Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

zunehmen und durch diese drei Formen durchzuführen; ja sie wird das Schöne
selbst als Pflicht des Geistes gegen seine Erscheinung in ihren Kreis ziehen.
Allein der ganze Standpunkt bleibt dennoch von dem des selbständigen Schönen
völlig verschieden. Wie bestimmt der sittlichen Betrachtung die Einheit der
Gegensätze zu Grund gelegt seyn und in der ersten und dritten jener drei
Formen hervortreten mag, die ganze Ethik stellt sich doch gegenüber der ganzen
Wirklichkeit auf den Standpunkt der zweiten, d. h. der Pflicht oder des
Sollens; sie sieht in der Unschuld schon die Entzweiung und Schuld, in der
Versöhnung neue Entzweiung und Schuld voraus; sie erkennt die Indivi-
dualität als berechtigt an, faßt aber auch die gerechte Selbstbegrenzung aus
dem Gesichtspunkte der Pflicht und ebenso die schöne Selbstdarstellung der
Persönlichkeit.

Hieraus folgt bereits, daß und warum die Tendenz nicht in die Kunst
gehört. Sie zieht die dargestellte Wirklichkeit in die Unruhe des ethischen
Standpunkts. Die Kritik ist aber in diesem Punkte sehr verworren und
pflegt zwischen einem sittlichen Gehalte, der im Sinne der Tendenz, und
einem solchen, der nicht im Sinne der Tendenz den Mittelpunkt eines
Kunstwerks bildet, nicht gehörig zu unterscheiden. Die ganze Frage
gehört aber in die Lehre von der Kunst.

§. 59.

Der ästhetische Standpunkt kennt und unterscheidet ebenfalls jene drei1
Formen. Das Schöne umfaßt ein Gebiet kampfloser Zustände, worin die
Sinnlichkeit in edler Unschuld sich frei ergehen darf; es wird diese Sphäre
durchbrechen und den in §. 50 angedeuteten sittlichen Kampf in sich aufnehmen,
es wird den Kampf lösen und in die ursprüngliche Harmonie zurückkehren.
Allein wenn im Guten die zweite, so ist es im Schönen die erste und dritte2
dieser drei Formen, welche den ganzen Standpunkt bestimmt. Wo das Gute
erst anlangen soll, da ist das Schöne von Anfang an. Indem es keine andere
Sinnenwelt kennt, als eine mit dem Geist harmonische, daher jeden Inhalt
unmittelbar in der Form adäquater sinnlicher Erscheinung anschaut, so ist sein
Zweck niemals, das Gute an sich, sondern immer, selbst wenn es in käm-
pfender Form auftritt, dasselbe in rein entsprechender sinnlicher Form zur
Erscheinung zu bringen. Das Gute ist Inhalt des Schönen und zwar der
würdigste, aber nur wie es in der reinen Form aufgeht; es ist nicht lobens-

zunehmen und durch dieſe drei Formen durchzuführen; ja ſie wird das Schöne
ſelbſt als Pflicht des Geiſtes gegen ſeine Erſcheinung in ihren Kreis ziehen.
Allein der ganze Standpunkt bleibt dennoch von dem des ſelbſtändigen Schönen
völlig verſchieden. Wie beſtimmt der ſittlichen Betrachtung die Einheit der
Gegenſätze zu Grund gelegt ſeyn und in der erſten und dritten jener drei
Formen hervortreten mag, die ganze Ethik ſtellt ſich doch gegenüber der ganzen
Wirklichkeit auf den Standpunkt der zweiten, d. h. der Pflicht oder des
Sollens; ſie ſieht in der Unſchuld ſchon die Entzweiung und Schuld, in der
Verſöhnung neue Entzweiung und Schuld voraus; ſie erkennt die Indivi-
dualität als berechtigt an, faßt aber auch die gerechte Selbſtbegrenzung aus
dem Geſichtspunkte der Pflicht und ebenſo die ſchöne Selbſtdarſtellung der
Perſönlichkeit.

Hieraus folgt bereits, daß und warum die Tendenz nicht in die Kunſt
gehört. Sie zieht die dargeſtellte Wirklichkeit in die Unruhe des ethiſchen
Standpunkts. Die Kritik iſt aber in dieſem Punkte ſehr verworren und
pflegt zwiſchen einem ſittlichen Gehalte, der im Sinne der Tendenz, und
einem ſolchen, der nicht im Sinne der Tendenz den Mittelpunkt eines
Kunſtwerks bildet, nicht gehörig zu unterſcheiden. Die ganze Frage
gehört aber in die Lehre von der Kunſt.

