Obwohl also das Schöne vor allem und ohne allen Begriff gefällt, wird es dennoch, wie Kant richtig bestimmt, als Object eines allgemeinen Wohlgefallens vorgestellt. Da nun allgemeine Uebereinstimmung des Urtheils blos da gefordert werden zu dürfen scheint, wo sie sich nöthigenfalls durch Be- weis, also Begriff erzwingen läßt, so hat man, um dem vermeintlichen Wider- spruch zu entkommen, den Satz geläugnet und ihm den andern entgegengestellt, daß Jeder seinen eigenen Geschmack habe. Allein Geschmack und Schön- heitssinn ist zweierlei. Jener hat nur anhängende Schönheit (§. 23, 3; 59, 3) zum Gegenstande und über diese gibt es allerdings so viele Ansichten als Sub- jecte, weil der Maßstab der Empfindungsweise über dasjenige, was durch Verbindung einer ästhetischen Zuthat mit dem Zweckmäßigen und Guten entsteht, und was als angenehm (in weiterem Sinne als §. 76) zu bezeichnen ist, in den unbestimmbar zufälligen Neigungen der Subjectivität liegt; zudem wechselt sie ihre Formen nach nationalen und geschichtlichen Bedingungen, wonach nothwendig auch der Geschmack am Vorhandenen wechselt.
Die Thatsache hat Kant a. a. O. §. 6. ff. ebenso richtig aufge- stellt, als mangelhaft (wiewohl mit richtigen Andeutungen) erklärt. "In Ansehung des Angenehmen bescheidet sich Jeder, daß sein Urtheil, welches er auf ein Privatgefühl gründet, sich auch blos auf seine Person einschränke. Daher ist er es gern zufrieden, daß, wenn er sagt: der Canariensekt ist angenehm, ihm ein Anderer den Ausdruck verbessere und ihn erinnere, er solle sagen: er ist mir angenehm" u. s. w. "Mit dem Schönen ist es anders bewandt. Es wäre (gerade umge- kehrt) lächerlich, wenn Jemand, der sich auf seinen Geschmack etwas einbildete, sich damit zu rechtfertigen gedächte: dieser Gegenstand ist für mich schön. Denn er muß es nicht schön nennen, wenn es blos ihm gefällt. Reiz und Annehmlichkeit mag für ihn Vieles haben, darum bekümmert sich Niemand; wenn er aber etwas für schön ausgiebt, so muthet er Andern ebendasselbe Wohlgefallen zu, -- er sagt daher: die Sache ist schön, er fordert von Andern die Einstimmung, er tadelt sie, wenn sie anders urtheilen, und spricht ihnen den Geschmack ab, von dem er doch verlangt, daß sie ihn haben sollen." Die For- derung der Allgemeinheit schließt den Begriff der Nothwendigkeit in sich (a. a. O. §. 18 -- 22); dies sind Merkmale des Begriffs, der seine
§. 79.
Obwohl alſo das Schöne vor allem und ohne allen Begriff gefällt, wird es dennoch, wie Kant richtig beſtimmt, als Object eines allgemeinen Wohlgefallens vorgeſtellt. Da nun allgemeine Uebereinſtimmung des Urtheils blos da gefordert werden zu dürfen ſcheint, wo ſie ſich nöthigenfalls durch Be- weis, alſo Begriff erzwingen läßt, ſo hat man, um dem vermeintlichen Wider- ſpruch zu entkommen, den Satz geläugnet und ihm den andern entgegengeſtellt, daß Jeder ſeinen eigenen Geſchmack habe. Allein Geſchmack und Schön- heitsſinn iſt zweierlei. Jener hat nur anhängende Schönheit (§. 23, 3; 59, 3) zum Gegenſtande und über dieſe gibt es allerdings ſo viele Anſichten als Sub- jecte, weil der Maßſtab der Empfindungsweiſe über dasjenige, was durch Verbindung einer äſthetiſchen Zuthat mit dem Zweckmäßigen und Guten entſteht, und was als angenehm (in weiterem Sinne als §. 76) zu bezeichnen iſt, in den unbeſtimmbar zufälligen Neigungen der Subjectivität liegt; zudem wechſelt ſie ihre Formen nach nationalen und geſchichtlichen Bedingungen, wonach nothwendig auch der Geſchmack am Vorhandenen wechſelt.
