seyn darf, da die Untersuchung sich noch mit der einfachen, kampflosen Schönheit beschäftigt. Allein es sind zwei ganz verschiedene Fragen: ob die aus der Wirklichkeit des ethischen Lebens aufgenommene Nothwendigkeit dieses Kampfes das Schöne nicht unmöglich mache? und: ob das Schöne nicht gemäß seinem eigenen Gesetze und Interesse das Schauspiel desselben hervorrufe? Die erstere Frage liegt hier vor, die zweite ist erst später aufzuwerfen und dann erst heißt dieser Kampf tragisch und komisch. Hier handelt es sich nur um die Wahrheit, daß die Individualität sich ver- nichtet, wenn sie sich gegen die Allgemeinheit sträubt, und daß die All- gemeinheit, wenn sie als äußere geistlose Macht beharren will, der Individualität zum Spiele wird, daß also in beiden Fällen der Widerstand sich rächt zum Beweise der absoluten Einheit beider Momente, daß daher das Schöne, das eben in dieser Einheit beruht, durch diesen Kampf kein Hinderniß seiner Existenz findet.
§. 51.
Wie vollkommen aber die Allgemeinheit der Gattung das Individuum durchdringt, das Band ist dennoch kein bleibendes. Das Individuum geht unter, die Gattung dauert. Das Schöne ist aber, wie aus §. 13 folgt, eine Verewigung des Individuums. Allein da die Gattung das Individuum zwar überdauert, aber doch nur im Individuum wirklich ist, so verewigt der Tod selbst, wenn er nur aus seinem Verhältniß zur Gattung rein hervorgeht, das Individuum, denn es kommt in ihm die Wahrheit zum Ausdruck, daß die reine Bedeutung des Individuums aufbewahrt im Leben der Gattung seine zeitliche Existenz überlebt.
"Wenn der Tod aus dem Verhältniß des Individuums zur Gattung rein hervorgeht," d. h. wenn nicht Zufälligkeit in dem Sinne sich einmischt, in welchem sie sofort wieder aufzuführen ist, wenn vielmehr das Individuum entweder als Naturwesen stirbt, weil nach natürlicher Ordnung seine Lebenskraft sich erschöpft hat, oder wenn es als geistiges Wesen im Dienste einer Gattung im höheren Sinne, nämlich einer geistigen Macht, sein Leben opfert. In beiden Fällen vollführt es den Kreis der in ihm liegenden Wirkungen so, daß es sich in ihnen überlebt. Rückerts sinnvolles Gedicht "Die sterbende Blume" spricht diese Wahrheit aus. Die Gattung als sinnlicher Typus wie als sittliche Sphäre überdauert das Individuum, aber nur in neuen Individuen. Sie ist
ſeyn darf, da die Unterſuchung ſich noch mit der einfachen, kampfloſen Schönheit beſchäftigt. Allein es ſind zwei ganz verſchiedene Fragen: ob die aus der Wirklichkeit des ethiſchen Lebens aufgenommene Nothwendigkeit dieſes Kampfes das Schöne nicht unmöglich mache? und: ob das Schöne nicht gemäß ſeinem eigenen Geſetze und Intereſſe das Schauſpiel desſelben hervorrufe? Die erſtere Frage liegt hier vor, die zweite iſt erſt ſpäter aufzuwerfen und dann erſt heißt dieſer Kampf tragiſch und komiſch. Hier handelt es ſich nur um die Wahrheit, daß die Individualität ſich ver- nichtet, wenn ſie ſich gegen die Allgemeinheit ſträubt, und daß die All- gemeinheit, wenn ſie als äußere geiſtloſe Macht beharren will, der Individualität zum Spiele wird, daß alſo in beiden Fällen der Widerſtand ſich rächt zum Beweiſe der abſoluten Einheit beider Momente, daß daher das Schöne, das eben in dieſer Einheit beruht, durch dieſen Kampf kein Hinderniß ſeiner Exiſtenz findet.
§. 51.