§. 59.

Der äſthetiſche Standpunkt kennt und unterſcheidet ebenfalls jene drei1
Formen. Das Schöne umfaßt ein Gebiet kampfloſer Zuſtände, worin die
Sinnlichkeit in edler Unſchuld ſich frei ergehen darf; es wird dieſe Sphäre
durchbrechen und den in §. 50 angedeuteten ſittlichen Kampf in ſich aufnehmen,
es wird den Kampf löſen und in die urſprüngliche Harmonie zurückkehren.
Allein wenn im Guten die zweite, ſo iſt es im Schönen die erſte und dritte2
dieſer drei Formen, welche den ganzen Standpunkt beſtimmt. Wo das Gute
erſt anlangen ſoll, da iſt das Schöne von Anfang an. Indem es keine andere
Sinnenwelt kennt, als eine mit dem Geiſt harmoniſche, daher jeden Inhalt
unmittelbar in der Form adäquater ſinnlicher Erſcheinung anſchaut, ſo iſt ſein
Zweck niemals, das Gute an ſich, ſondern immer, ſelbſt wenn es in käm-
pfender Form auftritt, daſſelbe in rein entſprechender ſinnlicher Form zur
Erſcheinung zu bringen. Das Gute iſt Inhalt des Schönen und zwar der
würdigſte, aber nur wie es in der reinen Form aufgeht; es iſt nicht lobens-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p> <hi rendition="#fr"><pb facs="#f0169" n="155"/>
zunehmen und durch die&#x017F;e drei Formen durchzuführen; ja &#x017F;ie wird das Schöne<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t als Pflicht des Gei&#x017F;tes gegen &#x017F;eine Er&#x017F;cheinung in ihren Kreis ziehen.<lb/>
Allein der ganze Standpunkt bleibt dennoch von dem des &#x017F;elb&#x017F;tändigen Schönen<lb/>
völlig ver&#x017F;chieden. Wie be&#x017F;timmt der &#x017F;ittlichen Betrachtung die Einheit der<lb/>
Gegen&#x017F;ätze zu Grund gelegt &#x017F;eyn und in der er&#x017F;ten und dritten jener drei<lb/>
Formen hervortreten mag, die ganze Ethik &#x017F;tellt &#x017F;ich doch gegenüber der ganzen<lb/>
Wirklichkeit auf den Standpunkt der zweiten, d. h. der Pflicht oder des<lb/>
Sollens; &#x017F;ie &#x017F;ieht in der Un&#x017F;chuld &#x017F;chon die Entzweiung und Schuld, in der<lb/>
Ver&#x017F;öhnung neue Entzweiung und Schuld voraus; &#x017F;ie erkennt die Indivi-<lb/>
dualität als berechtigt an, faßt aber auch die gerechte Selb&#x017F;tbegrenzung aus<lb/>
dem Ge&#x017F;ichtspunkte der Pflicht und eben&#x017F;o die &#x017F;chöne Selb&#x017F;tdar&#x017F;tellung der<lb/>
Per&#x017F;önlichkeit.</hi> </p><lb/>
              <p> <hi rendition="#et">Hieraus folgt bereits, daß und warum die Tendenz nicht in die Kun&#x017F;t<lb/>
gehört. Sie zieht die darge&#x017F;tellte Wirklichkeit in die Unruhe des ethi&#x017F;chen<lb/>
Standpunkts. Die Kritik i&#x017F;t aber in die&#x017F;em Punkte &#x017F;ehr verworren und<lb/>
pflegt zwi&#x017F;chen einem &#x017F;ittlichen Gehalte, der im Sinne der Tendenz, und<lb/>
einem &#x017F;olchen, der nicht im Sinne der Tendenz den Mittelpunkt eines<lb/>
Kun&#x017F;twerks bildet, nicht gehörig zu unter&#x017F;cheiden. Die ganze Frage<lb/>
gehört aber in die Lehre von der Kun&#x017F;t.</hi> </p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 59.</head><lb/>
              <p> <hi rendition="#fr">Der ä&#x017F;theti&#x017F;che Standpunkt kennt und unter&#x017F;cheidet ebenfalls jene drei<note place="right">1</note><lb/>
Formen. Das Schöne umfaßt ein Gebiet kampflo&#x017F;er Zu&#x017F;tände, worin die<lb/>
Sinnlichkeit in edler Un&#x017F;chuld &#x017F;ich frei ergehen darf; es wird die&#x017F;e Sphäre<lb/>
durchbrechen und den in §. 50 angedeuteten &#x017F;ittlichen Kampf in &#x017F;ich aufnehmen,<lb/>
es wird den Kampf lö&#x017F;en und in die ur&#x017F;prüngliche Harmonie zurückkehren.<lb/>