Die Thatſache hat Kant a. a. O. §. 6. ff. ebenſo richtig aufge- ſtellt, als mangelhaft (wiewohl mit richtigen Andeutungen) erklärt. „In Anſehung des Angenehmen beſcheidet ſich Jeder, daß ſein Urtheil, welches er auf ein Privatgefühl gründet, ſich auch blos auf ſeine Perſon einſchränke. Daher iſt er es gern zufrieden, daß, wenn er ſagt: der Canarienſekt iſt angenehm, ihm ein Anderer den Ausdruck verbeſſere und ihn erinnere, er ſolle ſagen: er iſt mir angenehm“ u. ſ. w. „Mit dem Schönen iſt es anders bewandt. Es wäre (gerade umge- kehrt) lächerlich, wenn Jemand, der ſich auf ſeinen Geſchmack etwas einbildete, ſich damit zu rechtfertigen gedächte: dieſer Gegenſtand iſt für mich ſchön. Denn er muß es nicht ſchön nennen, wenn es blos ihm gefällt. Reiz und Annehmlichkeit mag für ihn Vieles haben, darum bekümmert ſich Niemand; wenn er aber etwas für ſchön ausgiebt, ſo muthet er Andern ebendaſſelbe Wohlgefallen zu, — er ſagt daher: die Sache iſt ſchön, er fordert von Andern die Einſtimmung, er tadelt ſie, wenn ſie anders urtheilen, und ſpricht ihnen den Geſchmack ab, von dem er doch verlangt, daß ſie ihn haben ſollen.“ Die For- derung der Allgemeinheit ſchließt den Begriff der Nothwendigkeit in ſich (a. a. O. §. 18 — 22); dies ſind Merkmale des Begriffs, der ſeine
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Obwohl alſo das Schöne vor allem und ohne allen Begriff gefällt, wird
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blos da gefordert werden zu dürfen ſcheint, wo ſie ſich nöthigenfalls durch Be-
weis, alſo Begriff erzwingen läßt, ſo hat man, um dem vermeintlichen Wider-
ſpruch zu entkommen, den Satz geläugnet und ihm den andern entgegengeſtellt,
daß Jeder ſeinen eigenen Geſchmack habe. Allein Geſchmack und Schön-
heitsſinn iſt zweierlei. Jener hat nur anhängende Schönheit (§. 23, 3; 59, 3)
zum Gegenſtande und über dieſe gibt es allerdings ſo viele Anſichten als Sub-
jecte, weil der Maßſtab der Empfindungsweiſe über dasjenige, was durch
Verbindung einer äſthetiſchen Zuthat mit dem Zweckmäßigen und Guten entſteht,
und was als angenehm (in weiterem Sinne als §. 76) zu bezeichnen iſt, in den
unbeſtimmbar zufälligen Neigungen der Subjectivität liegt; zudem wechſelt ſie
ihre Formen nach nationalen und geſchichtlichen Bedingungen, wonach nothwendig
auch der Geſchmack am Vorhandenen wechſelt.
Die Thatſache hat Kant a. a. O. §. 6. ff. ebenſo richtig aufge-
ſtellt, als mangelhaft (wiewohl mit richtigen Andeutungen) erklärt. „In
Anſehung des Angenehmen beſcheidet ſich Jeder, daß ſein Urtheil,
welches er auf ein Privatgefühl gründet, ſich auch blos auf ſeine Perſon
einſchränke. Daher iſt er es gern zufrieden, daß, wenn er ſagt: der
Canarienſekt iſt angenehm, ihm ein Anderer den Ausdruck verbeſſere
und ihn erinnere, er ſolle ſagen: er iſt mir angenehm“ u. ſ. w.
„Mit dem Schönen iſt es anders bewandt. Es wäre (gerade umge-
kehrt) lächerlich, wenn Jemand, der ſich auf ſeinen Geſchmack etwas
einbildete, ſich damit zu rechtfertigen gedächte: dieſer Gegenſtand iſt für
mich ſchön. Denn er muß es nicht ſchön nennen, wenn es blos ihm
gefällt. Reiz und Annehmlichkeit mag für ihn Vieles haben, darum
bekümmert ſich Niemand; wenn er aber etwas für ſchön ausgiebt, ſo
muthet er Andern ebendaſſelbe Wohlgefallen zu, — er ſagt daher:
die Sache iſt ſchön, er fordert von Andern die Einſtimmung,
er tadelt ſie, wenn ſie anders urtheilen, und ſpricht ihnen den Geſchmack
ab, von dem er doch verlangt, daß ſie ihn haben ſollen.“ Die For-
derung der Allgemeinheit ſchließt den Begriff der Nothwendigkeit in ſich
(a. a. O. §. 18 — 22); dies ſind Merkmale des Begriffs, der ſeine
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/216>, abgerufen am 21.11.2024.
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