Was das Geschichtliche betrifft, so ist an seinem Orte die Forderung auf- zustellen, daß der Künstler zeitgemäße Ideen behandle. Eine Idee kann ihres Orts hoch stehen, aber eine Zeit nicht interessiren, wie z. B. Liebe und Freundschaft jetzt das von höheren Fragen in Anspruch genommene Gefühl der Zeit wenig beschäftigen. Dagegen können zeitgemäße Ideen sittlicher Art darum zu mißrathen seyn, weil sie abgesehen von der Kunst noch keine concrete Gestalt haben und daher zu den abstracten Begriffen fallen, wie die politischen Ideen der Gegenwart. Aus diesem Allem wird man hinreichend ersehen, daß es allerdings höchst nothwendig ist, der Frage über die Kunst die Frage über den Inhalt (die sog. Stoffe) zu Grund zu legen, wie wenig man immer verkennen mag, daß das Schöne ein reines Formwesen ist. Zweitens bedeutet Stoff: die Idee, wie sie irgend einmal, abgesehen von der Kunst, Form angenommen hat; der Künstler findet diesen so weit schon geformten Stoff in der Erfahrung vor und wählt ihn zur Umbildung in die reine Form: eine Begebenheit, Sage u. s. w. In diesem Sinne wird der Begriff des Stoffs auftreten im ersten Abschnitte des zweiten Theils unseres Systems. Drittens: Stoff heißt das Materielle, was auszuscheiden ist, der rohe Stoff (§. 54). Nach diesem als Solchem darf im Schönen natürlich gar nicht weiter gefragt werden. Was nun die Form betrifft, so wird sich erst in der Lehre von der Kunst zeigen, daß sie selbst eine äußere und eine innere Seite hat; höchstens jene kann noch durch Schönheit täuschen, wenn der Inhalt schlecht (unsittlich) ist, niemals diese: was Strauß gegen Menzel treffend nachgewiesen hat (Streitschr. H. 1, S. 127).
3. Dies also ist die einzige Art, wie das Schöne als allgemeiner Begriff zu bestimmen ist. Es mag hier eine Stelle aus Hegels Aesth. Platz finden, welche zwar das Schöne schon als Ideal bestimmt, während wir noch voraussetzen, daß der Schein, als finde es sich auch außer der Ideal-schaffenden Thätigkeit vor, Grund haben könne: "Das Ideal setzt seinen Fuß in die Sinnlichkeit und deren Naturgestalt hinein, doch zieht ihn wie das Bereich des Aeußern zugleich zu sich zurück" (Th. 1, S. 201).
§. 56.
Wenn demnach das Wesen des Schönen reine Form und diese nichts Anderes ist, als die allgemeine Harmonie der Idee mit der Wirklichkeit, aber nicht in ihrer Allgemeinheit, sondern zur vollendeten Erscheinung heraustretend im Einzelnen, so erhellt nunmehr der wesentliche Unterschied in der Einheit
Was das Geſchichtliche betrifft, ſo iſt an ſeinem Orte die Forderung auf- zuſtellen, daß der Künſtler zeitgemäße Ideen behandle. Eine Idee kann ihres Orts hoch ſtehen, aber eine Zeit nicht intereſſiren, wie z. B. Liebe und Freundſchaft jetzt das von höheren Fragen in Anſpruch genommene Gefühl der Zeit wenig beſchäftigen. Dagegen können zeitgemäße Ideen ſittlicher Art darum zu mißrathen ſeyn, weil ſie abgeſehen von der Kunſt noch keine concrete Geſtalt haben und daher zu den abſtracten Begriffen fallen, wie die politiſchen Ideen der Gegenwart. Aus dieſem Allem wird man hinreichend erſehen, daß es allerdings höchſt nothwendig iſt, der Frage über die Kunſt die Frage über den Inhalt (die ſog. Stoffe) zu Grund zu legen, wie wenig man immer verkennen mag, daß das Schöne ein reines Formweſen iſt. Zweitens bedeutet Stoff: die Idee, wie ſie irgend einmal, abgeſehen von der Kunſt, Form angenommen hat; der Künſtler findet dieſen ſo weit ſchon geformten Stoff in der Erfahrung vor und wählt ihn zur Umbildung in die reine Form: eine Begebenheit, Sage u. ſ. w. In dieſem Sinne wird der Begriff des Stoffs auftreten im erſten Abſchnitte des zweiten Theils unſeres Syſtems. Drittens: Stoff heißt das Materielle, was auszuſcheiden iſt, der rohe Stoff (§. 54). Nach dieſem als Solchem darf im Schönen natürlich gar nicht weiter gefragt werden. Was nun die Form betrifft, ſo wird ſich erſt in der Lehre von der Kunſt zeigen, daß ſie ſelbſt eine äußere und eine innere Seite hat; höchſtens jene kann noch durch Schönheit täuſchen, wenn der Inhalt ſchlecht (unſittlich) iſt, niemals dieſe: was Strauß gegen Menzel treffend nachgewieſen hat (Streitſchr. H. 1, S. 127).
