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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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§. 90.

Alle Erhabenheit ist, mit dem Schönen verglichen, quantitativ. Allein
es ist ein Unterschied, ob die Quantität schlechtweg oder ob die Qualität der
in ihrem Größen-Verhältnisse verglichenen Gegenstände das Bestimmende ist.
Es folgt zwar allerdings aus dem Wesen des Schönen (§. 16), daß nicht die
abstracte Kategorie der Ausdehnung, sondern nur das Ausgedehnte von ästhe-
tischer Wirkung seyn kann; allein sobald die Qualität als solche in der ästhe-
tischen Erscheinung sich geltend macht, so entsteht eine andere Form der Er-
habenheit; die erste und unmittelbarste aber ist die im engeren Sinn quantitative
Erhabenheit, wobei die Qualität nur beiläufig mitwirkt.

Weiße (Aesth. §. 22) behauptet, ein großer sinnlicher Gegenstand
sey als solcher noch nicht erhaben, er müsse zugleich schön seyn. Ruge
(a. a. O. S. 75 ff.) nimmt dies auf, verbindet es mit seiner Ansicht,
die das Erhabene der Natur blos als Gleichniß geistiger Erhebung gelten
läßt, und verlangt insbesondere Schönheit des Tags- und Farbenlichts zur
Größe; er erinnert an die Gletschergebirge, welche vorzüglich durch die
strahlende Reinheit der Farbe wirken u. s. w. Dies nun ist jedenfalls
zu viel gesagt, daß der große Gegenstand zugleich förmlich schön, z. B.
durch seine Farbe, seyn müsse. In der Farbe kann er auch trübe seyn;
das unendliche Meer wirkt erhaben nicht nur in schönem Farbenspiele.
Die Frage entscheidet sich durch §. 87; der Gegenstand kann in der einen
oder andern der dort unterschiedenen Bedeutungen zwischen Gestalt und
Gestaltlosigkeit schweben, was selbst Weiße zugibt, ja verlangt. Er
kann selbst häßlich seyn und wir werden in Bälde zeigen, daß das Häß-
liche schon im Erhabenen aufzuführen ist, nur gehört dies hieher noch
nicht. Wie er aber qualitativ bestimmt seyn mag, die Frage ist hier
diese: was ist das eigentlich Bestimmende in der ästhetischen Wirkung?
Was das nur Mitbestimmende? Läßt sich nachweisen, daß es die Aus-
dehnung ist, die auf das Gefühl unendlich erweiternd wirkt, so ist die
Beschaffenheit dessen, was sich ausdehnt, zwar nicht gleichgültig und
bringt mancherlei Modificationen der Empfindung hervor, aber es bleibt
dabei, daß die Ausdehnung das bestimmende Grundgefühl wirkt, und dies
reicht hin, eine besondere Eintheilung zu begründen. Daß dabei unter
der Decke schon ein anderes Bestimmendes spielt, das sich alsbald auch
geltend macht und zu einer neuen Sphäre führt, werden wir aufzeigen;

§. 90.

Alle Erhabenheit iſt, mit dem Schönen verglichen, quantitativ. Allein
es iſt ein Unterſchied, ob die Quantität ſchlechtweg oder ob die Qualität der
in ihrem Größen-Verhältniſſe verglichenen Gegenſtände das Beſtimmende iſt.
Es folgt zwar allerdings aus dem Weſen des Schönen (§. 16), daß nicht die
abſtracte Kategorie der Ausdehnung, ſondern nur das Ausgedehnte von äſthe-
tiſcher Wirkung ſeyn kann; allein ſobald die Qualität als ſolche in der äſthe-
tiſchen Erſcheinung ſich geltend macht, ſo entſteht eine andere Form der Er-
habenheit; die erſte und unmittelbarſte aber iſt die im engeren Sinn quantitative
Erhabenheit, wobei die Qualität nur beiläufig mitwirkt.

