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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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mein Leben eingeschlossen; man sollte daher meinen, von dieser Seite
wenigstens werde ich mich nur um so ungetheilter mit dem Gegenstande
verwachsen fühlen. Allein dies Verwachsenseyn ist jetzt nur noch eine
freie Vertiefung in die Bedeutung, welche diese vor mir stehenden klaren
und ebendadurch begrenzten Formen zwar erfüllt, aber auch unendlich
über sie hinausgreift und nimmermehr in ihnen als gemeine Wirklichkeit
aufgeht. Ich kann diese Formen bewundern, aber nicht mehr anbeten, ja
sie sagen mir zugleich, daß auch meine innere Vorstellung, die ich leichter
mit der Sache verwechseln konnte, weil sie zerfließende Umrisse hat, nur
Bild war. Jetzt trifft das reine Denken, das allen Schein auflöst, in
mir den Boden. Das Bilden der Kunst ist mit der Bildung im innigsten
Einverständniß. -- Daß der ästhetische Schein kein Betrug, keine Unter-
schiebung (Verwechslung), sondern freies Spiel ist, sagt auch Schiller.
Ueber d. ästh. Erz. d. Menschen Br. 26.

§. 67.

Das Denken ist jedoch nothwendig schon vorher auch in der Religion
eingetreten, aber nicht als reines Denken, sondern mit der Bestimmung, daß es
jene Vermischung von Bild und Inhalt durch den Beweis zu schützen sucht.
Dieses unreine, blos reflectirende Denken geht, weil das Gefühl das Be-
stimmende und die Vorstellung zwar secundär, aber wesentlicher als das Denken
ist, auf die Autorität als letzten Beweisgrund zurück und als diese Verflechtung von
Gefühl, Vorstellung und Denken heißt die Religion Glaube. Ueberwindet aber
das Denken die Reflexion, geht es hinter die Autorität zurück und löst es so
den unfreien Schein auf, so ist die Religion in das scheinlose, begriffsmäßige
Denken des Inhalts, also in die Wahrheit im engeren Sinne (§. 28) übergegangen.
Bleibt daneben die Religion noch im Bestand, so ist wenigstens die Abweichung
des Schönen von ihr, wie solche im Gegensatz gegen jenes unreine Denken bereits
noch deutlicher hervortritt, vollendet.

Das Denken in völliger Abhängigkeit von der Religion, die Scholastik,
gieng allerdings neben der Blüthe der Vorstellung unschädlich her. Sobald
es aber kritisch wurde, so entbanden sich die auflösenden Keime in der
Scholastik und wiewohl es noch nicht die letzten Consequenzen zog,
hörte doch die Religion bereits auf, ein wahrer Stoff der Kunst zu
seyn. Klopstocks Messias und die reflectirte Absichtlichkeit der neueren
religiösen Malerei beweist dies. Die Niederländer hatten schon im sieb-

mein Leben eingeſchloſſen; man ſollte daher meinen, von dieſer Seite
wenigſtens werde ich mich nur um ſo ungetheilter mit dem Gegenſtande
verwachſen fühlen. Allein dies Verwachſenſeyn iſt jetzt nur noch eine
freie Vertiefung in die Bedeutung, welche dieſe vor mir ſtehenden klaren
und ebendadurch begrenzten Formen zwar erfüllt, aber auch unendlich
über ſie hinausgreift und nimmermehr in ihnen als gemeine Wirklichkeit
aufgeht. Ich kann dieſe Formen bewundern, aber nicht mehr anbeten, ja
ſie ſagen mir zugleich, daß auch meine innere Vorſtellung, die ich leichter
mit der Sache verwechſeln konnte, weil ſie zerfließende Umriſſe hat, nur
Bild war. Jetzt trifft das reine Denken, das allen Schein auflöst, in
mir den Boden. Das Bilden der Kunſt iſt mit der Bildung im innigſten
Einverſtändniß. — Daß der äſthetiſche Schein kein Betrug, keine Unter-
ſchiebung (Verwechslung), ſondern freies Spiel iſt, ſagt auch Schiller.
Ueber d. äſth. Erz. d. Menſchen Br. 26.

§. 67.

