sogleich die Ungeheuer der Herrschsucht in der Geschichte und die vollendetste Darstellung des Bösen in der Kunst, RichardIII von Shakespeare. Die ihn umgebende Welt theilt sich in unmächtige Leidenschaft, vorzüglich Weiberwuth, schwache, weil inconsequente Bosheit in den Vasallen; der gute Wille erscheint hier und im Macbeth so lange machtlos, bis er durch die Selbstzerstörung
ſchwankende Willkür. Solche Charaktere können wirkſam eintreten neben andern. Die Leidenſchaft kann übrigens jetzt, da ſie nicht mehr der ganze Gehalt iſt, auch in der weicheren Form der Neigung, der Eitelkeit u. ſ. w. hervortreten: Werther, Weislinger, Eduard in den Wahl- verwandtſchaften und verwandte Geſtalten. Sie ſind unter anderen ebenfalls zu verwenden. Göthe bei Eckermann über Eduard: „ich kann ihn auch nicht leiden, aber ich brauchte ihn ſo“.
β. Das Erhabene des böſen Willens.
§. 107.
Falſche Vereinigung dieſer Gegenſätze entſteht dadurch, daß die Leiden- ſchaft als unmittelbarer Wille des Subjects unvergeiſtigt in die Form der ab- ſtracten Freiheit erhoben und ſo der als Prinzip aufgeſtellte Eigenwille ſich als allgemeiner und vernünftiger Wille behauptet. Dieſe Umkehrung der ge- forderten wahren Einheit iſt das Böſe. Das Böſe iſt erhaben, wenn in dieſer Umkehrung ſo bedeutende Kräfte thätig ſind, daß der Widerſtand der umgebenden Subjecte, ſey nun ihr Wille der ſinnlich leidenſchaftliche (§. 105) oder der ſchwankende (§. 106, 2) oder der gute, aber nicht durch perſönliche Stärke ausgezeichnete, dagegen in nichts verſchwindet und ſo das negative Weſen ſich in eine ſchauderhafte, einſame Unendlichkeit poſitiver Wirkungskraft zu erweitern ſcheint. Zu jenen Kräften wird ebenſoſehr ungewöhnliche Gewalt der Leiden- ſchaft, als Feinheit der das verkehrte Prinzip beſchönigenden und die Anſchläge ausführenden Intelligenz und Fähigkeit der Abſtraction von der einzelnen Be- friedigung für die umfaſſenderen Zwecke der Leidenſchaft erfordert.
Der wahre Begriff des Böſen, nicht als bloſer Abweſenheit, ſondern als einer Verkehrung des Guten, iſt hier kurz ausgeſprochen und findet ſeine Erläuterung in der Ethik. Man vergegenwärtige ſich hier, im äſthetiſchen Zuſammenhang, ſogleich die Ungeheuer der Herrſchſucht in der Geſchichte und die vollendetſte Darſtellung des Böſen in der Kunſt, RichardIII von Shakespeare. Die ihn umgebende Welt theilt ſich in unmächtige Leidenſchaft, vorzüglich Weiberwuth, ſchwache, weil inconſequente Bosheit in den Vaſallen; der gute Wille erſcheint hier und im Macbeth ſo lange machtlos, bis er durch die Selbſtzerſtörung
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u. ſ. w. hervortreten: Werther, Weislinger, Eduard in den Wahl-
verwandtſchaften und verwandte Geſtalten. Sie ſind unter anderen
ebenfalls zu verwenden. Göthe bei Eckermann über Eduard: „ich
kann ihn auch nicht leiden, aber ich brauchte ihn ſo“.
β.
Das Erhabene des böſen Willens.
§. 107.
Falſche Vereinigung dieſer Gegenſätze entſteht dadurch, daß die Leiden-
ſchaft als unmittelbarer Wille des Subjects unvergeiſtigt in die Form der ab-
ſtracten Freiheit erhoben und ſo der als Prinzip aufgeſtellte Eigenwille ſich
als allgemeiner und vernünftiger Wille behauptet. Dieſe Umkehrung der ge-
forderten wahren Einheit iſt das Böſe. Das Böſe iſt erhaben, wenn in dieſer
Umkehrung ſo bedeutende Kräfte thätig ſind, daß der Widerſtand der umgebenden
Subjecte, ſey nun ihr Wille der ſinnlich leidenſchaftliche (§. 105) oder der
ſchwankende (§. 106, 2) oder der gute, aber nicht durch perſönliche Stärke
ausgezeichnete, dagegen in nichts verſchwindet und ſo das negative Weſen ſich
in eine ſchauderhafte, einſame Unendlichkeit poſitiver Wirkungskraft zu erweitern
ſcheint. Zu jenen Kräften wird ebenſoſehr ungewöhnliche Gewalt der Leiden-
ſchaft, als Feinheit der das verkehrte Prinzip beſchönigenden und die Anſchläge
ausführenden Intelligenz und Fähigkeit der Abſtraction von der einzelnen Be-
friedigung für die umfaſſenderen Zwecke der Leidenſchaft erfordert.
Der wahre Begriff des Böſen, nicht als bloſer Abweſenheit, ſondern
als einer Verkehrung des Guten, iſt hier kurz ausgeſprochen und findet
ſeine Erläuterung in der Ethik. Man vergegenwärtige ſich hier, im
äſthetiſchen Zuſammenhang, ſogleich die Ungeheuer der Herrſchſucht in der
Geſchichte und die vollendetſte Darſtellung des Böſen in der Kunſt,
Richard III von Shakespeare. Die ihn umgebende Welt theilt ſich
in unmächtige Leidenſchaft, vorzüglich Weiberwuth, ſchwache, weil
inconſequente Bosheit in den Vaſallen; der gute Wille erſcheint hier
und im Macbeth ſo lange machtlos, bis er durch die Selbſtzerſtörung
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/274>, abgerufen am 21.11.2024.
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