Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

nur zur organischen Form und für blinde Zwecke zu verarbeiten, sondern dieses
so Geformte durch einen zweiten Act, in welchem sie die Unmittelbarkeit
aufhebt, in die Idealität des Willens umzubilden, welcher die geistige All-
gemeinheit und die gegebene Eigenthümlichkeit des Individuums sammt ihren
wechselnden Erregungen zur Einheit eines Ganzen verschmelzt. Er kann sich
zwar von den Grenzen seiner Eigenheit nicht befreien, aber diese selbst er-
scheinen nun als gewollte und offenbaren in der Beschränkung die Unbeschränktheit.

Keine Persönlichkeit kann über die in ihrer Naturbasis begründeten
Eigenheiten ganz hinaus. Indem ich aber diese Nothwendigkeit erkenne
und darnach mit meiner geistigen Kraft haushalte, erhebe ich diese
Grenze selbst zu dem Meinigen und bin in der Begrenzung unbegrenzt,
denn das frei Gewollte ist unbegrenzt. Jede Gattung des Lebendigen
nimmt, was kommt, ergreift den innern und äußern Zufall als Stoff
der Thätigkeit. Was er bringt, läßt sich nicht vorherbestimmen,
alles Leben ist ein stetes Verarbeiten des Zufälligen. Den Gesetzen
seines Organismus und seines Instinctes treu verarbeitet das Thier die
Stoffe, die sich ihm bieten; der Mensch baut über der physischen Welt
eine zweite; auch diese hängt vom Zufall ab, sowohl dem der Geburt,
als dem der stets neuen Erregungen, aber wie denselben zuerst der Leib
und das Bedürfniß ergriffen hat, so ergreift das sinnlich Geformte erst
der Geist und gliedert daraus die Welt des Willens.

§. 50.

Diese Einheit ist keine ruhende, sondern eine thätige, worin das Allge-
meine der Gattungsregel und das Zufällige der Individualität sich im Kampfe
einander entgegenbewegen, der bis zu der Empörung des Einzelwillens gegen
den vernünftigen und allgemeinen, zum Bösen sich steigert. Allein dieser
Kampf bringt die untrennbare Zusammengehörigkeit beider Momente dadurch
zum Vorschein, daß der Widerstreit als ein sich selbst aufhebender Widerspruch
sich offenbart; es kann daher in demselben so wenig ein Hinderniß des Schönen
liegen, daß es demselben nicht nur zu folgen vermag, sondern vielmehr aus sich
selbst in seinem eigenen Interesse das Schauspiel desselben erzeugen wird.

Der Kampf, von dem hier die Rede ist, heißt im ästhetischen Gebiete
das Tragische und Komische. Hiedurch scheint eine bestimmte Form des
Schönen vorweggenommen zu seyn, von welcher hier noch nicht die Rede

nur zur organiſchen Form und für blinde Zwecke zu verarbeiten, ſondern dieſes
ſo Geformte durch einen zweiten Act, in welchem ſie die Unmittelbarkeit
aufhebt, in die Idealität des Willens umzubilden, welcher die geiſtige All-
gemeinheit und die gegebene Eigenthümlichkeit des Individuums ſammt ihren
wechſelnden Erregungen zur Einheit eines Ganzen verſchmelzt. Er kann ſich
zwar von den Grenzen ſeiner Eigenheit nicht befreien, aber dieſe ſelbſt er-
ſcheinen nun als gewollte und offenbaren in der Beſchränkung die Unbeſchränktheit.

Keine Perſönlichkeit kann über die in ihrer Naturbaſis begründeten
Eigenheiten ganz hinaus. Indem ich aber dieſe Nothwendigkeit erkenne
und darnach mit meiner geiſtigen Kraft haushalte, erhebe ich dieſe
Grenze ſelbſt zu dem Meinigen und bin in der Begrenzung unbegrenzt,
denn das frei Gewollte iſt unbegrenzt. Jede Gattung des Lebendigen
nimmt, was kommt, ergreift den innern und äußern Zufall als Stoff
der Thätigkeit. Was er bringt, läßt ſich nicht vorherbeſtimmen,
alles Leben iſt ein ſtetes Verarbeiten des Zufälligen. Den Geſetzen
ſeines Organismus und ſeines Inſtinctes treu verarbeitet das Thier die
Stoffe, die ſich ihm bieten; der Menſch baut über der phyſiſchen Welt
eine zweite; auch dieſe hängt vom Zufall ab, ſowohl dem der Geburt,
als dem der ſtets neuen Erregungen, aber wie denſelben zuerſt der Leib
und das Bedürfniß ergriffen hat, ſo ergreift das ſinnlich Geformte erſt
der Geiſt und gliedert daraus die Welt des Willens.