Das Denken iſt jedoch nothwendig ſchon vorher auch in der Religion
eingetreten, aber nicht als reines Denken, ſondern mit der Beſtimmung, daß es
jene Vermiſchung von Bild und Inhalt durch den Beweis zu ſchützen ſucht.
Dieſes unreine, blos reflectirende Denken geht, weil das Gefühl das Be-
ſtimmende und die Vorſtellung zwar ſecundär, aber weſentlicher als das Denken
iſt, auf die Autorität als letzten Beweisgrund zurück und als dieſe Verflechtung von
Gefühl, Vorſtellung und Denken heißt die Religion Glaube. Ueberwindet aber
das Denken die Reflexion, geht es hinter die Autorität zurück und löst es ſo
den unfreien Schein auf, ſo iſt die Religion in das ſcheinloſe, begriffsmäßige
Denken des Inhalts, alſo in die Wahrheit im engeren Sinne (§. 28) übergegangen.
Bleibt daneben die Religion noch im Beſtand, ſo iſt wenigſtens die Abweichung
des Schönen von ihr, wie ſolche im Gegenſatz gegen jenes unreine Denken bereits
noch deutlicher hervortritt, vollendet.

Das Denken in völliger Abhängigkeit von der Religion, die Scholaſtik,
gieng allerdings neben der Blüthe der Vorſtellung unſchädlich her. Sobald
es aber kritiſch wurde, ſo entbanden ſich die auflöſenden Keime in der
Scholaſtik und wiewohl es noch nicht die letzten Conſequenzen zog,
hörte doch die Religion bereits auf, ein wahrer Stoff der Kunſt zu
ſeyn. Klopſtocks Meſſias und die reflectirte Abſichtlichkeit der neueren
religiöſen Malerei beweist dies. Die Niederländer hatten ſchon im ſieb-

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[171/0185] mein Leben eingeſchloſſen; man ſollte daher meinen, von dieſer Seite wenigſtens werde ich mich nur um ſo ungetheilter mit dem Gegenſtande verwachſen fühlen. Allein dies Verwachſenſeyn iſt jetzt nur noch eine freie Vertiefung in die Bedeutung, welche dieſe vor mir ſtehenden klaren und ebendadurch begrenzten Formen zwar erfüllt, aber auch unendlich über ſie hinausgreift und nimmermehr in ihnen als gemeine Wirklichkeit aufgeht. Ich kann dieſe Formen bewundern, aber nicht mehr anbeten, ja ſie ſagen mir zugleich, daß auch meine innere Vorſtellung, die ich leichter mit der Sache verwechſeln konnte, weil ſie zerfließende Umriſſe hat, nur Bild war. Jetzt trifft das reine Denken, das allen Schein auflöst, in mir den Boden. Das Bilden der Kunſt iſt mit der Bildung im innigſten Einverſtändniß. — Daß der äſthetiſche Schein kein Betrug, keine Unter- ſchiebung (Verwechslung), ſondern freies Spiel iſt, ſagt auch Schiller. Ueber d. äſth. Erz. d. Menſchen Br. 26. §. 67. Das Denken iſt jedoch nothwendig ſchon vorher auch in der Religion eingetreten, aber nicht als reines Denken, ſondern mit der Beſtimmung, daß es jene Vermiſchung von Bild und Inhalt durch den Beweis zu ſchützen ſucht. Dieſes unreine, blos reflectirende Denken geht, weil das Gefühl das Be- ſtimmende und die Vorſtellung zwar ſecundär, aber weſentlicher als das Denken iſt, auf die Autorität als letzten Beweisgrund zurück und als dieſe Verflechtung von Gefühl, Vorſtellung und Denken heißt die Religion Glaube. Ueberwindet aber das Denken die Reflexion, geht es hinter die Autorität zurück und löst es ſo den unfreien Schein auf, ſo iſt die Religion in das ſcheinloſe, begriffsmäßige Denken des Inhalts, alſo in die Wahrheit im engeren Sinne (§. 28) übergegangen. Bleibt daneben die Religion noch im Beſtand, ſo iſt wenigſtens die Abweichung des Schönen von ihr, wie ſolche im Gegenſatz gegen jenes unreine Denken bereits noch deutlicher hervortritt, vollendet. Das Denken in völliger Abhängigkeit von der Religion, die Scholaſtik, gieng allerdings neben der Blüthe der Vorſtellung unſchädlich her. Sobald es aber kritiſch wurde, ſo entbanden ſich die auflöſenden Keime in der Scholaſtik und wiewohl es noch nicht die letzten Conſequenzen zog, hörte doch die Religion bereits auf, ein wahrer Stoff der Kunſt zu ſeyn. Klopſtocks Meſſias und die reflectirte Abſichtlichkeit der neueren religiöſen Malerei beweist dies. Die Niederländer hatten ſchon im ſieb-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/185>, abgerufen am 21.11.2024.