Allein wenn im Guten die zweite, &#x017F;o i&#x017F;t es im Schönen die er&#x017F;te und dritte<note place="right">2</note><lb/>
die&#x017F;er drei Formen, welche den ganzen Standpunkt be&#x017F;timmt. Wo das Gute<lb/>
er&#x017F;t anlangen &#x017F;oll, da i&#x017F;t das Schöne von Anfang an. Indem es keine andere<lb/>
Sinnenwelt kennt, als eine mit dem Gei&#x017F;t harmoni&#x017F;che, daher jeden Inhalt<lb/>
unmittelbar in der Form adäquater &#x017F;innlicher Er&#x017F;cheinung an&#x017F;chaut, &#x017F;o i&#x017F;t &#x017F;ein<lb/>
Zweck niemals, das Gute an &#x017F;ich, &#x017F;ondern immer, &#x017F;elb&#x017F;t wenn es in käm-<lb/>
pfender Form auftritt, da&#x017F;&#x017F;elbe in rein ent&#x017F;prechender &#x017F;innlicher Form zur<lb/>
Er&#x017F;cheinung zu bringen. Das Gute i&#x017F;t Inhalt des Schönen und zwar der<lb/>
würdig&#x017F;te, aber nur wie es in der reinen Form aufgeht; es i&#x017F;t nicht lobens-<lb/></hi> </p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[155/0169] zunehmen und durch dieſe drei Formen durchzuführen; ja ſie wird das Schöne ſelbſt als Pflicht des Geiſtes gegen ſeine Erſcheinung in ihren Kreis ziehen. Allein der ganze Standpunkt bleibt dennoch von dem des ſelbſtändigen Schönen völlig verſchieden. Wie beſtimmt der ſittlichen Betrachtung die Einheit der Gegenſätze zu Grund gelegt ſeyn und in der erſten und dritten jener drei Formen hervortreten mag, die ganze Ethik ſtellt ſich doch gegenüber der ganzen Wirklichkeit auf den Standpunkt der zweiten, d. h. der Pflicht oder des Sollens; ſie ſieht in der Unſchuld ſchon die Entzweiung und Schuld, in der Verſöhnung neue Entzweiung und Schuld voraus; ſie erkennt die Indivi- dualität als berechtigt an, faßt aber auch die gerechte Selbſtbegrenzung aus dem Geſichtspunkte der Pflicht und ebenſo die ſchöne Selbſtdarſtellung der Perſönlichkeit. Hieraus folgt bereits, daß und warum die Tendenz nicht in die Kunſt gehört. Sie zieht die dargeſtellte Wirklichkeit in die Unruhe des ethiſchen Standpunkts. Die Kritik iſt aber in dieſem Punkte ſehr verworren und pflegt zwiſchen einem ſittlichen Gehalte, der im Sinne der Tendenz, und einem ſolchen, der nicht im Sinne der Tendenz den Mittelpunkt eines Kunſtwerks bildet, nicht gehörig zu unterſcheiden. Die ganze Frage gehört aber in die Lehre von der Kunſt. §. 59. Der äſthetiſche Standpunkt kennt und unterſcheidet ebenfalls jene drei Formen. Das Schöne umfaßt ein Gebiet kampfloſer Zuſtände, worin die Sinnlichkeit in edler Unſchuld ſich frei ergehen darf; es wird dieſe Sphäre durchbrechen und den in §. 50 angedeuteten ſittlichen Kampf in ſich aufnehmen, es wird den Kampf löſen und in die urſprüngliche Harmonie zurückkehren. Allein wenn im Guten die zweite, ſo iſt es im Schönen die erſte und dritte dieſer drei Formen, welche den ganzen Standpunkt beſtimmt. Wo das Gute erſt anlangen ſoll, da iſt das Schöne von Anfang an. Indem es keine andere Sinnenwelt kennt, als eine mit dem Geiſt harmoniſche, daher jeden Inhalt unmittelbar in der Form adäquater ſinnlicher Erſcheinung anſchaut, ſo iſt ſein Zweck niemals, das Gute an ſich, ſondern immer, ſelbſt wenn es in käm- pfender Form auftritt, daſſelbe in rein entſprechender ſinnlicher Form zur Erſcheinung zu bringen. Das Gute iſt Inhalt des Schönen und zwar der würdigſte, aber nur wie es in der reinen Form aufgeht; es iſt nicht lobens-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/169
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/169>, abgerufen am 03.12.2024.