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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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dankens anzuschwärzen, herrscht die trübste Confusion über die Begriffe
des Unmittelbaren und Vermittelten. Allen denjenigen aber, welche die
Kunst bedauern, weil eine Zeit, welche vorzüglich im Gedanken arbeitet
und selbst die Durchführung desselben in der Wirklichkeit, nach der sie
sich sehnt, auf gedankenmäßige Weise sucht, allerdings zunächst ihre
Blüthe nicht begünstigen kann, muß die sichere Aussicht zum Troste
dienen, daß die neue Gestalt der Zeiten, welche hervorgehen wird, wenn erst
der Gedanke ohne viel Gerede vom Modernen, vom Unmittelbaren und von
der That durch seine innere Nothwendigkeit eine praktische Macht geworden
seyn wird, von selbst auch wieder eine neue Kunst hervortreiben muß.

Durch die §§. 56 -- 69 ist nunmehr die Stellung der Aesthetik im
System der philos. Wissenschaften, wie die Einl. sie angab, gerechtfertigt.

Der subjective Eindruck des Schönen.
§. 70.

1

Nachdem so das Schöne als allgemeiner Begriff in seinen Momenten
entwickelt ist, schließt es sich auch nach außen auf; eine Beziehung, welche durch
§. 12 und 13 bereits gesetzt ist, aber nunmehr aus dem Gegenstande selbst mit
2Nothwendigkeit hervorgeht. Dieser Gegenstand nämlich ist Erscheinung der
Idee in der Begrenztheit eines Einzelwesens. Durch den Begriff der Erschei-
nung ist aber in dem Gegenstande, welcher erscheint, das Subject, dem er er-
scheint, wesentlich mitgesetzt, und zwar zunächst als Sinnenwesen, das dieselbe
sinnliche Bestimmtheit, die im Gegenstande als durchdrungen von der Idee
3erscheint, ihm als lebendiges Organ entgegenbringt. Das Schöne ist für Jemand
da, es erwartet und fordert den Anschauenden, und dies widerstreitet auf
keine Weise der durch die Absolutheit seines Gehalts ihm zukommenden Selbst-
genugsamkeit und in sich ruhenden Sättigung; denn ein Anderes ist, mit Noth-
wendigkeit wirken, ein Anderes, eine eitle Wirkung eitel suchen.

2. Die §§. 12 und 13 machten das allgemeine Gesetz des Geistes
geltend, daß ihm, was nirgends und überall, niemals und immer wirklich
ist, irgendwo und irgendwann erscheine. Dadurch wurde das Schöne
als Gegenstand erst gefordert. Die Genesis der Phantasie wird weiter
zeigen, daß dieser Gegenstand nur von demselben Geiste, dem er er-
scheinen soll, durch eine bestimmte Thätigkeit geschaffen werden kann.
In der Metaphysik des Schönen darf dieser Genesis nicht vorgegriffen
werden, sie darf, wie schon mehrfach berührt ist und sich im Verlaufe

dankens anzuſchwärzen, herrſcht die trübſte Confuſion über die Begriffe
des Unmittelbaren und Vermittelten. Allen denjenigen aber, welche die
Kunſt bedauern, weil eine Zeit, welche vorzüglich im Gedanken arbeitet
und ſelbſt die Durchführung desſelben in der Wirklichkeit, nach der ſie
ſich ſehnt, auf gedankenmäßige Weiſe ſucht, allerdings zunächſt ihre
Blüthe nicht begünſtigen kann, muß die ſichere Ausſicht zum Troſte
dienen, daß die neue Geſtalt der Zeiten, welche hervorgehen wird, wenn erſt
der Gedanke ohne viel Gerede vom Modernen, vom Unmittelbaren und von
der That durch ſeine innere Nothwendigkeit eine praktiſche Macht geworden
ſeyn wird, von ſelbſt auch wieder eine neue Kunſt hervortreiben muß.

Durch die §§. 56 — 69 iſt nunmehr die Stellung der Aeſthetik im
Syſtem der philoſ. Wiſſenſchaften, wie die Einl. ſie angab, gerechtfertigt.

Der ſubjective Eindruck des Schönen.
§. 70.