§. 50.

Dieſe Einheit iſt keine ruhende, ſondern eine thätige, worin das Allge-
meine der Gattungsregel und das Zufällige der Individualität ſich im Kampfe
einander entgegenbewegen, der bis zu der Empörung des Einzelwillens gegen
den vernünftigen und allgemeinen, zum Böſen ſich ſteigert. Allein dieſer
Kampf bringt die untrennbare Zuſammengehörigkeit beider Momente dadurch
zum Vorſchein, daß der Widerſtreit als ein ſich ſelbſt aufhebender Widerſpruch
ſich offenbart; es kann daher in demſelben ſo wenig ein Hinderniß des Schönen
liegen, daß es demſelben nicht nur zu folgen vermag, ſondern vielmehr aus ſich
ſelbſt in ſeinem eigenen Intereſſe das Schauſpiel deſſelben erzeugen wird.

Der Kampf, von dem hier die Rede iſt, heißt im äſthetiſchen Gebiete
das Tragiſche und Komiſche. Hiedurch ſcheint eine beſtimmte Form des
Schönen vorweggenommen zu ſeyn, von welcher hier noch nicht die Rede

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p> <hi rendition="#fr"><pb facs="#f0154" n="140"/>
nur zur organi&#x017F;chen Form und für blinde Zwecke zu verarbeiten, &#x017F;ondern die&#x017F;es<lb/>
&#x017F;o Geformte durch einen zweiten Act, in welchem &#x017F;ie die Unmittelbarkeit<lb/>
aufhebt, in die Idealität des Willens umzubilden, welcher die gei&#x017F;tige All-<lb/>
gemeinheit und die gegebene Eigenthümlichkeit des Individuums &#x017F;ammt ihren<lb/>
wech&#x017F;elnden Erregungen zur Einheit eines Ganzen ver&#x017F;chmelzt. Er kann &#x017F;ich<lb/>
zwar von den Grenzen &#x017F;einer Eigenheit nicht befreien, aber die&#x017F;e &#x017F;elb&#x017F;t er-<lb/>
&#x017F;cheinen nun als gewollte und offenbaren in der Be&#x017F;chränkung die Unbe&#x017F;chränktheit.</hi> </p><lb/>
              <p> <hi rendition="#et">Keine Per&#x017F;önlichkeit kann über die in ihrer Naturba&#x017F;is begründeten<lb/>
Eigenheiten ganz hinaus. Indem ich aber die&#x017F;e Nothwendigkeit erkenne<lb/>
und darnach mit meiner gei&#x017F;tigen Kraft haushalte, erhebe ich die&#x017F;e<lb/>
Grenze &#x017F;elb&#x017F;t zu dem Meinigen und bin in der Begrenzung unbegrenzt,<lb/>
denn das frei Gewollte i&#x017F;t unbegrenzt. Jede Gattung des Lebendigen<lb/>
nimmt, was kommt, ergreift den innern und äußern Zufall als Stoff<lb/>
der Thätigkeit. Was er bringt, läßt &#x017F;ich nicht vorherbe&#x017F;timmen,<lb/>
alles Leben i&#x017F;t ein &#x017F;tetes Verarbeiten des Zufälligen. Den Ge&#x017F;etzen<lb/>
&#x017F;eines Organismus und &#x017F;eines In&#x017F;tinctes treu verarbeitet das Thier die<lb/>
Stoffe, die &#x017F;ich ihm bieten; der Men&#x017F;ch baut über der phy&#x017F;i&#x017F;chen Welt<lb/>
eine zweite; auch die&#x017F;e hängt vom Zufall ab, &#x017F;owohl dem der Geburt,<lb/>
als dem der &#x017F;tets neuen Erregungen, aber wie den&#x017F;elben zuer&#x017F;t der Leib<lb/>
und das Bedürfniß ergriffen hat, &#x017F;o ergreift das &#x017F;innlich Geformte er&#x017F;t<lb/>
der Gei&#x017F;t und gliedert daraus die Welt des Willens.</hi> </p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 50.</head><lb/>
              <p> <hi rendition="#fr">Die&#x017F;e Einheit i&#x017F;t keine ruhende, &#x017F;ondern eine thätige, worin das Allge-<lb/>
meine der Gattungsregel und das Zufällige der Individualität &#x017F;ich im Kampfe<lb/>
einander entgegenbewegen, der bis zu der Empörung des Einzelwillens gegen<lb/>
den vernünftigen und allgemeinen, zum Bö&#x017F;en &#x017F;ich &#x017F;teigert. Allein die&#x017F;er<lb/>