Weiße (Aeſth. §. 22) behauptet, ein großer ſinnlicher Gegenſtand
ſey als ſolcher noch nicht erhaben, er müſſe zugleich ſchön ſeyn. Ruge
(a. a. O. S. 75 ff.) nimmt dies auf, verbindet es mit ſeiner Anſicht,
die das Erhabene der Natur blos als Gleichniß geiſtiger Erhebung gelten
läßt, und verlangt insbeſondere Schönheit des Tags- und Farbenlichts zur
Größe; er erinnert an die Gletſchergebirge, welche vorzüglich durch die
ſtrahlende Reinheit der Farbe wirken u. ſ. w. Dies nun iſt jedenfalls
zu viel geſagt, daß der große Gegenſtand zugleich förmlich ſchön, z. B.
durch ſeine Farbe, ſeyn müſſe. In der Farbe kann er auch trübe ſeyn;
das unendliche Meer wirkt erhaben nicht nur in ſchönem Farbenſpiele.
Die Frage entſcheidet ſich durch §. 87; der Gegenſtand kann in der einen
oder andern der dort unterſchiedenen Bedeutungen zwiſchen Geſtalt und
Geſtaltloſigkeit ſchweben, was ſelbſt Weiße zugibt, ja verlangt. Er
kann ſelbſt häßlich ſeyn und wir werden in Bälde zeigen, daß das Häß-
liche ſchon im Erhabenen aufzuführen iſt, nur gehört dies hieher noch
nicht. Wie er aber qualitativ beſtimmt ſeyn mag, die Frage iſt hier
dieſe: was iſt das eigentlich Beſtimmende in der äſthetiſchen Wirkung?
Was das nur Mitbeſtimmende? Läßt ſich nachweiſen, daß es die Aus-
dehnung iſt, die auf das Gefühl unendlich erweiternd wirkt, ſo iſt die
Beſchaffenheit deſſen, was ſich ausdehnt, zwar nicht gleichgültig und
bringt mancherlei Modificationen der Empfindung hervor, aber es bleibt
dabei, daß die Ausdehnung das beſtimmende Grundgefühl wirkt, und dies
reicht hin, eine beſondere Eintheilung zu begründen. Daß dabei unter
der Decke ſchon ein anderes Beſtimmendes ſpielt, das ſich alsbald auch
geltend macht und zu einer neuen Sphäre führt, werden wir aufzeigen;

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[233/0247] §. 90. Alle Erhabenheit iſt, mit dem Schönen verglichen, quantitativ. Allein es iſt ein Unterſchied, ob die Quantität ſchlechtweg oder ob die Qualität der in ihrem Größen-Verhältniſſe verglichenen Gegenſtände das Beſtimmende iſt. Es folgt zwar allerdings aus dem Weſen des Schönen (§. 16), daß nicht die abſtracte Kategorie der Ausdehnung, ſondern nur das Ausgedehnte von äſthe- tiſcher Wirkung ſeyn kann; allein ſobald die Qualität als ſolche in der äſthe- tiſchen Erſcheinung ſich geltend macht, ſo entſteht eine andere Form der Er- habenheit; die erſte und unmittelbarſte aber iſt die im engeren Sinn quantitative Erhabenheit, wobei die Qualität nur beiläufig mitwirkt. Weiße (Aeſth. §. 22) behauptet, ein großer ſinnlicher Gegenſtand ſey als ſolcher noch nicht erhaben, er müſſe zugleich ſchön ſeyn. Ruge (a. a. O. S. 75 ff.) nimmt dies auf, verbindet es mit ſeiner Anſicht, die das Erhabene der Natur blos als Gleichniß geiſtiger Erhebung gelten läßt, und verlangt insbeſondere Schönheit des Tags- und Farbenlichts zur Größe; er erinnert an die Gletſchergebirge, welche vorzüglich durch die ſtrahlende Reinheit der Farbe wirken u. ſ. w. Dies nun iſt jedenfalls zu viel geſagt, daß der große Gegenſtand zugleich förmlich ſchön, z. B. durch ſeine Farbe, ſeyn müſſe. In der Farbe kann er auch trübe ſeyn; das unendliche Meer wirkt erhaben nicht nur in ſchönem Farbenſpiele. Die Frage entſcheidet ſich durch §. 87; der Gegenſtand kann in der einen oder andern der dort unterſchiedenen Bedeutungen zwiſchen Geſtalt und Geſtaltloſigkeit ſchweben, was ſelbſt Weiße zugibt, ja verlangt. Er kann ſelbſt häßlich ſeyn und wir werden in Bälde zeigen, daß das Häß- liche ſchon im Erhabenen aufzuführen iſt, nur gehört dies hieher noch nicht. Wie er aber qualitativ beſtimmt ſeyn mag, die Frage iſt hier dieſe: was iſt das eigentlich Beſtimmende in der äſthetiſchen Wirkung? Was das nur Mitbeſtimmende? Läßt ſich nachweiſen, daß es die Aus- dehnung iſt, die auf das Gefühl unendlich erweiternd wirkt, ſo iſt die Beſchaffenheit deſſen, was ſich ausdehnt, zwar nicht gleichgültig und bringt mancherlei Modificationen der Empfindung hervor, aber es bleibt dabei, daß die Ausdehnung das beſtimmende Grundgefühl wirkt, und dies reicht hin, eine beſondere Eintheilung zu begründen. Daß dabei unter der Decke ſchon ein anderes Beſtimmendes ſpielt, das ſich alsbald auch geltend macht und zu einer neuen Sphäre führt, werden wir aufzeigen;

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 233. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/247>, abgerufen am 21.11.2024.