Wie vollkommen aber die Allgemeinheit der Gattung das Individuum durchdringt, das Band iſt dennoch kein bleibendes. Das Individuum geht unter, die Gattung dauert. Das Schöne iſt aber, wie aus §. 13 folgt, eine Verewigung des Individuums. Allein da die Gattung das Individuum zwar überdauert, aber doch nur im Individuum wirklich iſt, ſo verewigt der Tod ſelbſt, wenn er nur aus ſeinem Verhältniß zur Gattung rein hervorgeht, das Individuum, denn es kommt in ihm die Wahrheit zum Ausdruck, daß die reine Bedeutung des Individuums aufbewahrt im Leben der Gattung ſeine zeitliche Exiſtenz überlebt.
„Wenn der Tod aus dem Verhältniß des Individuums zur Gattung rein hervorgeht,“ d. h. wenn nicht Zufälligkeit in dem Sinne ſich einmiſcht, in welchem ſie ſofort wieder aufzuführen iſt, wenn vielmehr das Individuum entweder als Naturweſen ſtirbt, weil nach natürlicher Ordnung ſeine Lebenskraft ſich erſchöpft hat, oder wenn es als geiſtiges Weſen im Dienſte einer Gattung im höheren Sinne, nämlich einer geiſtigen Macht, ſein Leben opfert. In beiden Fällen vollführt es den Kreis der in ihm liegenden Wirkungen ſo, daß es ſich in ihnen überlebt. Rückerts ſinnvolles Gedicht „Die ſterbende Blume“ ſpricht dieſe Wahrheit aus. Die Gattung als ſinnlicher Typus wie als ſittliche Sphäre überdauert das Individuum, aber nur in neuen Individuen. Sie iſt
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die aus der Wirklichkeit des ethiſchen Lebens aufgenommene Nothwendigkeit
dieſes Kampfes das Schöne nicht unmöglich mache? und: ob das Schöne
nicht gemäß ſeinem eigenen Geſetze und Intereſſe das Schauſpiel desſelben
hervorrufe? Die erſtere Frage liegt hier vor, die zweite iſt erſt ſpäter
aufzuwerfen und dann erſt heißt dieſer Kampf tragiſch und komiſch. Hier
handelt es ſich nur um die Wahrheit, daß die Individualität ſich ver-
nichtet, wenn ſie ſich gegen die Allgemeinheit ſträubt, und daß die All-
gemeinheit, wenn ſie als äußere geiſtloſe Macht beharren will, der
Individualität zum Spiele wird, daß alſo in beiden Fällen der Widerſtand
ſich rächt zum Beweiſe der abſoluten Einheit beider Momente, daß daher
das Schöne, das eben in dieſer Einheit beruht, durch dieſen Kampf
kein Hinderniß ſeiner Exiſtenz findet.
§. 51.
Wie vollkommen aber die Allgemeinheit der Gattung das Individuum
durchdringt, das Band iſt dennoch kein bleibendes. Das Individuum geht
unter, die Gattung dauert. Das Schöne iſt aber, wie aus §. 13 folgt, eine
Verewigung des Individuums. Allein da die Gattung das Individuum zwar
überdauert, aber doch nur im Individuum wirklich iſt, ſo verewigt der Tod
ſelbſt, wenn er nur aus ſeinem Verhältniß zur Gattung rein hervorgeht, das
Individuum, denn es kommt in ihm die Wahrheit zum Ausdruck, daß die
reine Bedeutung des Individuums aufbewahrt im Leben der Gattung ſeine
zeitliche Exiſtenz überlebt.
„Wenn der Tod aus dem Verhältniß des Individuums zur Gattung
rein hervorgeht,“ d. h. wenn nicht Zufälligkeit in dem Sinne ſich
einmiſcht, in welchem ſie ſofort wieder aufzuführen iſt, wenn vielmehr
das Individuum entweder als Naturweſen ſtirbt, weil nach natürlicher
Ordnung ſeine Lebenskraft ſich erſchöpft hat, oder wenn es als geiſtiges
Weſen im Dienſte einer Gattung im höheren Sinne, nämlich einer
geiſtigen Macht, ſein Leben opfert. In beiden Fällen vollführt es den
Kreis der in ihm liegenden Wirkungen ſo, daß es ſich in ihnen überlebt.
Rückerts ſinnvolles Gedicht „Die ſterbende Blume“ ſpricht dieſe Wahrheit
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/155>, abgerufen am 03.12.2024.
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