Kampf bringt die untrennbare Zu&#x017F;ammengehörigkeit beider Momente dadurch<lb/>
zum Vor&#x017F;chein, daß der Wider&#x017F;treit als ein &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t aufhebender Wider&#x017F;pruch<lb/>
&#x017F;ich offenbart; es kann daher in dem&#x017F;elben &#x017F;o wenig ein Hinderniß des Schönen<lb/>
liegen, daß es dem&#x017F;elben nicht nur zu folgen vermag, &#x017F;ondern vielmehr aus &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t in &#x017F;einem eigenen Intere&#x017F;&#x017F;e das Schau&#x017F;piel de&#x017F;&#x017F;elben erzeugen wird.</hi> </p><lb/>
              <p> <hi rendition="#et">Der Kampf, von dem hier die Rede i&#x017F;t, heißt im ä&#x017F;theti&#x017F;chen Gebiete<lb/>
das Tragi&#x017F;che und Komi&#x017F;che. Hiedurch &#x017F;cheint eine be&#x017F;timmte Form des<lb/>
Schönen vorweggenommen zu &#x017F;eyn, von welcher hier noch nicht die Rede<lb/></hi> </p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[140/0154] nur zur organiſchen Form und für blinde Zwecke zu verarbeiten, ſondern dieſes ſo Geformte durch einen zweiten Act, in welchem ſie die Unmittelbarkeit aufhebt, in die Idealität des Willens umzubilden, welcher die geiſtige All- gemeinheit und die gegebene Eigenthümlichkeit des Individuums ſammt ihren wechſelnden Erregungen zur Einheit eines Ganzen verſchmelzt. Er kann ſich zwar von den Grenzen ſeiner Eigenheit nicht befreien, aber dieſe ſelbſt er- ſcheinen nun als gewollte und offenbaren in der Beſchränkung die Unbeſchränktheit. Keine Perſönlichkeit kann über die in ihrer Naturbaſis begründeten Eigenheiten ganz hinaus. Indem ich aber dieſe Nothwendigkeit erkenne und darnach mit meiner geiſtigen Kraft haushalte, erhebe ich dieſe Grenze ſelbſt zu dem Meinigen und bin in der Begrenzung unbegrenzt, denn das frei Gewollte iſt unbegrenzt. Jede Gattung des Lebendigen nimmt, was kommt, ergreift den innern und äußern Zufall als Stoff der Thätigkeit. Was er bringt, läßt ſich nicht vorherbeſtimmen, alles Leben iſt ein ſtetes Verarbeiten des Zufälligen. Den Geſetzen ſeines Organismus und ſeines Inſtinctes treu verarbeitet das Thier die Stoffe, die ſich ihm bieten; der Menſch baut über der phyſiſchen Welt eine zweite; auch dieſe hängt vom Zufall ab, ſowohl dem der Geburt, als dem der ſtets neuen Erregungen, aber wie denſelben zuerſt der Leib und das Bedürfniß ergriffen hat, ſo ergreift das ſinnlich Geformte erſt der Geiſt und gliedert daraus die Welt des Willens. §. 50. Dieſe Einheit iſt keine ruhende, ſondern eine thätige, worin das Allge- meine der Gattungsregel und das Zufällige der Individualität ſich im Kampfe einander entgegenbewegen, der bis zu der Empörung des Einzelwillens gegen den vernünftigen und allgemeinen, zum Böſen ſich ſteigert. Allein dieſer Kampf bringt die untrennbare Zuſammengehörigkeit beider Momente dadurch zum Vorſchein, daß der Widerſtreit als ein ſich ſelbſt aufhebender Widerſpruch ſich offenbart; es kann daher in demſelben ſo wenig ein Hinderniß des Schönen liegen, daß es demſelben nicht nur zu folgen vermag, ſondern vielmehr aus ſich ſelbſt in ſeinem eigenen Intereſſe das Schauſpiel deſſelben erzeugen wird. Der Kampf, von dem hier die Rede iſt, heißt im äſthetiſchen Gebiete das Tragiſche und Komiſche. Hiedurch ſcheint eine beſtimmte Form des Schönen vorweggenommen zu ſeyn, von welcher hier noch nicht die Rede

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/154
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/154>, abgerufen am 21.12.2024.