1

Nachdem ſo das Schöne als allgemeiner Begriff in ſeinen Momenten
entwickelt iſt, ſchließt es ſich auch nach außen auf; eine Beziehung, welche durch
§. 12 und 13 bereits geſetzt iſt, aber nunmehr aus dem Gegenſtande ſelbſt mit
2Nothwendigkeit hervorgeht. Dieſer Gegenſtand nämlich iſt Erſcheinung der
Idee in der Begrenztheit eines Einzelweſens. Durch den Begriff der Erſchei-
nung iſt aber in dem Gegenſtande, welcher erſcheint, das Subject, dem er er-
ſcheint, weſentlich mitgeſetzt, und zwar zunächſt als Sinnenweſen, das dieſelbe
ſinnliche Beſtimmtheit, die im Gegenſtande als durchdrungen von der Idee
3erſcheint, ihm als lebendiges Organ entgegenbringt. Das Schöne iſt für Jemand
da, es erwartet und fordert den Anſchauenden, und dies widerſtreitet auf
keine Weiſe der durch die Abſolutheit ſeines Gehalts ihm zukommenden Selbſt-
genugſamkeit und in ſich ruhenden Sättigung; denn ein Anderes iſt, mit Noth-
wendigkeit wirken, ein Anderes, eine eitle Wirkung eitel ſuchen.

2. Die §§. 12 und 13 machten das allgemeine Geſetz des Geiſtes
geltend, daß ihm, was nirgends und überall, niemals und immer wirklich
iſt, irgendwo und irgendwann erſcheine. Dadurch wurde das Schöne
als Gegenſtand erſt gefordert. Die Geneſis der Phantaſie wird weiter
zeigen, daß dieſer Gegenſtand nur von demſelben Geiſte, dem er er-
ſcheinen ſoll, durch eine beſtimmte Thätigkeit geſchaffen werden kann.
In der Metaphyſik des Schönen darf dieſer Geneſis nicht vorgegriffen
werden, ſie darf, wie ſchon mehrfach berührt iſt und ſich im Verlaufe

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[178/0192] dankens anzuſchwärzen, herrſcht die trübſte Confuſion über die Begriffe des Unmittelbaren und Vermittelten. Allen denjenigen aber, welche die Kunſt bedauern, weil eine Zeit, welche vorzüglich im Gedanken arbeitet und ſelbſt die Durchführung desſelben in der Wirklichkeit, nach der ſie ſich ſehnt, auf gedankenmäßige Weiſe ſucht, allerdings zunächſt ihre Blüthe nicht begünſtigen kann, muß die ſichere Ausſicht zum Troſte dienen, daß die neue Geſtalt der Zeiten, welche hervorgehen wird, wenn erſt der Gedanke ohne viel Gerede vom Modernen, vom Unmittelbaren und von der That durch ſeine innere Nothwendigkeit eine praktiſche Macht geworden ſeyn wird, von ſelbſt auch wieder eine neue Kunſt hervortreiben muß. Durch die §§. 56 — 69 iſt nunmehr die Stellung der Aeſthetik im Syſtem der philoſ. Wiſſenſchaften, wie die Einl. ſie angab, gerechtfertigt. Der ſubjective Eindruck des Schönen. §. 70. Nachdem ſo das Schöne als allgemeiner Begriff in ſeinen Momenten entwickelt iſt, ſchließt es ſich auch nach außen auf; eine Beziehung, welche durch §. 12 und 13 bereits geſetzt iſt, aber nunmehr aus dem Gegenſtande ſelbſt mit Nothwendigkeit hervorgeht. Dieſer Gegenſtand nämlich iſt Erſcheinung der Idee in der Begrenztheit eines Einzelweſens. Durch den Begriff der Erſchei- nung iſt aber in dem Gegenſtande, welcher erſcheint, das Subject, dem er er- ſcheint, weſentlich mitgeſetzt, und zwar zunächſt als Sinnenweſen, das dieſelbe ſinnliche Beſtimmtheit, die im Gegenſtande als durchdrungen von der Idee erſcheint, ihm als lebendiges Organ entgegenbringt. Das Schöne iſt für Jemand da, es erwartet und fordert den Anſchauenden, und dies widerſtreitet auf keine Weiſe der durch die Abſolutheit ſeines Gehalts ihm zukommenden Selbſt- genugſamkeit und in ſich ruhenden Sättigung; denn ein Anderes iſt, mit Noth- wendigkeit wirken, ein Anderes, eine eitle Wirkung eitel ſuchen. 2. Die §§. 12 und 13 machten das allgemeine Geſetz des Geiſtes geltend, daß ihm, was nirgends und überall, niemals und immer wirklich iſt, irgendwo und irgendwann erſcheine. Dadurch wurde das Schöne als Gegenſtand erſt gefordert. Die Geneſis der Phantaſie wird weiter zeigen, daß dieſer Gegenſtand nur von demſelben Geiſte, dem er er- ſcheinen ſoll, durch eine beſtimmte Thätigkeit geſchaffen werden kann. In der Metaphyſik des Schönen darf dieſer Geneſis nicht vorgegriffen werden, ſie darf, wie ſchon mehrfach berührt iſt und ſich im Verlaufe

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/192>, abgerufen am 21.11.2024.