3. Dies alſo iſt die einzige Art, wie das Schöne als allgemeiner Begriff zu beſtimmen iſt. Es mag hier eine Stelle aus Hegels Aeſth. Platz finden, welche zwar das Schöne ſchon als Ideal beſtimmt, während wir noch vorausſetzen, daß der Schein, als finde es ſich auch außer der Ideal-ſchaffenden Thätigkeit vor, Grund haben könne: „Das Ideal ſetzt ſeinen Fuß in die Sinnlichkeit und deren Naturgeſtalt hinein, doch zieht ihn wie das Bereich des Aeußern zugleich zu ſich zurück“ (Th. 1, S. 201).
§. 56.
Wenn demnach das Weſen des Schönen reine Form und dieſe nichts Anderes iſt, als die allgemeine Harmonie der Idee mit der Wirklichkeit, aber nicht in ihrer Allgemeinheit, ſondern zur vollendeten Erſcheinung heraustretend im Einzelnen, ſo erhellt nunmehr der weſentliche Unterſchied in der Einheit
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und Freundſchaft jetzt das von höheren Fragen in Anſpruch genommene
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ſittlicher Art darum zu mißrathen ſeyn, weil ſie abgeſehen von der Kunſt
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fallen, wie die politiſchen Ideen der Gegenwart. Aus dieſem Allem wird
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Künſtler findet dieſen ſo weit ſchon geformten Stoff in der Erfahrung
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Nach dieſem als Solchem darf im Schönen natürlich gar nicht weiter
gefragt werden. Was nun die Form betrifft, ſo wird ſich erſt in der
Lehre von der Kunſt zeigen, daß ſie ſelbſt eine äußere und eine innere
Seite hat; höchſtens jene kann noch durch Schönheit täuſchen, wenn
der Inhalt ſchlecht (unſittlich) iſt, niemals dieſe: was Strauß gegen
Menzel treffend nachgewieſen hat (Streitſchr. H. 1, S. 127).
3. Dies alſo iſt die einzige Art, wie das Schöne als allgemeiner
Begriff zu beſtimmen iſt. Es mag hier eine Stelle aus Hegels Aeſth.
Platz finden, welche zwar das Schöne ſchon als Ideal beſtimmt, während
wir noch vorausſetzen, daß der Schein, als finde es ſich auch außer der
Ideal-ſchaffenden Thätigkeit vor, Grund haben könne: „Das Ideal ſetzt
ſeinen Fuß in die Sinnlichkeit und deren Naturgeſtalt hinein, doch zieht
ihn wie das Bereich des Aeußern zugleich zu ſich zurück“ (Th. 1, S. 201).
§. 56.
Wenn demnach das Weſen des Schönen reine Form und dieſe nichts
Anderes iſt, als die allgemeine Harmonie der Idee mit der Wirklichkeit, aber
nicht in ihrer Allgemeinheit, ſondern zur vollendeten Erſcheinung heraustretend
im Einzelnen, ſo erhellt nunmehr der weſentliche Unterſchied in der Einheit
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/165>, abgerufen am 21.11.2024.
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